Contra familia

Berliner Zeitung

Eine Frau aus Usbekistan muss einen Deutschtest bestehen, bevor sie zu ihrem Verlobten nach Hannover darf. In ihrer Heimat ist das fast unmöglich

Die Frau auf dem Foto hat glattes, blondes Haar. Sie trägt einen schwarzen Bikini. Durch ein Holzspalier fallen schräge Lichtstreifen auf ihre fein modellierten Schultern und die schlanken Arme. Ein Mann schmiegt sich an sie. Das Paar sitzt in einem Restaurant an einem Strand.

Das Foto steckt in einem grauen Metallrahmen, der das Logo der ISAF, der Internationalen Schutztruppe, trägt. Zwischen dem grünen Logo und dem Strand-Bild zeigt eine digitale Leiste die Zimmertemperatur, Datum und Uhrzeit an. Die Temperatur in der Wohnung von Ralf Kretzschmar in Hannover-Kleefeld beträgt 21° Celsius. Es ist der 17. November. Die Uhr läuft nach Sommerzeit. Kretzschmar hat vergessen, sie zu stellen. Er will sich nicht mit der Zeit beschäftigen. Stunden, Tage, ein Winter und ein Sommer sind vergangen, seit er Elena das letzte Mal gesehen hat. Einmal am Tag jedoch, bevor er sie anruft, schaut er auf die Armbanduhr und rechnet die Zeit um. In Termez, Usbekistan ist es vier Stunden später als in Hannover.

Elena Batirgarieva, seine Verlobte, darf ihn in Deutschland nicht besuchen. Sie muss erst einen Deutschtest bestehen, die Prüfung A1 des Goethe-Instituts. Einmal ist sie schon durchgefallen.

„Am Telefon übe ich mit ihr Redewendungen, Grammatik und das Zählen“, sagt Ralf Kretzschmar. „Jetzt kommt sie fast fehlerfrei bis vierzig.“

Der Hauptfeldwebel in Reserve, Ralf Kretzschmar, versteht nicht, wieso er Elena erst heiraten darf, wenn sie auf Deutsch nach seinem Lieblingsessen essen fragen kann. Mit dem richtigen Fragewort und einem ordentlichen Satzbau dahinter, versteht sich. „Wieso kann sie es nicht hier lernen? Das würde doch viel schneller gehen.“

Auf diese Frage gibt es mehrere mögliche Antworten. Eine könnte lauten: Elena muss den Deutschtest vor dem Antrag auf Einreise bestehen, weil sie Friseuse ist.

Die große Koalition begründete die Änderung des Aufenthaltsgesetzes vor einem reichlichen Jahr damit, Zwangs – und Zweckehen zu verhindern und die Integration der Einwanderer zu erleichtern. Jeder sollte, bevor er nach Deutschland kommt, Grundkenntnisse der deutschen Sprache nachweisen. Das klingt nicht unvernünftig. Doch das Gesetz betrifft gar nicht jeden. Menschen aus den USA, Kanada, Australien, Japan, Israel und der Republik Korea sind von der Bestimmung ausgeschlossen. Menschen mit einem Hochschulabschluss ebenfalls. Man geht davon aus, dass sie leichter eine Arbeit finden und schneller integriert sind. Für den nicht akademischen Rest der Welt endet die Reise nach Deutschland häufig im Goethe-Institut. Denn es gibt Orte, da kann man nicht deutsch lernen.

Termez in Usbekistan liegt an der Grenze zu Afghanistan. Es ist eine kleine Stadt, etwa so groß wie Cottbus, schätzt Ralf Kretzschmar. In der Nähe von Cottbus wurde er vor vierzig Jahren geboren. Im Herbst 2005 war Kretzschmar im Militärstützpunkt Termez im Einsatz. Dort steigen die deutschen Soldaten vom Airbus 310 aus Köln in Hubschrauber und Transportmaschinen nach Afghanistan um.

Er habe Elena in einer Diskothek getroffen, erzählt er. Bes Musch, habe sie gesagt, sie sei ohne Mann. Er kratzte seine Russischkenntnisse aus der Schulzeit zusammen, um sich mit der hübschen Frau zu unterhalten. Elenas Mutter ist Russin, der Vater Usbeke. Damals lebte sie mit ihrem fünfjährigen Sohn Ruslan bei der Mutter. Zwar arbeitete sie als Sekretärin bei einem Arzt, doch für eine eigene Wohnung hätte das Einkommen der 27jährigen nicht ausgereicht.

