Ich muss dich mal kurz wegdrücken

Cindy. Schmid.Telefondame

Collage © Cindy Schmid

Es kommt einem vor, als drängelten sich Ladenkassen, Milchkaffeedüsen, Zugtüren und Presslufthämmer immer massiver in den Vordergrund der Gespräche. Oder liegt das daran, dass wir – die Telefongeneration – nur noch miteinander reden, während wir von einem Termin zum anderen durch Straßen und Kaffeeläden hasten?

Auch ich telefoniere unterwegs. Warum sollte das Warten auf den Bus oder im Kaffeeladen nicht genutzt werden, um mit Freunden und Verwandten zu plaudern? Ich trage einen Knopf im Ohr. Auf diese Weise bin ich immer auf Empfang. Im Sommer fahre ich mit dem Knopf im Ohr Fahrrad, im Winter erspart er mir die Fummelei in der Tasche, wenn es klingelt. Ich trage zwei Paar Handschuhe, von denen das zweite so dick ist, dass ich mir damit nicht einmal die Haare aus dem Gesicht schieben kann ohne mir die Pelzmütze vom Kopf zu reißen. Nein, ich lebe nicht am Polarkreis. Aber ich gehöre zur frostempfindlicheren Sorte. Ich brauche Wärme. Ich brauche Zuwendung und Austausch.

Im Büro liegt das Telefon neben dem Laptop. Gerade schreibe ich eine Geschichte, die in einem verschlafenen Fischerdorf spielt. Es ist gar nicht so leicht, sich in einem Gemeinschaftsbüro über einer sechsspurigen Straße in ein verschlafenes Fischerdorf zu versetzen. Eigentlich möchte ich nicht gestört werden, aber es könnte ja etwas passieren. Meine Tochter Jolanda könnte wieder den Haustürschlüssel abbrechen, mein Freund Eric einen Herzinfarkt erleiden. Das Telefon neben dem Laptop ist eine Art Versicherung, dass da draußen alles in Ordnung ist, beziehungsweise ich rechtzeitig zur Stelle und eingreifen kann.

Als ich es mit der ersten Tasse Kaffee endlich in das Fischerdorf geschafft habe, ruft Jolanda an.

Sie beginnt sofort zu erzählen. Sie klingt aufgebracht. Sie japst. Sie ist auf dem Weg zur Uni und spät dran. Sie hat Ärger mit Luise, der Veganerin in ihrer WG. Sie mache Stress wegen der Jakobsmuschelschalen, die Jolanda auf den Wannenrand gelegt hat. Ich klemme das Telefon ans Ohr und gehe raus auf die Terrasse, um die anderen nicht mit meinen Privatgesprächen zu belästigen. Jolanda hat sich eine Zigarette gedreht. Sie raucht hastig und schimpft auf Luise, die doch nur Veganerin sei, weil sie eigentlich gar nichts essen wolle. Von Massentierhaltung habe die noch nie gehört. Die interessiere sich für nichts außer Internetforen, in denen abgefahrene Klamotten aus Maisstroh und Gummi auf Resttierbestände diskutiert werden. „Warte kurz!“ sagt Jolanda barsch.

Ich höre, wie sie einen Milchkaffee bestellt und bezahlt, wie sie anschließend ‚Danke!’ und ‚Tschühüss’ und ‚Einen schönen Tag noch!’ ruft und dann höre ich, wie sie den Schaum vom Kaffee schlürft. Sie hastet weiter. Ihr Atem geht schnell. Ich höre ihre Schuhe aufs Pflaster knallen. Luise löffele heimlich nachts Nutella, berichtet sie. Die sei ja nun gaaar nicht vegan! Die Türen der Bahn schließen sich hinter Jolanda. Sie quietschen ohrenbetäubend. Ich reiße das Telefon vom Ohr. In den letzten Jahren bin ich immer empfindlicher gegen Hintergrundgeräusche aller Art geworden. Es kommt mir vor, als drängelten sich die Ladenkassen, Milchkaffeedüsen, Zugtüren, Straßenbahnklingeln, Krankenwagen und Presslufthämmer immer massiver in den Vordergrund der Gespräche. Oder liegt das daran, dass wir nur noch miteinander reden, während wir von einem Termin zum anderen durch die Straßen und Kaffeeläden hasten?

Ich höre, wie die Bahn anfährt. Was Jolanda als nächstes sagt, geht in der Ansage der nächsten Station unter. Ich bleibe dennoch bei ihr. Sie schreibt heute eine Prüfung und ich möchte sie von diesem Erregungslevel runter holen. Ich versuche, mich in ihren Ärger einzufühlen und ihre Gedanken weg von Luise auf die Prüfung in Biochemie zu lenken. „Wenn ich diesen verlogenen Hafermist schon rieche“, sagt Jolanda. Ich lege ihr ein klärendes Gespräch ans Herz, vielleicht mittels gewaltfreier Kommunikation. Sie fällt mir ins Wort. „Ich muss dich mal kurz weg drücken.“ Fort ist sie. Das heißt, ich bin fort. Weg gedrückt.

