Berliner Notiz-Blog 17. Oktober 2007

Die meisten Besucher des Hauptzollamtes in Berlin-Schöneberg sind überrascht, dass es diese Behörde noch gibt. Sie leben in einer Welt, in der Newspaper, Wertpapiere und  Bauanleitungen für Hochgeschwindigkeitszüge per Mausklick um den Globus reisen.

Mit ungläubigen Gesichtern betreten sie die triste Halle, die an ein großes Postamt aus den Sechzigerjahren erinnert, nur ohne Gelb. Einigen friert das Lächeln zu einer verlegenen Maske. Die Pakete, die hier verzollt werden müssen, kommen von außerhalb Europas. Nicht, dass die Leute vergessen hätten, dass es das Ausland noch gibt. Im Gegenteil: Sie kaufen ja täglich dort ein. Sie organisieren online Partys in Tokio, haben Cybersex mit dem Liebhaber in New York, schalten Konferenzen mit Geschäftspartnern in Nairobi. Doch in dieser tristen Schalterhalle fällt der Schlagbaum vor den Weltbürgern.

Es gibt auch andere, Stammkunden, das sind die Sammler und Antiquitätenhändler, die regelmäßig weltweit einkaufen, denen nichts zu teuer ist oder die trotz der Zollgebühren ein gutes Geschäft mit ihren Waren machen, wie der Wilmersdorfer Rentner mit dem weißen Basecap, der Porzellanhunde sammelt. Geduldig wartet er auf der Bank, verwickelt die Leute, die sich zu ihm setzen, ins Gespräch, um ihnen Bilder seiner Sammlung zu zeigen, Vitrinen über Vitrinen mit Porzellanhunden aller Rassen.

Eine junge Frau verliert vorn am Tresen die Fassung, weil das Kleid, das sie bei einer belgischen Firma bestellte, nun aus Hongkong geliefert wird. Jetzt muss sie eine Zollgebühr entrichten, die den Preis des Kleides verdoppelt. Am liebsten würde sie es gar nicht annehmen, aber sie hat sich auf das Kleid gefreut. Sie möchte es jetzt endlich tragen.  Natürlich kann sie reklamieren oder die belgische Firma anzeigen, aber an diesem verregneten Sommermorgen steht sie einem Zollbeamten im blauen Kittel gegenüber, der zu einem schadenfrohen Grinsen angesetzt hat, kein Wort sagt, sie nicht beruhigen kann, keine Alternativen für Fälle wie diesen kennt, mit denen er doch täglich konfrontiert wird. Aber es ist eben nicht sein Job, Alternativen aufzuzeigen, womöglich eine Rechtsberatung durchzuführen oder aufgebrachte Mode-Frauen zu beruhigen, denen die Berliner Läden offenbar nicht ausreichen, so dass sie in der ganzen Welt shoppen gehen müssen. Nein, das ist nicht sein Problem. Seine Aufgabe besteht darin, ein Formular auszufüllen und das Geld zu kassieren. Punkt.

Der Mann in der orangefarbenen Regenjacke kauft Schelllackplatten in Uruguay. Er lehnt mit beiden Armen auf dem Tresen der Paketausgabe und ist empört, weil er erklären muss, warum er Schelllackplatten in Uruguay kauft. „Was geht Sie das an?“ raunzt er. Der Beamte erklärt ihm, dass sich die Höhe der Zollgebühr danach richtet, ob er ein Geschäft mit den Platten mache oder sie für private Zwecke erworben hat. „Private Zwecke“, sagt der Mann in der orangefarbenen Lederjacke und wendet sich wütend von dem Zöllner ab, den Wartenden zu, die hinter ihm von einem Bein aufs andere treten. Sie stehen zwar in einigen Abstand hinter einer aufgemalten Diskretionslinie, aber die aufgebrachten Dialoge am Tresen kann man auch dahinter mitverfolgen.

Nebenan erklärt ein schüchterner Russe dem Graukittel freundlich, warum seine Frau mit deutschen Pendeln nicht arbeiten kann und ihre Lehrmeisterin in Moskau deshalb gebeten hat, ihr russische Pendel zu schicken.

Die Beamten gleichen sich, nicht nur in der Farbe der Kittel, sondern auch in der Art, wie ihr Kopf etwas steif über dem Kragen sitzt. Ihr Gesichtsausdruck wechselt zwischen der Selbstzufriedenheit, als Arm des Gesetzes zu wirken und dem unterwürfig-entschuldigenden Lächeln dafür, dass ihre Arbeit nicht mehr so recht in die Welt der Globalplayer passt.

