Kathrins Notiz-Blog 30. Juli 11

© Illustration Liane Heinze

Ich komme zehn Minuten zu spät zu unserer Verabredung ins Café Sibylle. Zwei Männer sitzen allein im Café. Der Philosophiestudent mit dem Zopf, der in einem Reclam-Bändchen liest, kann es nicht sein, also ist es der hinter der Berliner Zeitung.

„Guten Tag“, sage ich. Ein junger Mann mit hellbraunen Locken springt hinter der Zeitung hervor und streckt mir seine schmalen, blassen Finger entgegen. Helle Augen hängen wie Regentropfen in seinem Gesicht und geben ihm einen melancholischen Ausdruck.

Ich habe mir einen Dreißigjährigen, der in der Karl-Marx-Allee eine Vier-Zimmer-Wohnung kauft, selbstbewusster und kräftiger vorgestellt. Warum eigentlich? Dort, wo die Berliner Zeitung auf der Kaffeetasse liegt, saugt sie sich gerade voll Milchschaum. Der Däne – er heißt Synne – reißt sie ungeschickt weg und faltet sie liederlich zusammen. Während ich noch überlege, was ich statt einem blöden Aufwärmsatz wie: Ich freue mich, dass Sie mir ihre Wohnungseinrichtung anvertrauen! sagen könnte, beginnt Synne schon von sich zu erzählen. Er spiele Bratsche, unter anderem bei den Berliner Philharmonikern. Er sei ein freier Künstler, komponiere auch und würde am liebsten dauerhaft in Berlin bleiben, habe aber noch ein Engagement in Kopenhagen, so dass er gezwungen sei zu pendeln. „Für einen Komponisten gibt es keine bessere Stadt als Berlin“, sagt er. Ich nicke und freue mich, aber die Lobhudelei auf Berlin wird mir langsam unheimlich. Ich frage mich, ob die vielen Zureisewilligen sich während ihrer Aufenthalte wirklich in derselben Stadt wie ich bewegen oder ob ich das Beste an Berlin verpasse? Der Däne sagt, es sei ihm eigentlich völlig egal, wie die Wohnung aussieht. Er habe einfach keine Lust, das selbst zu machen. Zum Komponieren brauche er eh nur einen Arbeitstisch mit Blick auf die Karl-Marx-Allee. „Das lässt sich machen“, sage ich. Ich frage, an wen er die Wohnung vermieten will, wenn er selbst nicht in Berlin ist. „An Musiker wie mich“, sagt er. „Da gibt es eine Menge, die für ein paar Tage in die Stadt kommen und nicht in ein Hotelzimmer eingesperrt sein wollen.“

„Vielleicht sind die auch so anspruchslos wie Sie. Dann lohnt sich der ganze Aufwand gar nicht.“

Synnes Regentropfenaugen werden schwerer. „Ich weiß nicht“, sagt er. „Auch wenn man es nicht braucht, selbst wenn man es nicht will, ist es dennoch schön, nach Hause zu kommen in Räume, in denen man sich gut fühlt. So ist es auch, wenn ich meine Eltern in ihrem Sommerhaus besuche. Es ist so groß. Jedes Mal denke ich, dass am Abend noch Gäste kommen werden. – Genau!“ Synnes Mundwinkel klappen auf beiden Seiten seiner schmalen Lippen im rechten Winkel nach oben. „Eine große Wohnung gibt das Gefühl, als käme gleich noch jemand vorbei“, sagt er mit einem freundlich, naiven Kindergesicht.

Wir verabreden uns wieder in einer Woche. Dann werde ich Entwürfe und den Kostenvoranschlag dabei haben. Synne reicht mir seine schmalen Finger und verbeugt sich leicht.

Das Möbelhaus, in dem ich unseren Wandschirm gekauft habe, ist nicht weit vom Café Sibylle entfernt. Wie damals nehme ich den Lift, lasse mich zwischen den Regalen und Polstermöbeln dahin treiben und denke mir Räume für Synne als Versicherung gegen die Einsamkeit aus. Ein Sofa mit einem olivgrün karierten Bezug gefällt mir. Das könnte seine Farbe sein. Grün an sich ist jung und ungeduldig, die Farbe des Aufbruchs und der Wut, aber der schlammige Ton dämpft die Aufregung. Wenn jemals ein Sofa versprechen kann, dass gleich noch jemand vorbei kommen wird, dann dieses. Ich messe aus.

Als ich auf dem Teppichboden des Einrichtungshauses hocke und das schlamm – und olivgrün karierte Sofa an die Wand gegenüber der geöffneten Glastür zu Synnes Arbeitszimmer zeichne, so dass sein Blick darauf fällt, bevor er sich zum Komponieren an den Schreibtisch setzt, ruft Kolja an. Er fragt, ob ich am Abend Lust habe, mit ihm „raus“ zu fahren. Ein paar Sekunden bin ich wie gelähmt. Ellas Porträt auf Koljas Monitor treibt durch meine Gedanken. Ohne nachzudenken sage ich ja.

Die Dame von der Espresso-Bar stellt ein Glas Sprudelwasser vor mich auf den Teppich. Durch die großen Glasscheiben blicke ich nach draußen auf die blendenden Wolken.
Ich nehme einen Schluck Wasser. Und noch einen. Plötzlich schmeckt das Leben wie dieses Wasser, das ich trinke ohne Durst, einfach nur, um meine Vorräte aufzufüllen. Es ist wie ein Spiel. Ganz einfach. Als würde ich nie wieder Durst bekommen, wenn ich auf diese Weise weitermache. Ich hatte nicht bemerkt, wie sehr ich mich nach Kolja gesehnt habe. Da ist auch Angst. Die Angst um Ella und ihre Mutter wird zur Angst um mich selbst. Seltsam. Ich darf Kolja nicht zuviel Raum geben. Ich schaue auf den Entwurf zwischen meinen Knien. Keine Regale, denke ich. Nichts Anstrengendes. Lieber Sideboards und einige Bilder an den Wänden. Und irgendwo ein Fahrrad.

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