Jolanda drückt mich ziemlich oft weg. Jedes Mal, wenn ihr Freund Nils oder ihre Freundin Wanda anrufen. Neulich hat sie mich noch vor der Begrüßung weg gedrückt. Später hat sie zurück gerufen und erklärt, sie habe in einer Warteschleife gehangen und nicht damit gerechnet, dass sie so schnell dran sein würde. Ich hatte gar nicht gewusst, dass man jemanden aus einer Telefonwarteschleife heraus anrufen kann. Wie das geht, weiß ich bis heute nicht. Ich habe Jolanda nicht danach gefragt. Allein die Vorstellung strengt mich an.

Leute aus Jolandas Generation gehen grundsätzlich anders mit Telefonapparaten um. Niemals würden sie im vollen Bus ihre Diagnosen und Befunde in den Hörer schreien, wenn sie vom Arzt kommen. Sie murmeln in genau der Lautstärke, die am anderen Ende der Funkverbindung verstanden wird, vom Sitznachbar aber nicht. In Windeseile informieren sie sich per SMS, Whatsapp oder Facebook, wo gerade Fahrkarten kontrolliert, Fahrräder von der Polizei inspiziert oder Fußgängerampeln auf Rotgänger überwacht werden.

Ich würde es nicht übers Herz bringen, jemanden weg zu drücken. Ich habe ein anderes Verständnis von Höflichkeit am Telefon, etwas altmodisch vielleicht. Ich meine, zumindest könnte man sich doch vorher für das Wegdrücken entschuldigen und nicht so genervt dabei tun. Meine Eltern haben noch ein ganz anderes Verständnis von Höflichkeit am Telefon, von Telefonen überhaupt. Es mutet skurril an. Jedes Mal freuen sie sich, mich „Zu Hause erwischt“ zu haben, wenn sie meine Festnetznummer gewählt haben. Sie verstehen einfach nicht, dass ich zwar eine Festnetznummer habe, aber kein Festnetz. Ich erkläre es ihnen immer wieder. Aber jedes Mal ist das erste, was Mama sagt: „Schön, dass ich dich zu Hause erwische.“ Wenn ich ihr dann sage, dass ich unterwegs bin, möchte sie am liebsten auflegen. Es ist für sie unvorstellbar, durch eine Straße zu laufen und dabei gemütlich zu reden, dabei macht sie das doch auch. Nur eben nicht am Telefon. Das Gerät stellt für sie eine Hemmschwelle dar. Sie hat Recht. Am Telefon fehlen einige Komponenten eines guten Gesprächs: Das Gesicht. Die Hände. Feinheiten in der Stimme. Immerhin gelingt es meinen Eltern, den Lautsprecher des Apparats anzuschalten, so dass wir uns zu dritt unterhalten können. Wenn sie sich verabschieden, dann nicht, ohne mindestens zehn Floskeln zu sagen: 1. Machs gut. 2. Schön, dass du angerufen hast. 3. Bleib gesund. 4. Grüße bitte alle von uns. 5. Tschüß. 6. Melde dich bald mal wieder. 7. Machs gut. 8. Bis bald! 9. Wir haben dich lieb. 10. Wiederhören.

Ich denke, dass wir, die Telefongeneration, gelernt haben, am Telefon sehr genau hinzuhören. Auf der anderen Seite geben wir unseren Stimmungen beim Telefonieren ganz selbstverständlich Raum. Das haben unsere Eltern nicht gelernt. Jolanda ruft noch einmal an. Wenigstens kann ich ihr noch eine gute Prüfung wünschen. „War Nils“, sagt sie. „War wichtig. Wir müssen nebeneinander sitzen zwecks Austausch.“

„Also dann: toi! toi! toi! für die Prüfung“, wünsche ich ihr und schicke per Whatsapp noch drei Kackhäufchen hinterher. Sie antwortet mit einem Smiley, dem der Kopf raucht. Ich schicke einen Muskelarm, sie einen Maulwurf, ich eine küssende Katze, sie einen errötenden Smiley, ich ein pulsendes Herz, sie einen Kussmund.

Dann klingelt das Telefon. Es ist Eric. Er ruft zweimal am Tag an. Morgens, wenn er seinen Probenraum verlässt, um das Frühstück einzukaufen und abends, wenn er aus seinem Trommel-Bunker auftaucht, um sein Abendessen zu organisieren. Er klingt wie aus einem antarktischen Sturm. Das ist der Wind, der auf dem Fahrrad gegen sein Mikro drückt. Er seufzt und jammert und ich verstehe nur „Finanzamt“ und „Kredit“. Das dauert ein paar Minuten, dann hört der Sturm schlagartig auf und das Piepen einer Ladenkasse begleitet seine Worte. Er läuft durch den Bioladen, in dem er sein Frühstück kauft. Sein Einkaufswagen holpert klingelnd über die Fliesen.