Ralf Kretzschmar mietete in Termez eine kleine Wohnung für sich und seine Freundin und deren Sohn. Einige Monate später war Elena schwanger. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie bereits über Heirat gesprochen und ein gemeinsames Leben in Deutschland. „Niemals hätte ich geglaubt, dass das so schwierig wird.“

Am 14. Februar 2007 brachte Elena ihre Tochter Anna zur Welt. „Am Valentinstag“, sagt Kretzschmar. Es ist sein erstes Kind. Zu dieser Zeit war sein letzter Auslandseinsatz längst beendet. Zurück in Hannover, hatte er sein Büro im Dezernat für Soziale – und Fürsorgeangelegenheiten wieder bezogen. Seine Tochter Anna hielt er ein halbes Jahr später das erste Mal im Arm, als er seinen Urlaub mit der Familie in Termez verbrachte. Zu dieser Zeit entstand das Foto in der Strandbar.

Mit einem deutschen Vater hätte Anna das Recht, bei ihrem Vater in Deutschland zu leben. Doch Elena ließ sich erst drei Monate nach Annas Geburt von ihrem ersten Mann, von dem sie bereits getrennt lebte, scheiden. Zwar wies Ralf Kretzschmar später durch einen Test nach, dass er der Vater von Anna ist, doch das Mädchen ist juristisch noch in Elenas erster Ehe geboren.

„Zu dieser Zeit waren wir alle fast am Durchdrehen“, sagt Kretzschmar. „Damit hatte niemand gerechnet.“ Die Papiere für die Eheschließung waren alle bereits besorgt, übersetzt, beglaubigt und noch einmal auf Anweisung der Deutschen Botschaft überprüft.

Die karierte Decke des Wohnzimmertisches ist ein wenig verrutscht unter dem Gewicht der Dokumente. Sehr sauber und glatt der Stapel, jedes Blatt steckt in einer Folie, kein Eselsohr, nirgendwo ein Kaffeefleck.

Der Beamte Kretzschmar schildert seinen Fall mit großer Sachlichkeit. Er spricht schnell und beherrscht. Er hat gelernt, seine Geschichte in klaren Sätzen, detailgetreu zu erzählen, ohne sich in Nebensächlichkeiten zu verlieren. Einmal erwähnt er beiläufig, dass er ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen musste, um das alles durchzustehen.

Er schildert, wie er seine Verlobte Elena zur Sprachprüfung am Goethe-Institut in Taschkent anmeldete. Er blättert in seinen Papieren nach der Gesprächsnotiz. Der Mitarbeiter des Instituts habe seinen Namen nicht nennen wollen. Sein Name täte nichts zur Sache. Elena solle am 4. Juni 2008 mit ihrem Pass und 90.000 Sum zur Prüfung erscheinen. Die Summe entspricht ungefähr 60 Euro und dem monatlichen Spitzeneinkommen eines Usbeken.

„Eine Woche vor der Prüfung habe ich noch einmal im Goethe-Institut in Taschkent angerufen“, erzählt Kretzschmar. „Diesmal war eine Frau am Apparat. Auch sie wollte ihren Namen nicht nennen. Sie sagte, die Anmeldefrist sei abgelaufen. Elena müsse noch heute bezahlen.“
„Termez liegt 600 Kilometer von Taschkent entfernt, ungefähr so weit wie von Hannover nach München“, erklärt Ralf Kretzschmar. „Nur dass es dort keine A2 und keine A7 gibt. Die Usbeken haben auch keine Girokonten, von denen sie mal schnell eine Überweisung machen können.“

Kretzschmar beschwert sich bei der Deutschen Botschaft und erreicht immerhin, dass seine Verlobte die Gebühr erst zwei Tage vor der Prüfung entrichten muss. Von 20 Teilnehmern seien 18 durch die Prüfung gefallen, berichtet Kretzschmar.