„Was soll ich jetzt damit machen?“ Der Zöllner schüttelt das Paket mit den Vitaminen in seinen schmächtigen, grauen Armen. Der junge Amerikaner ist dem Zöllner sympathisch. Ganz offensichtlich braucht er die Vitamine, so schmal und fahrig und blass, wie er vor dem Tresen tänzelt, die Augen hinter der Brille vor Schreck weit aufgerissen. Die Einfuhr von Medikamenten, auch von harmlosen Vitaminpillen, ist verboten. „Geben Sie es mir doch einfach“, antwortet der junge Amerikaner. Aber das bringt der Beamte nicht fertig. Er darf nicht. Er ist machtlos gegen die Zollbestimmungen. Der junge Mann stürmt wütend aus dem Amt. Ohne Vitamine. Der Zöllner sackt ein Stück in sich zusammen. Er trägt das Paket nach hinten. Heute Abend werden die Vitamine entsorgt, zusammen mit den Viagra-Paketen.

Ein Koffer voller Hüte: Vom Leichtsinn des Geldausgebens

Berliner Zeitung

Berliner Zeitung vom 8. September 2007

Karla hat kein Geld. Wieder einmal muss ich ihre Limonade bezahlen. Wenn ich mit Karla im Grashüpfer verabredet bin, kann ich darauf warten, dass sie irgendwann mit beiden Händen an die Taschen ihrer Jeans greift, mich mit runden Augen erschrocken ansieht und sagt: „So was blödes – ich habe mein Geld vergessen.“

Ich frage mich, wie Karla tickt. Ich vergesse Eintrittskarten, mein Telefon, Geheimzahlen und Namen, aber niemals Geld. So sehr ich mich auch anstrenge. Es muss wundervoll sein, Geld einfach vergessen zu können. Geld ist mein Feind. Er ist allgegenwärtig. Er hat mich umzingelt und rückt täglich weiter gegen mich vor. Aber ich gebe den Kampf nicht auf. Schließlich bin ich im Zeichen des Löwen geboren.

„Man kann Geld nicht vergessen“, knirsche ich. Karla ist beleidigt. „Du glaubst also, ich lüge dich an.“ Sofort tut es mir leid. Ich entschuldige mich. „Wahrscheinlich gehörst du zu den wenigen, glücklichen Frauen, die Geld deshalb vergessen können, weil sie sich einen reichen Mann geangelt haben“, sage ich schnell. Das macht die Sache noch schlimmer. Karla will gehen. „Es war nicht böse gemeint. Ehrlich. Ich bin doch nur neidisch.“ „Ich zahle dir alle Limonaden zurück“, faucht Karla. Ich starre auf die grünen Farbfladen, die von dem Gartentisch abblättern. Karla sagt, sie habe es satt, sich ständig dafür zu rechtfertigen, dass ihr Mann ein normales Einkommen hat. „Ich kann nichts dafür“, schwört sie. „Außerdem habe ich nichts davon. Er ist nämlich geizig.“

Ich zähle die Münzen in meinem Portemonnaie. Sie reichen gerade noch für zwei Limonaden. Bleiben noch ein paar Centstücke für die Bettler. Ich stecke sie in meine Hosentasche. Jetzt verstehe ich, was die anderen meinen, wenn sie sagen, Geld zerstöre die besten Freundschaften. Wenn möglich, vermeide ich den direkten Kontakt mit Geld. Geld ist mir unheimlich. Es ist der einzige Stoff, der sich in Luft auflösen kann, ohne das wenigstens eine Restsubstanz bleibt. Geld bewegt sich außerhalb der Naturgesetze.

Ich bevorzuge Karten. Karten sind elastisch und stabil. Sie ändern nicht einmal die Farbe. Karten sind konstant. Man steckt sie in einen Schlitz, zieht sie wieder heraus und hat bezahlt. So einfach. Karten suggerieren, dass es Geld in Wirklichkeit gar nicht gibt. Der Feind ist nichts als eine virtuelle Größe, eine Zahl, die auf dem Kontoauszug hin und wieder die Seite wechselt.

„Du bist leichtsinnig. Eine Grille“, sagt Antoine. Er meint die Künstler-Grille aus der Fabel, die kurz vor Weihnachten die Ameise um einen zinsfreien Kredit anbettelt. Antoine zahlt nie mit Karten. Trotzdem ist er mein liebster Verbündeter im Kampf gegen das Geld. Wie er das Wort „Grille“ ausspricht, schillert es wie eine Libelle in der Sonne. Limonaden und Eis kann man nicht mit Karten bezahlen. Im Grashüpfer sind sie ganz versessen auf Bargeld. Bettler, Bananenhändler und Taxifahrer – alle wollen klingende Münze. Es gibt Tee – und Buchläden, in denen man wie ein Betrüger angeschaut wird, wenn man eine Karte über die Ladentafel reicht. Aber ich bin sicher, dass immer mehr Menschen wie ich mit einer Bargeld-Phobie zu kämpfen haben.

