DESCRIPTIONIBUS

Eröffnungsrede für Eberhard Hartwig
zur Eröffnung der Ausstellung „Descriptionibus“ in der Kirche am Tempelhofer Feld am 16. November 2018

ALTKUENKEND-2003-Kohle-Tusche-Gesso-Kreide-auf-Packpapier-75-x-99-cm

Eberhard Hartwig „ALTKUENKEND“ 2003

Descriptionibus, dieses schöne Wort, das wie ein Zauberspruch klingt, heißt auf Deutsch: Aufzeichnungen. „Aufzeichnungen“ ist der Titel einer Reihe von Monotypien, die Eberhard Hartwig hier in der Kirche zum ersten Mal zeigt. Jede zeigt ein Bibelzitat in verschiedenen Sprachen.

Zwar hat das lateinische Wort „Descriptionibus“ diesen geheimnisvollen Zauber-Sound, doch es besitzt nicht die schöne Präzision des deutschen Begriffs, der auf die Verbindung zwischen Schreiben und Zeichnen verweist. Gewöhnlich assoziieren wir mit dem Wort „Aufzeichnung“ keine Zeichnung, sondern Mitschriften, Notizen, Chroniken. Wir denken eher an konkrete Informationen.

Die „Aufzeichnungen“ und die „Briefe“, das sind die großen Arbeiten, die frei von der Empore schweben, nennt Eberhard Hartwig Scripturale.

Die Erforschung des Phänomens Schrift zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk des Künstlers, der den Beruf des Schriftsetzers erlernte und sein ganzes Berufsleben darin verbrachte. Es ist ein Beruf, den es inzwischen gar nicht mehr gibt. Eberhard Hartwig hat ihn noch ausgeübt und zwar vom Blei- bis zum digitalen Satz. Über seine künstlerische Arbeit sagt er: „Zeichnen, Malen und in AUFZEICHNUNGEN „schreiben“ ist für mich eine unmittelbare Lebensäußerung, eine Widerspiegelung der Außenwelt sowie die emotionale, sinnliche Mitteilung meiner selbst, die aus einer Position der Stille, der Zurückgezogenheit und mit vor allem der Verlangsamung -im Widerspruch zu meinen äußeren Lebensrythmen- gegeben wird. Stundenlange meditative Versenkung in den Prozess des Aufzeichnens innerer, einstmals abgespeicherter Schrift- und Bilder. Zeile für Zeile. Im Rhythmus des Eintunkens der Rohrfeder…“ Das Meditative liegt in dieser Wiederholung der immer gleichen Handlung. Das Schreiben eines „Briefes“ wird zum Ritual.

Diese langen pergamentähnlichen Bilder erinnern an alte Schriftrollen, an die Funde der biblischen Schriften in einer Höhle am Toten Meer.

Falls sie schon vor diesen „Briefen“ gestanden oder daran vorbeigegangen sind, wird Ihnen der aromatische Duft aufgefallen sein, den sie verströmen. Er rührt von den Ölen, mit denen Eberhard Hartwig das Papier behandelt hat, bevor er mit Tusche und Feder die Zeilen gezogen und diese kleinen schwarzen Zeichen, die ein bisschen an die mesopotamische Keilschrift erinnern, darauf schrieb.

Die Arbeit eines Bleisetzers hatte ja auch etwas Meditatives wie jede Arbeit, in der Handgriffe hochkonzentriert wiederholt werden.

Als Schriftsetzer war Eberhard Hartwig ständig mit dem Regelwerk der Sprache und den Gesetzen der Typografie konfrontiert, dessen unerbittliche Strenge etwas Heiliges haben. Auch die Abschreiber der Heiligen Schriften durften sich nicht den geringsten Fehler erlauben.

In seiner freien Arbeit, in den Scripturalen, tritt dieser Aspekt der Schrift, der mit reiner Information zu tun hat, zurück. Stattdessen führt Eberhard Hartwig uns zu einem anderen Aspekt, der mit dem Prozess des AufZEICHNENs zu tun hat und an die Grenze von Schrift und Bild führt, weg von der Lesbarkeit, die eine Kenntnis der Schriftzeichen voraussetzt (einstmals war das ein Privileg) hin zur freien Interpretation, die das Bild erlaubt.

Die „Briefe“ bestehen nicht aus Buchstaben, auch wenn wir die parallel verlaufenden Linien sofort als Zeilen interpretieren, weil die darauf tanzenden Zeichen an Schrift erinnern.

Das ist ein ganz natürlicher Vorgang. Wenn wir etwas betrachten, suchen wir das Bekannte, Vertraute. Und diese Linien- und Zeichenstruktur ruft in uns sofort die Erinnerung an Schrift auf. Obwohl kein Mensch dieser Welt die Schriftzeichen in Eberhard Hartwigs „Briefen“ lesen kann -es ist auch kein Geheimcode darin verborgen- trifft er doch immer wieder auf Menschen, die darin Worte, Sätze, eine Sprache entdecken.