In die Beratung des Vereins für binationale Familien kommen seit einem Jahr immer wieder Betroffene, deren Partner in ihrer Heimat keine Möglichkeit haben, deutsch zu lernen. Ralf Kretzschmar trifft dort den Zahntechniker Asadullah Saddat. Er lebt seit seinem sechzehnten Lebensjahr in Deutschland. Vor vier Jahren hat er in seiner alten Heimat Afghanistan geheiratet. Seine Frau darf ihn nicht besuchen. „In Afghanistan kann eine Frau nicht Deutsch lernen“, sagt Saddat. „Sie kann überhaupt nichts lernen. Sobald eine Internationale Hilfsorganisation eine Schule für Frauen baut, bomben die Taliban sie weg.“ „Stimmt“, sagt Kretzschmar. „Das habe ich selbst gesehen, als ich in Afghanistan im Einsatz war.

Hiltrud Stöcker-Zafari, Beraterin im Verein für binationale Familien, weiß manchmal nicht mehr, wie sie den Paaren noch helfen kann. Die neueste Info-Broschüre des Vereins heißt: „Haben Sie noch eine Idee?“ Obwohl der Verein längst nicht die einzige Organisation ist, die in der aktuellen Fassung des Aufenthaltsgesetzes Verstöße gegen das Grundgesetz sieht, fehlt es dem Verein schlicht an Geld, sich durch die Instanzen bis vor das Verfassungsgericht zu klagen. „Ich kann doch keinem Paar raten, zu klagen“, sagt Hiltrud Stöcker-Zafari. „Das kostet Geld und Zeit. Die Paare brauchen sofort Hilfe. Eher rate ich ihnen, ins europäische Ausland zu ziehen.“

Asadullah Saddat hat sich jetzt in London nach Lebens – und Arbeitsmöglichkeiten umgesehen. „Ich würde gern in Deutschland bleiben. Ich liebe meine Arbeit. Aber ich kann nicht mehr. Ich muss einen Weg für meine Frau und mich finden.“

„Wir sind beide Deutsche“, sagt der Beamte Kretzschmar. „Und wir werden im eigenen Land diskriminiert.“

Neben den Erfahrungen dieser Männer wirkt das Argument von SPD-Abgeordneten Dieter Wiefelspütz wie aus dem tiefsten Plüsch eines alten Ohrensessels. Es könne doch nicht so schwer sein, 600 Worte deutsch zu lernen und davon 300 anzuwenden.

Der CDU-Politiker Peter Uhl will für den Hauptfeldwebel in Reserve ein Wort beim Auswärtigen Amt einlegen. Er müsse sich aber verpflichten, die Kosten für den Deutschkurs in Hannover und eine eventuelle Abschiebung zu tragen. Ausgerechnet Uhl, der auf seiner Website behauptet, es widerspräche dem öffentlichen Interesse, wenn eine Person ohne Deutschkenntnisse ins Land kommt.

Ralf Kretzschmar hat sich bereits nach Sprachkursen für Elena erkundigt. Sein Arbeitgeber und der Verein für binationale Familien bieten Hilfe bei der Kinderbetreuung an. „Vielleicht kann Elena mit den Kindern am Jahresende kommen. Dann könnten wir Annas zweiten Geburtstag noch zusammen feiern.“

Der Verein für binationale Familien setzt auf Lobbyarbeit und hofft, dass die Politiker begreifen, dass die aktuelle Fassung des Aufenthaltsgesetzes an der Lebensrealität vieler Deutscher vorbei geht. „Man hat mir allerdings gesagt, dass sich in dieser Legislaturperiode nichts mehr tut“, sagt Hiltrud Stöcker-Zafari. „Denn jetzt beginnen die Parteien, ihren Wahlkampf vorzubereiten. Es wird Sache der nächsten Regierung sein, sich erneut damit zu beschäftigen.“

Das kann dauern. Währenddessen lernt Elena weiter deutsch. Sie lebt jetzt mit ihrer Schwester und deren Mann und Kindern in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Es dürfte schwierig sein, auf so engem Raum eine Ecke zum Lernen zu finden. „Manchmal ist sie am Telefon nur noch genervt“, sagt Ralf Kretzschmar. „Es ist alles zu viel.“

Kathrins Notiz-Blog 31. Dezember 2008

Philippe sagt, er gehöre zur Generation Israel. Sein ganzes Leben lang begleite ihn der Nahost-Konflikt in den Medien. „Jeden Tag“, sagt er. Philippe ist 50 Jahre alt und in Frankreich aufgewachsen. Ich sehe ihn als Kind in der tristen Vorstadtstraße einer nordfranzösischen Stadt Ball spielen. Aus den Fenstern der Erdgeschoß-Wohnungen quellen die Nachrichten.

