Doktor Hoffnung

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In Dresden können Gymnasiasten Esperanto lernen, die Plansprache, die die Welt einmal verbinden sollte. Der Lehrer hat den Traum davon noch nicht aufgegeben und hofft, dass seine Schüler den Kurs durchhalten


© Photo: Stephan Pramme

Doktor Benoît Philippe unterrichtet am Bertolt-Brecht-Gymnasium in Dresden Französisch. Er ist nicht zufrieden. Er findet, dass seine Muttersprache für Schüler in Sachsen nicht wichtiger sein sollte als Sorbisch. Oder Suaheli.

Es ist Montagnachmittag. Herr Philippe wartet vor dem Zimmer 104 auf seine Schüler. Seine schwarze Ledertasche trägt er wie einen Schulranzen auf dem Rücken. Der blau-weiß-rote Sticker auf dem Deckel der Tasche ist schon ziemlich abgegriffen. Doktor Benoît Philippe ist jugendlich schlank, sein kurzer Bart tadellos geschnitten. Ein kleiner, blauer Kragen liegt über dem hellen Wollpullover. Er unterscheidet sich in Gelassenheit und Eleganz erheblich von den anderen Lehrern, die durch die Gänge des modernen Gymnasiums eilen.

Felix, Vivien, Sophie und Carolin aus der Achten treffen zuerst ein. „Saluton“, begrüßt Herr Philippe die Schüler. „Saluton“, grüßen sie zurück. Ein paar Minuten später kommen Janek und Pia aus der Siebten. Der Esperanto-Unterricht kann beginnen.

Der Lehrer rückt vier Tische für die kleine Gruppe zusammen. Er schreibt Worte an die Tafel, deren Endungen die Schüler vervollständigen sollen. Das ist einfach, denn in Esperanto endet jedes Substantiv/Einzahl auf „o“ und jedes Adjektiv auf „a“. Deshalb erinnert die Sprache immer ein wenig an spanisch, obwohl ihr Wortschatz aus vielen europäischen Sprachen stammt. „Vi bone lernis“ – du hast das gut gelernt, lobt der Lehrer, als Vivien einen Satz aus den Wörtern bildet. Vivien ist gegen den Willen ihrer Eltern zu den ersten Esperanto-Lektionen gekommen. Ihre Eltern, sie sind beide Lehrer, finden die Sprache sinnlos. So wie Viviens Eltern denken viele: Warum eine Sprache lernen, in der man in keinem Hotel der Welt ein Frühstück aufs Zimmer bestellen kann? Aber Vivien ist neugierig auf die Sprache, von der Herr Philippe sagt, dass sie sich schneller als Englisch und Französisch lernen lässt. Vielleicht taugt sie als Geheimsprache. Felix lernt Esperanto, um in Französisch besser voran zu kommen. Denn ihr Lehrer, Herr Philippe, hat ihnen gesagt, dass Esperanto eine gute Grundlage für jede europäische Sprache ist. Sophie möchte Dolmetscherin werden. Als zweite Weltsprache kann sie sich Esperanto nicht vorstellen. „Ich könnte niemanden im Internet auf Esperanto anquatschen.“  Pia fällt auf in der Gruppe. Sie ist ein Mädchen mit einem blassen Gesicht und großen, braunen Augen, die nachdenklich und distanziert schauen. Zugleich ist sie sehr präsent. Auch sie möchte später einen Beruf haben, in dem sie Sprachen braucht wie ihre Mutter, die kürzlich beruflich in Afrika zu tun hatte. Pia hat sich ihre Gedanken gemacht über Esperanto, die vor allem als gerecht geltende Kunstsprache. „Da kommt ja so viel aus dem Polnischen.“ Das haben vielleicht ihre Eltern behauptet, die kein Esperanto sprechen. Im Esperanto bündeln sich Einflüsse aus allen europäischen Sprachgruppen. Trotzdem sind Pias Bedenken richtig. Für einen jungen Kosmopoliten bleibt es eine ungerechte, weil europäische Sprache. „Englisch ist irgendwie cooler“, sagt Pia.

