Kathrins Notiz-Blog 15. Juli 09

© Illustration Liane Heinze

Die Wände des Aufzugs waren mit bunten Tags besprüht.

Im 7. Stock stiegen wir aus. Der Gang war so eng, dass wir zu zweit geradeso hindurch passten. Ruß verstopfte die Poren der Betonwände. Eine Wohnungstür stand offen. Ein Mann quoll aus dem Rahmen. Er stemmte die Arme in die Tür und blickte uns entgegen. Er kaute auf seinem Oberlippenbart. Das macht ein kleines, zähes Geräusch. „Sie ist nicht da“, sagte er. Leon fragte nicht, wohin seine Mutter gegangen war. Er nickte und trat einen Schritt zurück und stieß mit den Fersen an die Betonwand gegenüber.

Wir liefen in die Stadt und suchten Leons Mutter in den Läden der Hauptstraße. Auf einmal glaubte Leon, sie drüben im Gewühl vor einem Kaufhaus entdeckt zu haben. Er sprang auf die Straße, wand sich zwischen hupenden Autos hindurch. Seine Locken beschrieben einen Zick-Zack-Kurs über den Autodächern. Wenig später war er mit der Menge, die auf den Schlund des Kaufhauses zu trieb, verschmolzen.

Ich folgte ihm an der Ampel über die Straße, wühlte mich durch die schlendernden Einkäufer, rollte durch die Etagen des Kaufhauses. Überall hielt ich nach Leons hastigen Bewegungen Ausschau, suchte in den Gesichtern der Frauen nach seinen leicht vorstehenden, schattigen Augen. Ich fuhr hinauf und wieder hinunter.

Es blieb mir nichts anderes übrig, als draußen zu warten, an einer Stelle, an der Leon mich finden könnte, vor dem Kaufhaus. Ich setzte mich auf einen Schaufenstersims und schaute, wie die Passanten aneinander vorbei liefen, ohne sich zu berühren, wie sie durch sich hindurch schauten. Als Leon nicht kam, beschlich mich die Angst, bis an das Ende meines Lebens in dieser Menge zu treiben, ohne ihn jemals wiederzusehen, weil er von nun an in der ganzen Welt seine Mutter suchen und mich vergessen würde. Als er vor mir stand, außer Atem, als er Mineralwasser in seine Locken kippte und neben mir auf den Sims fiel, begriff ich, dass er es ist, der mich davor schützt, in der Menge verloren zu gehen, ohne Namen und ohne Gesicht.

Er sagte nichts. Ich griff nach seiner Hand.

„Und früher?“, fragte ich dann. „War sie früher für dich da?“

Er malträtierte die leere Plastikflasche, presste die Luft daraus hervor. „Wenn sie von einer Tournee kam, brachte sie uns Geschenke mit. Der Tisch füllte sich an diesen Abenden mit Dingen, die von weither kamen, aus anderen Städten, in anderen Ländern. Sie duftete. Es war immer derselbe frische Duft, ich glaube, es war das Meer. Wir hatten das Meer noch nie gesehen. Aber wir ahnten, das musste sein Duft sein. Solange sie da war, roch es in dem Haus aus Pappe nach Meer.” Die Plastikflasche brach, als Leon versuchte, sie zusammen zu rollen. „Sie kam nur für wenige Tage, um sich auszuruhen. Sie schlief dann viel. Wir durften sie nicht stören. Wenn sie wieder auf Reisen ging, freuten wir uns auf ihre Heimkehr, wie sie singen und tanzen und duften würde, und auf die Geschenke. Sie jagte die Welt und brachte sie uns als Beute nach Hause.“

Ich legte meinen Kopf an Leons Brust. „Erzähl weiter.“

Leon nestelte an meinem Gürtel. Er schob seine Hand in meine Jeans. „Ich habe Lust auf dich“, sagte er leise. „Komm, ich weiß einen Ort.“

Aber ich wollte da bleiben, an ihn geschmiegt. „Jetzt ist es gut“, sagte ich. „Es gibt keinen besseren Ort.“

„Wie wäre es im Kaufhaus im Aufzug? – Na komm!“ Er stand auf. Er war wie besessen von dieser Idee. Er ließ meine Hand nicht los.

„Na gut: Wir suchen ein offenes Auto.“ Er zog mich fort, tänzelte an den Rand des Bürgersteigs. Er klinkte an einigen geparkten Autos. „Siehst du, das interessiert gar niemanden. Und falls zufälligerweise eins offen ist….“

„Und wenn der Besitzer kommt?“

„Diese Vorstellung macht mich an,“ sagte Leon. Er warf mir vor, nicht genug spontan zu sein und kein bisschen abenteuerlustig.

“Hältst du das für das Leben?”

“Ja, ja, ja”, antwortete er. Gejagt von der Angst, nicht genügend zu leben, nicht in vollem Maß zu lieben. Wie ich. Nur anders.

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