Ich glaubte, es spiele es keine Rolle mehr, aus welchem Land jemand kommt. Ich meinte, wir wären alle Europäer. Und wenn ich heute, am Silvesterabend, die vielen Briten, Franzosen, Spanier, Dänen und Italiener in Partystimmung Unter den Linden spazieren sehe, fühle ich mich gut in diesem Europa, in dem die Entfernungen zwischen den Hauptstädten auf einen Silvestertrip und eine Einkaufsparty in der Kastanienallee geschmolzen sind.

Israel stürzt uns zurück in die Vergangenheit der Nationalstaaten. Philippe darf auf Israel schimpfen. Ich nicht. Philippe ist Franzose. Es interessiert ihn nicht, wenn jemand ihm deswegen unterstellt, er sei Antisemit. Er weiß, dass er keinen Menschen aufgrund seiner Religion ablehnt.

Ich darf nicht auf Israel schimpfen. Deutsch ist nicht die Sprache, in der man Israel kritisieren darf.

Aber ich darf an dieser Stelle fragen, was der Krieg zwischen Israelis und Palästinensern in einer Zeit bedeutet, in der sich Nationen, Kulturen, religiöse Riten und Sprachen immer mehr vermischen. Ich habe nur eine Erklärung dafür: Es müssen konservative Kräfte sein, die ein Interesse daran haben, die Spaltung der Welt zu steuern und zu kontrollieren, die um jeden Preis ein Feindbild aufrecht erhalten, als Rechtfertigung für ihre Kriege. Vielleicht hört sich das nach Verschwörungstheorie an. Meinetwegen. Aber warum wurden all jene hingerichtet, die ernsthaft an einer Lösung des Konflikts gearbeitet haben?

Ich frage mich, wieso kein Schrei des Protests von den Juden in der ganzen Welt ausgeht. 2008 las ich das Buch „Israels Irrweg“ von Rolf Verleger. Er schreibt aus der Sicht eines religiösen Juden. Ich bin sehr froh über dieses Buch, weil es ausspricht, was mich solange schon bewegt.

Erst wenn jüdisches Leben und Glauben von der konservativen Art Israels, Konflikten zu begegnen, getrennt werden, ist eine offene, vorurteilsfreie Diskussion über den Nahen Osten möglich. Aber es gibt starke Kräfte, die genau das verhindern wollen.

Für 2009 wünsche ich uns und allen Menschen auf der Welt die Freiheit der Begegnung und der Mischung der Kulturen. Wir müssen die konservative Art der Konfliktlösung durch Krieg und Gewalt weiter bloß stellen.

Kathrins Notiz-Blog 21. Dezember 08

Der folgende Text ist Teil eines längeren Manuskriptes, an dem ich seit einigen Jahren arbeite.
In meinem Buch geht es um jemanden, der aufbricht und fort geht. Ein großer Teil der Geschichte spielt im Winter und es kommen allerlei Schneesorten darin vor. Deswegen halte ich den Winter für die geeignete Jahreszeit, Euch darauf neugierig zu machen. In der letzten Woche schrieb ich über den Start. Heute schreibe ich über das Ankommen.

Pi nimmt mir den Koffer ab. Er hält die Wagentür auf. Bevor er mich zum Hotel bringt, kauft er Äpfel und Toast für mein Frühstück ein. „Und der Tee? Das war Assam mit Milch, nicht wahr?“ Ich nicke. Kein Zweifel. Das ist der Mann, mit dem ich jeden Tag telefoniert habe. Es ist seine Stimme.

In der Stadt liegt Schnee, bergeweise. Räumfahrzeuge saugen den Schnee von Fahrbahn und Bürgersteigen und pusten ihn anschließend gegen die Häuserwände.

Ich bin angekommen. Das bedeutet, dass ich wehrlos bin. Ich kann nichts mehr tun, als mir selbst zuzuschauen. Es ist nicht, weil ich mich auf die Zeit mit Pi freue. Ich bezweifle, dass ich ihn lieben werde. Es ist wegen des Schnees an den Häuserwänden und der Tüte mit den Lebensmitteln auf dem Rücksitz.

Ankommen ist, wie wenn man in frischen Schnee fällt und sich nicht mehr rühren kann. Der Schnee hält. Er gibt nach wie ein Bett. Doch man muss sich schnell wieder hochrappeln, sonst wird es ungemütlich.