Doktor Philippe fürchtet, dass die Schüler aufgeben. Der Kurs ist im letzten Jahr von fünfzehn auf sieben Schüler geschrumpft. Zwar haben in seinen Esperanto-Kursen, anders als in den Spanisch – und Italienisch-AGs, immer einige Schüler bis zum darauffolgenden Jahr durchgehalten, weil sie weniger schnell entmutigt waren, aber schließlich haben die Jugendlichen um diese Zeit schon einen langen Schultag hinter sich. Und er darf keine Zensuren geben. Die leichte Kunstsprache hilft den Schülern also nicht einmal, ihren Abi-Durchschnitt zu heben.

In Deutschland ist Esperanto als Schulfach nicht zugelassen. In Großbritannien, Norwegen, Polen, Ungarn, Bulgarien, Italien, Österreich, Bosnien, den USA, China, Neuseeland und vielen weiteren Staaten ist die Plansprache anderen Fremdsprachen gleichgestellt. Dort werden Lehrer für den Esperanto-Unterricht ausgebildet. Benoît Philippe hat 1980 einen Abschluss als Esperanto-Lehrer in Varna gemacht.

Esperanto sei zweckmäßig und gerecht, argumentiert er. Er zählt die Erfolge seiner Esperantogruppe auf und hält sie gegen die miserablen Französischkenntnisse der Schüler im Allgemeinen. Französisch stehe nur zur Abschreckung auf dem Lehrplan, damit die Schüler sich für das leichtere Englisch entscheiden, sagt er. Zwei, drei senkrechte Falten bilden sich zwischen seinen blauen Augen auf der sonst glatten Stirn. Dann winkt er ab. „Das ist natürlich Unsinn, aber manchmal habe ich solche Ideen.“

Esperanto ist für diesen Lehrer nicht nur ein Argument. Es ist eine Leidenschaft. Er entdeckte die Sprache als Student in Freiburg, im Disput mit einem Freund, der Philippes zunächst ablehnende Haltung mit den Worten konterte: „Du weißt nicht, wovon du sprichst.“ Das habe ihn überzeugt. Seine Begeisterung wuchs mit dem Lernen. Die Dissertation -er studierte Romanistik und Philologie- schrieb er über die Entwicklung der Plansprache. Sein Professor, ebenfalls ein Romanist, hatte keine Mühe, die Sprachbeispiele zu verstehen. Seit vielen Jahren schreibt Benoît Philippe Gedichte in Esperanto. Er gibt eine Zeitschrift heraus und sammelt Literatur.

„Es hat vielleicht mit meiner Geschichte zu tun, dass ich so offen war für die Idee einer gerechten Sprache“, sagt er. „Meine Familie kommt aus dem Elsass, wo abwechselnd Deutsch und Französisch verboten waren, je nachdem, wer gerade an der Macht war.“ Als sein Großvater in den ersten Weltkrieg zog, verließ er ein deutsches Dorf und kehrte heim in ein französisches. Die Eltern wurden während der Annexion durch Hitler in ihrer Kindheit gezwungen, Deutsch zu sprechen. Nach 1945 war die Sprache der Nazis im Elsass unerwünscht.

Benoît Philippe wurde in Baden-Baden geboren. Er wuchs in einer Siedlung für die französischen Besatzer auf. Sein Vater arbeitete dort als Lehrer. „Wir nannten diese Siedlung ‚das Ghetto’, erzählt er. „Das war kein Frankreich. Das war kein Deutschland. Das war…“ Er schaut sich im Schulhaus nach einem Vergleich um. Sein Blick fällt in den verwahrlosten Lichthof im Zentrum des Gebäudes, gleich neben Zimmer 104. „Das war wie auf dem Mond. Die Militärs und ihre Familien blieben maximal drei Jahre. Ich war neidisch auf meine Mitschüler, weil sie wieder gehen konnten. Sie gingen an Orte, die so wunderbare Namen hatten wie Bordeaux oder Marseille. Wenn wir zu Beginn des Schuljahres die Formulare ausfüllen mussten, deckte ich meinen Geburtsort zu. Ich war der Boche, der schmutzige Deutsche.“

