Hüterinnen des Feuers

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mona lisa 2016

Ich bin auf einer Hochzeitsfeier. Es ist ein warmer Abend. Auf der Spree ziehen Boote und Schiffe vorüber. Die Terrasse des Restaurants liegt auf Höhe des Flussspiegels. Es ist, als wären wir selbst auf einem Schiff.

Ich fühle mich ein bisschen verloren. Das Brautpaar ist beschäftigt und die meisten Gäste kenne ich nur flüchtig.

Wenn ich früher in eine Gesellschaft kam, in der ich niemanden kannte, ließ ich mich mit den Erstbesten in ein Gespräch ein und plapperte gegen die Langeweile nichtiger Themen an, bis ich völlig erschöpft war.

Heute gehe ich anders vor. Ich ziehe mich zurück und beobachte die Gesellschaft. Wenn mir jemand gefällt oder etwas hat, das mich neugierig macht, pirsche ich mich an.

Die attraktive, schlanke Frau mit den raspelkurzen weißblonden Haaren ist mir vorhin schon aufgefallen. Sie erinnert mich an eine gute Freundin, die ich völlig aus den Augen verloren habe. Wie das häufig geschieht in Berlin. Es muss nur jemand in einen anderen Stadtbezirk ziehen und schon sieht man sich nie wieder. Okay, zwischen meiner Freundin und mir hat es auch ein kleines Missverständnis gegeben. Es ließe sich aus der Welt schaffen. Da bin ich sicher. Meine Freundin ist ein großzügiger Mensch. Ich sollte sie anrufen.

Die Frau auf der Hochzeitsfeier, die mich an sie erinnert, trägt ein weißes Hänger-Kleid. Gerade steht neben ihr eine ältere, rundliche Dame in einem orangefarbenen Kleid. Ihre vollen Haare stehen ein bisschen vom Kopf ab, als wäre sie elektrisiert. Sie gestikuliert ausholend, als sie auf die Jüngere einredet. Die hört ihr aufmerksam zu. Meine verlorene Freundin hatte eine Mutter, die ähnlich klein und rund war. Sie ist vor einigen Jahren gestorben. Meine Freundin hat ihre Mutter in den letzten Wochen ihres Lebens auf eine Weise begleitet, für die mir nur das Wort „groß“ einfällt.

Ich pirsche mich an. Gerade sagt die ältere der jüngeren, dass nichts in unserem Leben zufällig geschieht. Darauf stoßen sie an und umarmen sich. Die Junge hat eindrucksvolle, braune Augen, die ältere ein strahlendes, faltiges Mädchen-Gesicht. Sie sind nicht Mutter und Tochter. Sie sind sich heute zum ersten Mal begegnet. Ich erfahre, dass die Junge die Trauzeugin und beste Freundin der Braut ist, seit sie zusammen in die Schule gegangen sind, und immer noch, obwohl sie seit Jahren nicht mehr in derselben Stadt leben. Sie kennen sich so gut, dass sie der anderen am Telefon sofort anhören, wenn etwas ist. Meist hören sie auch, was es ist.

Ich vermisse so eine langjährige Freundin. Ich glaube, dass es wichtig ist, einen Menschen zu haben, dem du vertraust und nichts vormachen kannst. Bisher hielt ich mich für emotional und offen, aber in diesem Moment kommen mir Zweifel. Vielleicht will ich mich gar nicht öffnen und lasse die Chance guter Freundschaften deshalb sausen oder breche sie ab. Wir stoßen an, die ältere, rundliche Dame, die schöne, junge Frau und ich. Sie umarmen sich wieder. Die Ältere hat ein warmes Lachen. Sie ist die Business-Beraterin der Braut. Mir fällt ein, dass ich die Braut fragen muss, wie ihre Geschäfte so laufen. Meine Gedanken schweifen ab und kehren an den Bistrotisch zurück, als die Business-Beraterin von einer schamanischen Seelenrückholung erzählt und wie sie danach ihren Baum gefunden hat, in Baruth. Ich erzähle ihr, dass mein Vater aus Baruth kommt und meine Vorfahren dort begraben sind, vielleicht in der Nähe ihres Baums. Wir stoßen darauf an.

Ich war auch einmal bei einer Schamanin. Bei ihr habe ich gelernt, dass Feuer das einzige Element ist, das ständig Nahrung braucht. Wie eine Freundschaft. Und wie eine Liebe. Wenn ein Feuer erlischt, ist das traurig. Es wird kühl. Du fühlst dich ausgesetzt und fragst dich, wie das passieren konnte. Ich frage mich, was mit Freundschaften geschehen ist, die ich früher hatte. Vielleicht wird meine verlorene Freundin sich melden, wenn ich nur lange genug an sie denke. Obwohl… Wenn du darauf wartest, geschieht nichts. Ist ein Gesetz. Weil Warten ein Zeichen dafür ist, dass du selbst aktiv werden musst. Du kannst nicht darauf warten, dass sich irgendwo ein Feuer entzündet oder die Glut neu entfacht. Du musst etwas tun.

Später beim Essen sitze ich neben dem Trauzeugen des Bräutigams. Auch er ist seit Kindertagen sein Freund. Ich kann mir vorstellen, wie sie miteinander telefonieren. Es gibt Dich und Mich und das Feuer ist ein eigenes Drittes, das wir nähren und hüten.

Später suche ich noch einmal das Gespräch mit der Business-Beraterin. Ich erzähle ihr von meiner letzten Trennung und den vielen Gedanken, die ich mir seitdem mache. „Du weißt, dass du das Richtige für dich getan hast.“ Sie hat Recht. Ich bin absolut sicher. Wieso mache ich mir trotzdem so viele Gedanken? „Manchmal müssen wir Menschen gehen lassen, um uns zu schützen“, sagt sie. „In diesem Moment liegt alles, auch deine Zukunft. Also mach dir keine Gedanken darüber, was später sein wird oder nicht.“

Wir tanzen. Wir tanzen ohne Pause, zuerst mit Schuhen, dann ohne, später auf den Tischen. Das Personal des Restaurants macht mit. Gegen Morgen umarmen und verabschieden wir uns, die Brautzeugin, die Business-Beraterin und ich.

 

 

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