So selten und flüchtig sind die Momente des Ankommens. Und doch begeben wir uns wegen dieser kurzen Augenblicke auf Reisen. Stunden- tage – wochen – und jahrelang sind wir unterwegs, um irgendwo anzukommen.

Kathrins Notiz-Blog 15. Dezember 08

Der folgende Text ist Teil eines längeren Manuskriptes, an dem ich seit einigen Jahren arbeite.
In meinem Buch geht es um jemanden, der aufbricht und fort geht. Ein großer Teil der Geschichte spielt im Winter und es kommen allerlei Schneesorten darin vor. Deswegen halte ich den Winter für die geeignete Jahreszeit, Euch darauf neugierig zu machen.

Über den Flughafen treiben dicke Schneeflocken. Der Wind jagt sie auf den Rollfeldern vor sich her. Sie peitschten in schrägen Reihen an den Scheiben des Terminals vorüber.

„Sieht nach Verspätung aus“, sagt die Frau neben mir. Sie hat die Beine von sich gestreckt und bewegt die Zehen in den Socken. Ihre Stiefel stehen neben dem Handgepäck. Sie erzählt von ihren Enkeln und wie sie mit ihnen spielen wird, dort, wohin wir fliegen werden, an unserer Destination. Ich fühle mich noch fremd unter den Reisenden. Es ist zu lange her, dass ich unterwegs war. Ich erinnere mich an meine frühere Unbefangenheit auf Bahnhöfen und Flughäfen. Ich bin sicher, dass das Reisen in unserer Natur liegt. Der Mensch ist Nomade.

Zwei Stunden lang wartet das Flugzeug an der Enteisungs-Anlage. Inzwischen ist es dunkel. Der Schnee trudelt durch das milchige Licht des Platzes, auf dem die Maschinen von riesigen Gerüsten aus geduscht werden.

Mit drei Stunden Verspätung rollen wir schließlich zum Start. Das Flugzeug hält inne. Sein Cockpit blickt bis zum Horizont der Rollbahn. Ein Moment der Konzentration. Vielleicht steht es zum ersten Mal an diesem Punkt der Welt. Vielleicht ist es schon einige Male von hier aus gestartet. Zu anderen Destinationen. Dieser Augenblick, in dem das Samenkorn der Ewigkeit liegt. Die leere Bahn.

Plötzlich donnern die Turbinen los. Der Flieger beginnt zu rollen. Die Energie des Starts presst mich in den Sitz. Das Flugzeug rast auf den Horizont zu. Die Unebenheiten des Rollfeldes schütteln seinen Körper. Als es abhebt, treten mir Tränen in die Augen. Die schräge Linie der Erde verschwimmt. Die Stadt am Boden verwandelt sich in ein Aquarell, die Landschaften ringsum.

Der Pilot meldet sich nasal und gut gelaunt. Einige Buchstaben zerplatzen direkt vor seinem Mikrofon. Wir stoßen in den Wolkennebel. Ich zerre an dem Tütchen mit Erdnüssen, das die Stewardess vorhin gebracht hat. Die Tüte rutscht mir aus der Hand. Die Nüsse spritzen über meinen Platz und den meiner Nachbarin. Sie lacht. Ein lautes, freies Lachen. Ich muss mitlachen. Wir stoßen durch die Wolken in den Nachthimmel. Das Wolkenbett bleibt tief unter uns. Die Anweisung für den Gurt erlischt. Ich picke die Nüsse von meinem Tisch. Wir kichern noch immer. Meine Nachbarin öffnet ihre Tüte, sehr fest und geschickt mit diesen sicheren Händen, die außen schwarz und innen fast so weiß wie meine sind. Sie schüttet die Hälfte ihrer Nüsse in meinen Handteller.

Giovannis Weihnachtshügel

Berliner Zeitung

Am Britzer Damm, Ecke Tempelhofer Weg spritzen die Autos vierspurig über die nassen Straßen. Hat man die Ampeln hinter sich gelassen und den asphaltierten Weg hinauf zu Giovannis Tannenbaum-Verkauf genommen, ist es plötzlich da, dieses Gefühl, dem man zuerst misstraut, weil es an vielen Orten der Stadt vergeblich herauf beschworen wird: Weihnachten.