Die Maschine für die Kontoauszüge rattert so laut, dass das Foyer der Bank vibriert. Das Wort „Rädern“ fällt mir ein, eine mittelalterliche Hinrichtungsmethode, bei der die Leiber der Verurteilten mittels riesiger Wagenräder zermartert wurden. Ich spüre die tausend Spitzen des Nadeldruckers meine Haut durchdringen, Pixel, die sich zu einer Zahl formieren – mein Kontostand. Meine Hände schwitzen. Hinter mir bildet sich eine Schlange. Die Tortur nimmt kein Ende, weil ich ständig mit Karten bezahle und dann wochenlang so tue, als gäbe es die Soll-Seite meines Kontos nicht, auf der mein Einkommen verdunstet, sobald es dort unten aufschlägt.

Manchmal ruft der Bankangestellte an und fragt, ob er mir helfen kann. Dann weiß ich, dass jede Hilfe zu spät kommt. Ich erfinde Zahlungen, die in den nächsten Tagen eintreffen. Ich beruhige den Banker. Ich tröste ihn. Ich sage ihm, dass er sich um mich bloß keine Sorgen machen soll. „Bitte entnehmen Sie die Ausdrucke. Es folgen weitere.“ Der Kasten wird von den Vergehen der letzten Wochen hin und her geschüttelt. So muss sich das jüngste Gericht anfühlen. War der Lippenstift wirklich nötig? Und wieder bin ich in Friedrichshain, Kreuzberg und Mitte vom rechten Weg in diverse Bekleidungsgeschäfte abgekommen und der Versuchung erlegen. Und die Bücher? Warum, zum Teufel, kann ich nicht auf die Taschenbuchausgaben warten?

Solange es möglich ist, mit weniger als nichts zu bezahlen, geht das Leben weiter, sobald ich den ratternden Beichtstuhl in der Bank hinter mir gelassen habe und wieder durch die Straßen und Läden treibe. Schließlich zahlt die ganze Welt mit weniger als nichts. Auch in diesem Punkt ist Berlin der ganzen Welt eine Nasenlänge voraus. Schulden gehören hier dazu. Außerdem trifft man nirgendwo so viele Menschen, die ohne festes Einkommen ihr Dasein sichern, wie in Berlin. Straßenmusikanten, Jongleure, Scheibenputzer, die Verkäufer von „Motz“ und „Straßenfeger“ und den vielen Überlebensblättern, mit denen man inzwischen einen ganzen Kiosk füllen könnte. Diese Idee gefällt mir. Ich habe die Vision einer Gesellschaft, die auf der Straße lebt. „Ist schwierig in Deutschland“, sagt ein Freund, der schon in vielen Teilen der Welt gelebt hat. Er erscheint mir ausreichend unkonventionell, eine Gesellschaft auf der Straße mit zu begründen. „Ist zu kalt hier. Wir werden erfrieren“, sagt er. Obwohl er nicht auf der Straße leben muss, verlässt er Berlin bald wieder und zieht in eine wärmere Gegend.

Zum Glück ist Antoine hier. Unsere Strategien sind zwar verschieden, weil wir von verschiedenen Kulturen geprägt sind, doch wir ergänzen uns hervorragend. Wo ich ängstlich werde, bleibt Antoine souverän. Wenn seine Nerven blank liegen, bin ich gelassen. Antoine verliert Geld. Es rieselt aus seinen Hemden, Hosenbeinen und Socken. Er lässt die Münzen auf dem Fußboden seiner Wohnung liegen. Auf seinem Schreibtisch sammeln sich Häufchen versehentlich in die Wäsche geratener Kassenbons und Rechnungen, zusammen gepappt und unleserlich. Manchmal klemmt ein Geldschein dazwischen. „Ist doch nur Geld“, sagt Antoine. Ich führe niemals mehr als einen Geldscheinen bei mir. Diesen beobachte ich argwöhnisch, bis er zerlegt ist.

Wenn ich vergeblich auf eine Zahlung warte, schreibe ich eine erste, später eine zweite Mahnung. Wenn die zwei Mahnungen nicht helfen, gehe ich zum Gericht. Die düsteren Gänge des Mahngerichts sind mir inzwischen vertraut. Die brummigen Anweisungen der Beamten verstehe ich inzwischen schon beim ersten Mal. Ich kenne alle türkischen Bäcker rings um das Gerichtsgebäude, die Mahnbescheide verkaufen. „Einen Tee, zwei Baklava und einen Mahnbescheid bitte.“