Von seinem lächerlichen Verdienst über die hohen Steuern, wegen denen er nun einen Kredit aufnehmen muss, kommt er über die Eurokrise und die akute Kriegsgefahr bis zur Sinnlosigkeit allen Seins. Ich höre zu und lausche dann seinem kurzen, freundlichen Dialog mit der Kassiererin.

Während er einpackt, erinnere ich mich an den Mann, den ich im Bäckerladen beobachtet habe, wie er die ganze Zeit mit einer Frau telefonierte, während er gleichzeitig mehrere Tortenstücken auswählte. Nur zum Bezahlen unterbrach er das Gespräch. „Jetzt bin ich wieder für dich da, Schatz“, sagte er, als er Wechselgeld und Tortenstücken entgegen genommen hatte. So ein netter Satz käme Eric nicht über die Lippen. Als er wieder auf der Straße ist, beschwöre ich ihn, dass alles gut wird, dass ich schließlich auch noch da bin und er notfalls bei mir einziehen kann. Als er mich am Eingang seines Probenraums, der ein Funkloch ist, verabschiedet, bin ich erschöpft. Ich nehme mir einen zweiten Kaffee und scrolle in meiner Geschichte rauf und runter. Wo bin ich eigentlich?

Wenn Eric und ich den Abend nicht gemeinsam in einer unserer Wohnungen verbringen, rufen wir uns vor dem Einschlafen noch ein letztes Mal an. „Lass dein Telefon offen“ bittet er dann. Dass er „offen“ statt „an“ sagt, beschreibt das Problem treffend. Mein Telefon ist Tag und Nacht geöffnet. Jeder darf seine Unfälle, Sorgen und Probleme, seine Ängste und seinen Spaß hineinschütten und zwar wann immer er möchte. Am anderen Ende ist ein Ohr, das alles aufsaugt, samt Straße, Café, Bar und Bus. Sie wissen genau, dass ich sie nicht wegdrücke, wenn es um so existentielle Probleme wie WG- oder Finanzamts-Ärger geht. Nur weil ich gerade in einem verschlafenen Dorf am Meer hänge, wo eh nichts los ist. Und warum? Weil ich einfach nicht vorankomme.

Der Drehbuchschreiber in unserem Büro telefoniert nie. Er trägt gepolsterte Kopfhörer und schottet sich für die vier Stunden, bis er seine Kinder aus der Schule und dem Kindergarten abholt, von jedem Kontakt zur Außenwelt ab. Die Krimischreiberin sehe ich oft lässig im Stuhl zurückgelehnt, selig das Display ihres iPhones angrinsen. Es steckt in einer Hülle, die aussieht wie eine Musikkassette aus den Achtzigerjahren. Ihre Verwandten und Freunde scheinen nicht so große Probleme zu haben wie meine. Vielleicht flirtet sie sogar.

Ich frage mich, ob meine Geschichte jemals fertig wird. Es ist ein Dilemma. Ich liebe Kommunikationsgeräte. Ich werde sauer, wenn jemand drei Telefonnummern hat, aber keine Mailbox. Es gibt Leute, die meinen, sie brauchten keine Mailbox. Sie sträuben sich dagegen, dass man ihnen jederzeit eine Nachricht hinterlassen kann. Also bitte! Das ist doch Neunziger!

Jolanda sagt, wir brauchen keine Mailboxen mehr, weil wir sehen, wer angerufen hat und zurückrufen können. Ihr Telefon steht meist auf lautlos. Sie ruft zurück, wenn es ihr gerade passt, wenn sie unterwegs ist zwischen Uni und Zuhause und Bibliothek und Café. Sie hat gelernt sich zu schützen, nicht wie ihre Mutter, die sich in einem Fischerdorf nackig dem arktischen Sturm aussetzt. Ich werde nervös, wenn Leute nicht zurückrufen oder Emails nicht beantworten. Sie hingegen glauben, dass man sich im Kaffeehaus oder am Hafen schon mal über den Weg laufen wird. ‚Nimm das nicht persönlich’, sagen sie. Natürlich nehme ich es persönlich. Ich nehme es ja auch persönlich, wenn mich jemand im Treppenhaus nicht zurück grüßt.

Wie bringe ich es fertig, die Geschichte in meinem Fischerdorf voranzutreiben, wenn ich mich über jedes tutende Whatsapp-Bildchen freue und über jede Facebook-Nachricht, die neben mir aufploppt? Eine fiktive Geschichte kann ziemlich anstrengend sein. Manchmal sehne ich mich nach Abwechslung. Aber das ist es nicht allein. Dieses Tuten, Sirren und Läuten, das so leicht aus dem wahren Leben kommt, das sich nicht um Spannungsbögen schert, erinnert mich daran, dass anderswo Geschichten ganz planlos, einfach unkontrolliert geschehen, ohne dass sie sich jemand ausgedacht hat.

 

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