Vielleicht liegt es an dem Himmel, der sich in den Farben der Dämmerung ausbreitet. Hinter Giovannis Weihnachtshügel klafft ein Loch in der Stadt. Bis zu der Müllverbrennungsanlage am Horizont erstrecken sich die Wiesen eines Naturschutzgebietes mit einem Tümpel mittendrin, dem Eckerpfuhl. Links schließt sich ein Wäldchen an.

Die Holzspäne auf dem Platz vor der Weihnachtsbaum-Einpack-Trommel duften würzig. Am Unterstand weht eine Kette Tibet-Fähnchen. Daneben ein alter Bauwagen, der den Eindruck erweckt, als würde darinnen guter Tee gekocht. Möglicherweise liegt das an Giovanni, der aussieht, als liebe er guten Tee.

Giovanni eilt in großen Schritten über den Platz. Er trägt etwas zwischen Schnee – und Arbeitsanzug. Sein bunter Kinnbart ragt aus dem Gesicht. Die Wollmütze würde ihm in die Augen rutschen, hielten die Bügel der runden Brille sie nicht auf. Trotzdem schiebt er sie hin und wieder aus der Stirn.

Ein Wagen hält neben ihm. „He Giovanni“, ruft ein älterer Herr aus der herunter gelassenen Scheibe. „Komme sofort.“ Giovanni zeigt dem Stammkunden zum Gruß eine seiner harzigen Handflächen und eilt in die Abteilung mit den rot-weiß markierten Bäume. Dort sieht sich ein Paar suchend um. Die rot-weißen sind erste Wahl, fünfzig Euro der Baum, makellose Nordmann-Tannen. Giovanni fragt, berät, empfiehlt. „Sehen Sie, wie gleichmäßig der gewachsen ist. So etwas finden Sie sonst nirgends in Berlin.“ Er streicht über die weichen Nadeln.
Sein Berlinisch hat einen italienischen Akzent. Giovanni ist Sizilianer. Drahtig windet er sich aus seinem Wald wieder nach vorn. Rita braucht Hilfe beim Einnetzen eines besonders üppigen Baumes. Auf dem Weg zupft er das klingelnde Telefon aus der Brusttasche seines Arbeitsanzuges und verabredet einen Vorstellungstermin.

Er braucht dringend Verstärkung auf dem Platz. Aber es ist schwer, gute Leute zu finden, die einen Blick für die Arbeit haben und auf die man sich verlassen kann. „Unter zwanzig Bewerbern ist vielleicht einer, mit dem man etwas anfangen kann“, sagt er. „Einige arbeiten einen Tag und kommen nicht wieder, andere verschwinden nach einer Woche. Die sagen: ‚Na dann, bis morgen’ und tauchen nie mehr auf.“

Der Stammkunde lehnt an seinem Wagen. Giovanni bedient ihn seit Jahren, weiß genau, was er sucht. „Hast du was für mich?“, ruft der Mann. „Klar doch.“ Giovanni weht rüber an den Rand des Platzes, in sein „Lager“. Dort liegen noch verpackte Tannen. „Ich erkenne durch das Netz, was ein guter Baum ist“, sagt er. Er packt ein Exemplar aus. Der Mann kommt langsam näher. „Großartig.“ Er hat einen Baum, den noch kein anderer Kunde vor ihm zu sehen bekam. Es ist sein Baum. Von Giovanni ausgewählt. Zufrieden zieht er die Brieftasche aus seiner Jacke.

Giovannis flinke, dunkle Augen wandern unablässig durch die Baumreihen. Hier und dort gebärden sie sich die Tannen ein wenig undiszipliniert. Sie neigen mal nach dieser, mal nach jener Seite aus ihrer eisernen Verankerung.

Sein Platz sei der größte in Berlin, sagt Giovanni. Er habe die besten Nordmann-Tannen der Stadt. Das sei auch kein Wunder, denn die dänischen Händler mögen ihn. In jedem Sommer, wenn er seine Bäume aussucht, würden sie ihn mit offenen Herzen empfangen, obwohl die Berliner Tannenbaum-Käufer im allgemeinen nicht sehr beliebt seien, weil sie die Preise drücken. „Berlin ist die Stadt in Europa, in der die Weihnachtsbäume am billigsten verkauft werden. Selbst in Westdeutschland zahlen die Leute mehr. Und in Norwegen kostet ein Baum das Dreifache.“