Wenn Antoine sein Geld nicht bekommt, beginnt er zu klagen. Er beklagt sein Leben und die ganze Welt. Wochenlang. Ich habe Angst, dass er sich etwas antut. „Warum schreibst du keine Mahnung?“, sage ich. „Warum nimmst du dir keinen Anwalt?“ Antoine seufzt nur. Dann führt er ein langes Telefongespräch mit seinem säumigen Geschäftspartner. Er sagt, dass er seit Wochen nicht mehr schlafen könne, weil das Geld noch nicht da ist. Er sagt, er würde gern mit seiner Freundin in eine gemeinsame Wohnung ziehen und brauche das Geld für neue Möbel. „Was erzählst du da?“, frage ich in sein Telefonat. Wir haben niemals über eine gemeinsame Wohnung gesprochen. Antoine zwinkert, grinst und legt den Finger an die Lippen. Er sagt, er habe seinem Sohn ein neues Fahrrad versprochen. Und in vier Monaten sei schon wieder Weihnachten. Der andere hört sich alles geduldig an und erklärt dann, dass seine drei Kinder gerade in der Ausbildung steckten und eines seiner zwei Häuser dringend ein neues Dach brauche. Antoine schlägt vor zu tauschen. Er könne ja zur Abwechslung mal in einer popligen Berliner Mietwohnung leben. Ob ihm überhaupt klar wäre, dass er auf seine, Antoines, Kosten so wohlhabend geworden sei, während er, Antoine, nicht einmal ein kleines Appartement für sich und seine Frau in Berlin kaufen könne. Der andere entgegnet, Antoine solle sich bloß nicht wünschen, Hausbesitzer zu sein. Es sei ja alles so teuer geworden. Das Dach bereite ihm Magenschmerzen. So geht das hin und her. Im Laufe des Gespräches tauchen noch ein uneheliches Kind, ein arbeitsloser Bruder, ein kranker Hund und ein Neffe, dessen Haus überschwemmt wurde, auf. Am Ende handeln sie eine Zahlung aus, einen Kompromiss.

Ich frage mich, wieso sie nicht schneller auf den Punkt kommen. Bis ich verstehe, dass es sich um ein Kriegsritual handelt. Man spielt mit dem Feind Katz und Maus. Man schubst ihn hin und her, beißt zu und tut dann wieder so, als ließe man ihn laufen. Der Feind ist das Geld. Sie beweisen ihre Überlegenheit, in dem sie selbst darüber entscheiden, was sie mit ihm anstellen werden. Sie sind keine Gegner. Sie sind Verbündete im Kampf gegen die Macht des Geldes.

Einmal, als Antoine bei mir über Nacht bleibt, klingelt der Bankangestellte uns morgens aus dem Bett. Antoine lauscht dem Telefongespräch. Er springt aus dem Bett, baut sich vor mir auf und gestikuliert wild. Er schaltet den Lautsprecher ein. Er bekommt einen Schweißausbruch. Er will unbedingt wissen, was auf meinem Konto und in meinem Depot los ist. „Das ist meine Sache“, sage ich. Antoine fängt fürchterlich an zu klagen. „Es ist doch nur Geld“, beruhige ich ihn. Antoine sagt, ich sei so leichtsinnig wie eine ganze Wiese voller Grillen. Ich stelle mir eine Wiese voller Grillen vor, die so zartgrün schillern wie in Antoines Aussprache. Man trifft sie wohl nur am Mittelmeer. Am Mittelmeer müsste es möglich sein, eine Gesellschaft zu gründen, die auf der Straße lebt. Oder am Strand.

Als ich klein war, kamen meine Großeltern an manchen Abenden spät aus der Stadt zurück. Mein Großmutter flüsterte mir dann zu: „Wir waren heute leichtsinnig.“ Sie legte dabei den Finger auf den Mund, was bedeuten sollte, dass es unter uns bleibt. Sie lächelte verschmitzt, als bereitete ihr der Gedanke, Geld für Eis und einen Besuch im Zirkus verschwendet zu haben, mehr Vergnügen als das Eis und der Zirkus selbst. Kichernd präsentierte sie schließlich einen neuen Hut. Wenn Antoine sagt, ich sei leichtsinnig, fühle ich mich wie meine kichernde Großmutter mit dem neuen Hut. Meine Großmutter besaß sehr viele Hüte. Leichtsinn scheint mir eine der besten Waffen gegen das Geld zu sein. Leichtsinn macht schön. Das habe ich von meiner Großmutter gelernt. Hat ja keinen Sinn, sich wegen Geld graue Haare wachsen zu lassen.

Antoine sagt, er könne nicht mit mir leben. Er habe bereits genug Ärger. Ich packe die Hüte meiner Großmutter in einen Koffer und verlasse Berlin. Ich mache mich auf den Weg in den Süden. Dort werde ich mich dem Widerstand der schillernden Grillen anschließen. Berliner Zeitung