Alles ist eine Frage der Wahrnehmung.

Auf dieser schmalen Wahrnehmungs-Grenze zwischen Schrift und Bild spielt der Künstler mit den Bedeutungen, nicht nur der Zeichen, die lesbar sind oder nicht, sondern auch mit der Wertigkeit von Schriftstücken.

Wenn die künstlerische Suche, das Spiel mit Form, Farbe und Material Grundlage der „Lebensäußerungen“ wird, reicht ein Beruf nicht aus. Eberhard Hartwig halbierte sein Einkommen, um mehr Zeit in seinem Atelier verbringen zu können. Ganz ohne akademische Ausbildung hat er ein unverwechselbares Werk aus Gemälden, Zeichnungen, auch Plastiken, vor allem aber Druckgrafiken, erschaffen und das geht immer so weiter.

In den Achtzigerjahren besuchte er Pleinairs bei Michael Hegewald, Achim Niemann, Wulf Sailer u.a. Ein wichtiger Lehrer war Wolfgang Leber, dessen Grafik-Studio er regelmäßig aufsuchte. Zu Beginn der Neunzigerjahre begann Eberhard Hartwig, eine eigene Druck-Werkstatt aufzubauen. Das Druckgrafik-Atelier in der Dietrich-Bonhoeffer-Straße im Prenzlauer Berg ist aus der Kunstszene Berlins nicht mehr wegzudenken. Es ist ein Hotspot. Künstler aus der Stadt und vom Land kommen dorthin, um Lithografien, Radierungen, Linol-, Holzschnitte und Bücher zu drucken. Die Werkstatt ist zudem Schule und Ausstellungsort. Eberhard Hartwig vermittelt in Workshops das Handwerk der verschiedensten Drucktechniken an Erwachsene und Kinder und stellt regelmäßig Arbeiten anderer Künstler aus. Seine eigenen Werke sind dort natürlich auch zu besichtigen. Sie füllen zig Mappen und ziemlich viele Schränke -ich habe nicht gezählt-. Er ist ein unermüdlich Forschender, Reisender und Verbindungsuchender. Bei der Betrachtung auch älterer Arbeiten fällt auf, dass die Schrift, der Satz, das Zeichen lange schon Thema seiner künstlerischen Suche sind, neben den Landschaften und abstrakten Arbeiten. In den kleinen Arbeiten im Foyer und im hinteren Raum können Sie studieren, wie sich Landschaft zu Struktur, Struktur zu Zeichen abstrahiert. Er beschäftigt sich nicht nur mit den ersten Bilder- und Piktogramm-Schriften aus Ägypten, Mesopotamien, der arabischen Welt und China und den Alphabeten indigener Völker. Er sammelt auch Notizzettel vom Bürgersteig und liegen gelassene Einkaufszettel aus Einkaufswagen, nimmt sie mit ins Atelier. Einige davon schaffen es in die Druckpresse. Er transformiert diese kleinen, teilweise unleserlichen und unverständlichen, banalen Botschaften von zu besorgenden Alltagsdingen wie einem Rasenmäher beispielsweise, über den Vorgang des Druckens in eine endgültige Form.

Auch in dieser Auseinandersetzung geht es weniger um die Inhalte der Notizen. Es geht um die Reste unserer handschriftlichen Äußerungen, die letzten Schriftbilder unserer Kultur, um das durch die Hand erzeugte Bild. Handschriften geben Auskunft über Emotionen. Sie erzählen etwas über den Zustand des Schreibers, über sein Alter, seine Herkunft möglicherweise. Anders als in einer mithilfe des Rechners geschriebener Botschaft verschmilzt in der Handschrift die kollektive Vereinbarung der Sprache mit der Individualität eines einzelnen Menschen. Das kann zu Verständnisproblemen führen, weil das Schriftbild über die Schrift hinausgeht. Es bedient sich der Schrift nur, absorbiert sie in eine momentane Lebensäußerung.

Der Rechner bügelt die Individualität glatt. Nichts muss dechiffriert, kein Rätsel mehr gelöst werden. Durchaus vorteilhaft. „Der Rechner macht keinen Fehler“. Vielleicht kennen Sie diesen Satz. Ich höre ihn immer dann, wenn mir jemand beweisen will, dass ich mich geirrt habe und ich das kaum glauben kann. Aber ja. Ich habe mich geirrt. Ich habe einen Fehler gemacht.

In diesen Arbeiten, die hier im Rund der Kirche hängen, schwingt das alles mit: Unsere fabelhafte Fehlerhaftigkeit, die Unlogik unseres Seins, im Sinne von: schwer in Worte zu fassen! Unsere banale und heilige Existenz, die doch ein Bild ergibt. Oder viele, sehr unterschiedliche Bilder, die dazu auch noch verschieden interpretiert werden. Langweilig wird das nicht.

Ich wünsche Ihnen nun viel Vergnügen und Genuss beim Rundgang durch die Aufzeichnungen von Eberhard Hartwig.

 

 

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