Aber Giovanni ist anders. Er ist der Berliner mit dem italienischen Akzent. Die dänischen Förster fragen nicht, warum es ihn vom sonnigsten Ende Europas in diese arme Stadt verschlagen hat. Sie hören seine Sprache, die barock schwingt wie die katholische, sinnliche Variante von Weihnachten. Die Version mit der Madonna. Sie klingt nach verschwenderischen Gefühlen und Tränen der Liebe. „In Italien“, sagt Giovanni, „da ist Weihnachen schon anders als in Berlin. Die Menschen dort können die Zeit mit der Familie kaum erwarten. Sie freuen sich darauf, zusammen in die Kirche zu gehen.“

In Berlin besucht er am Heiligen Abend manchmal eine katholische Messe, manchmal eine evangelische Christvesper, denn seine Frau ist evangelisch. „Außerdem ist sie Buddhistin“, sagt Giovanni. Aber eigentlich möchte er über solche privaten Dinge wie Religion gar nicht sprechen. Man solle doch lieber über die Bäume reden. Das ist jetzt ihre Zeit. „Weihnachten ohne Baum…nein, das geht nicht. Der Baum ist doch das Symbol der Liebe. Deswegen legt man ja auch die Geschenke darunter. Und man steht davor und singt ein Lied.“ Wie Giovanni das sagt, möchte man augenblicklich in den Boden versinken vor Scham, jemals ein Weihnachtsfest ohne Baum erwogen zu haben.

Seit zehn Jahren verkauft er Weihnachtsbäume, seit fünf Jahren auf dem Platz am Britzer Damm. Das Geschäft beginnt vor dem ersten Advent mit den dichten, großen Saalbäumen, die Kirchen, Firmen und Hotels kaufen. Dann kommen die Familien, die ihren Baum schon in der Adventszeit schmücken oder sich rechtzeitig ein besonders gutes Exemplar sichern möchten und schließlich die Schnäppchenjäger, die von Platz zu Platz ziehen und handeln. „Es gibt Leute, die geben fünf Euro Trinkgeld, nachdem sie den Preis um zwei Euro nach unten gedrückt haben.“ Giovanni schüttelt den Kopf.

Giovanni ist 47 Jahre alt. Man schätzt ihn gute zehn Jahre jünger. „Ich weiß.“ Er schiebt die Mütze aus der Stirn. Er ist die erstaunten Gesichter gewohnt. „Es muss die frische Luft auf dem Platz sein.“ Selbst die weißen Streifen in seinem Bart wirken unter diesem Gesicht eher wie ein modischer Spaß.

Seine Kinder sind inzwischen erwachsen. Für einen Moment verlässt sein Blick die Bäume und wandert über den Britzer Damm, auf dem die weißen und roten Lichter der Autos wie zwei Ketten gegeneinander aufgefädelt sind. Er blickt, als könne er selbst nicht glauben, wie viele Jahre vergangen sind, seit er 1982 nach Berlin kam. Die Stadt habe ihn fasziniert, die Mauer. „Man konnte interessante, alternative Leute treffen.“ Deshalb sei er eines Tages geblieben.

Er huscht in eine Reihe, sucht nach dem perfekten Stufenbaum. „Diese lassen sich viel besser schmücken als die dicht gewachsenen Bäume, auf die alle zuerst fliegen.“ Die Baumärkte lockten mit billigen Hochschossern, Tannen, die schnell gewachsen sind und nur wenige Stufen haben. Er zählt die Etagen des Baumes. Zwölf. Zwölf Jahre alt. „Oder hier die Nobilis…Wer einmal eine Nobilis hatte, kauft sie immer wieder wegen ihres Duftes.“

Und sein eigener Weihnachtsbaum? Nein, einen Blick in sein Wohnzimmer gestattet er nicht, höchstens durchs Schlüsselloch. „Ein paar Kerzen, echte Kerzen und ein bisschen Schokolade. Das genügt. Kein Lametta und solchen Kram.“ Gibt es das Wort gemütlich auf italienisch? Giovanni denkt nach. „Commodo“, sagt er. „Commodissimo.“

Es fällt nasser Schnee. Der Matsch quietscht durch die Sohlen. Das übliche Berliner Adventswetter. Wahrscheinlich werden wieder alle darüber klagen, dass es zu Weihnachten trist und grau aussieht. Im Bauwagen ist es kühl. Es gibt keinen Tee. Auf dem kleinen Tisch stehen einige Wasser – und Limonadenflaschen, in der Eile offen stehen gelassen.