© Illustration Liane Heinze
Kolja hat mich zur Begrüßung nicht gelesen. Sonst überfliegt er mein Gesicht wie eine Titelseite, bevor er mich an sich drückt. Noch immer macht mich seine Aufmerksamkeit verlegen. Heute küsste er an meinen Wangen vorbei. Und holte für mich einen piefigen Hocker aus der Küche, ein Ding mit drei Löchern im Sitz. Sieht aus wie eine geplättete Bowlingkugel. Man kann nicht einmal damit kippeln.
Es geht um eine Wohnung in der Karl-Marx-Allee. Kolja hat sie umgebaut. Ich soll die Inneneinrichtung übernehmen. Es ist der beste Job, den ich jemals hatte, aber das gebe ich vor Kolja nicht zu. Die Wohnung gehört einem Musiker aus Dänemark. Er möchte sie möbliert vermieten und teilweise auch selbst nutzen, wenn er ein Gastspiel in Berlin hat. Er hat weniger die Touristen im Auge, als viel mehr die Leute, die nach Berlin kommen, um sich hier beruflich was aufzubauen.
„Aber…“
„Kein Aber“, sagt Kolja. „Ich weiß, was du sagen willst. Die Spanier, Italiener, Franzosen und Israelis, die in Berlin Jobs suchen, leben in Zelten, Gartenlauben oder zur Untermiete bei Freunden, die gerade in Tel Aviv und New York Jobs suchen.“
„Hast du ihm das nicht gesagt?“, frage ich.
„Ich bin Architekt“, sagt Kolja. Er hängt sich eine zerknitterte Zigarette in den Mundwinkel. Er klickt in dem Vertrag mit dem Dänen herum. „Und du bist kein Unternehmensberater oder Coach“, sagt er.
„Aber ich…“
„Wenn Geld keine Rolle spielt, sollte man nicht weiter fragen“, unterbricht mich Kolja. „Geh einfach davon aus, dass ihm dieses Projekt Spaß macht.“ Er sieht müde aus. Die Zigarette wippt in seinem Mundwinkel und krümelt auf die Tastatur. „Die Einrichtung soll geschmackvoll sein. Der Däne benutzte das Wort: distinguiert.“
Koljas Mutter hatte gesagt, dass Menschen uns ihre dritte Haut anvertrauen. Also muss ich doch etwas über sie in Erfahrung bringen, wissen, woher sie kommen und wohin sie wollen und wie sie sich selbst sehen. Natürlich bin ich dann auch eine Unternehmensberaterin und ein Coach. Andererseits scheint es mir logisch, wie Kolja nicht über das hinaus zu gehen, was im Auftrag vereinbart ist. Um mehr darf es gar nicht gehen. Ich MUSS mich an die Spielregeln halten. Aber sind nicht gerade die Erfolgreichen geübt darin, die Regeln zu brechen? Dieses Dilemma ist typisch für mich. Ich kann mich nicht entscheiden. Zu jedem Argument habe ich sofort ein oder zwei Gegenargumente im Kopf. Alle leuchten mir ein. Ich bewundere Menschen, die für EINE ganz bestimmte Sache eintreten und kämpfen. Das muss ihnen ein wunderbares Gefühl von Sicherheit geben. Vielleicht habe ich die Sache, für die ich eintreten könnte, einfach noch nicht gefunden. Aber mit Anfang vierzig sollte man so weit sein, oder? Liegt es vielleicht daran, dass ich mich nicht traue, für meine Überzeugung einzustehen, dass ich Angst habe, man könnte mich für verrückt halten, weil ich glaube, dass eine Inneneinrichterin auch Unternehmensberaterin und Coach ist? Ich kann die Dinge, mit denen wir uns umgeben, nun mal nicht von ihrer Bedeutung trennen. Ich kann Gedanken nicht von dem lösen, worauf sie sich beziehen, nämlich, WIE wir leben sollten. Wenn ich eine Haltung betrachte, dann immer im Raum. Zum Beispiel drückt es etwas über den Charakter der Europäischen Revolution aus, dass sich die Assamblea immer unter freiem Himmel trifft, auf einem der großen, öffentlichen Plätze der Stadt. Überall auf der Welt finden die Versammlungen der Demokratiebewegung auf der Straße statt. Koljas Mutter würde sofort verstehen, was ich meine. Sie würde sagen: „Probiere es aus! Lass dich überraschen.“
Kolja strengt sich an, unbeobachtet zu tun und so lässig wie möglich auf seine Tastatur einzuhacken. Die Asche krümelt auf seinen Arm.
„Ist deine Mutter immer so – offen und interessiert?“, frage ich. „Nein, nein, warte: offen und interessiert klingt total blöd. Sie ist noch anders. Sie ist – weise. Ich habe noch nie eine weise Frau getroffen.“
„Alle glauben, von ihr geliebt zu werden“, sagt Kolja.
„Dann spielt sie allen etwas vor?“
„Sie ist Schauspielerin“, sagt Kolja.
Es gibt diesen berühmten Satz von Romy Schneider: Im Leben bin ich eine schlechte Schauspielerin gewesen.
„Es gibt wenig Leute, die sie wirklich kennen“, sagt Kolja.
„Kennst du sie?“
„Ein bisschen“, sagt Kolja.
„Sie hat mich eingeladen“, sage ich.
Kolja zuckt die Schultern. „Seit Vaters Tod ist sie ein bisschen einsam da draußen. Möchtest du ein Foto von Ella sehen?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, holt Kolja das Foto auf den Monitor. Es zeigt ein durchsichtiges, verschrumpeltes, neu geborenes Gesicht. Ich glaube, dass Kolja eifersüchtig ist auf die vielen Leute, die sich von seiner Mutter geliebt fühlen. Es ärgert ihn, dass ich zu ihr gefahren bin.
„Kannst du Ellas Gesicht lesen?“, frage ich Kolja.
Er lacht und auf seinen Wangen erscheinen wieder diese Grübchen. „Da steht noch nichts geschrieben.“
„Doch, es steht schon was geschrieben“, sage ich. Damals habe ich Jolanda stundenlang und immer wieder angeschaut und vieles entdeckt, was sie aus ihrem kleinen Embryonenreich mit auf die Welt gebracht hat.
„Aber du siehst, dass ein Engel einen Finger auf ihren Mund gelegt hat, damit sie uns das Geheimnis nicht verrät.“ Kolja führt die Maus über die Kerbe unter Ellas Nase, die sich unter den Lippen fortsetzt: Der Abdruck des Engelfingers.
„Schade, dass wir diese guten Dinge bei der Geburt zurücklassen müssen“, sage ich.
„Es ist der erste Abschied unseres Lebens“, sagt Kolja. Er wendet sich von dem Bild seiner Tochter ab, zu mir. Er legt seine Hände auf meine Knie. Er muss sich dafür weit in dem Schreibtischsessel nach vorn beugen, weil der Hocker viel niedriger ist.
„Wie viele Abschiede hattest du bis jetzt?“, frage ich.
„Ich habe nicht gezählt“, sagt Kolja. „Viele. Sehr viele.“
Als ich mit den Entwürfen unter dem Arm nach Hause laufe, ruft Leon an. Er sagt, dass er heute Abend kommt. „Was möchtest du essen?“ frage ich. „Egal“, sagt er. Ich beeile mich, lege die Entwürfe zu Hause ab und mache mich gleich auf den Weg, etwas für uns einzukaufen.