Ludwig Zamenhof, der Erfinder des Esperanto, wurde einhundert Jahre vor Benoît Philippe geboren, im Dezember 1859. Er wuchs in der Stadt Białystok an der Grenze des Russischen Reiches auf. Heute liegt Białystok in Polen. Als Ludwig Zamenhof ein kleiner, jüdischer Junge war, wurde in der Stadt Jiddisch, Polnisch, Russisch, Litauisch und Deutsch gesprochen. Ludwig Zamenhof führte die Feindschaft unter den Völkern auf ihre verschiedenen Sprachen zurück. Zamenhof wurde Augenarzt. Er sprach mehrere Sprachen. Mindestens ein Wörterbuch muss er immer unter seinem Arztkittel versteckt haben, das hebräische, lateinische oder griechische. Er wollte den Sprachen an die Wurzel gehen. 1887 veröffentlichte er unter dem Pseudonym „Doktor Esperanto“ –Esperanto bedeutet „Der Hoffende“ – seinen Entwurf einer Lingvo Internacia. Doktor Esperanto war nicht angetreten, die Sprachen der Völker zu verdrängen, sondern sie zu erhalten. Keine Sprache sollte in ihrer Bedeutung über die andere erhoben werden. Esperanto war als Brücke der Verständigung gedacht. Der jüdische Augenarzt hatte eine politische Bewegung ins Leben gerufen.

Die Idee fand schnell Anhänger. Zeitschriften entstanden, Kongresse wurden organisiert. Dresden hat eine reiche Esperanto-Geschichte. 1908 fand hier der Weltkongress der Esperantisten statt. Die Esperanto-Schriftstellerin Marie Hankel lebte in der Stadt. Heinrich Arnold, Sohn des Kunstmäzen und Bankiers Georg Arnold, an den in Dresden noch heute ein Bad erinnert, engagierte sich für die Verbreitung der Plansprache. Er schrieb das Vorwort für die Esperanto-Ausgabe des Buches „Die Waffen nieder!“ von Bertha von Suttner, mit der er auch befreundet war. Zeitgenossen berichten, dass er auf seiner Strandburg an der Ostsee die grüne Flagge der Bewegung hisste. In den Zwanzigerjahren lernten sogar die Dresdner Polizisten Esperanto, um für den Fremdenverkehr gerüstet zu sein.

Die Nazis verboten die pazifistische Sprache. In der DDR wurden erst wieder Mitte der Sechzigerjahre, nach dem Ende der Stalinzeit, Kurse an Volkshochschulen und in Betrieben angeboten.

Heute ist von dem einstigen Enthusiasmus nichts mehr in der Stadt zu spüren. Es gibt einen Stammtisch und einen Freundeskreis Esperanto, den der Leiter des Dresdner Esperanto-Archivs ins Leben gerufen hat. Zwei Lehrer fallen Benoît Philippe ein, die wie er Esperanto in Dresden und dem Umland unterrichten.

Die Weltsprache ist Esperanto eben nicht geworden. Man schätzt, dass es fünf Millionen Sprecher weltweit gibt, genaue Zahlen sind nicht bekannt. Die Schätzung beruht auf einem Vergleich der Wikipedia-Einträge auf Esperanto mit denen anderer Sprachen.  So betrachtet, liegt Esperanto irgendwo zwischen Dänemark und Litauen. In Litauen leben über drei Millionen, in Dänemark zirka fünf Millionen Menschen. Die aktiveren Esperanto-Gruppen findet man in den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Es sind junge Intellektuelle, die in der Geburtsstadt Zamenhofs den Fernsehsender Bjalistoko Esperanto betreiben.

Esperanto ist heute zu einem Sprachsport geworden, ausgeübt von Sprachbegabten bei regionalen und weltweiten Treffen. Doch was motiviert zum Lernen? Esperanto hat keine Landschaft, kein Haus, kein Lied. Benoît Philippe würde sagen: Esperanto hat alle Landschaften, alle Häuser alle Lieder. Doch das läuft auf dasselbe hinaus. Die Entscheidung für eine Sprache erfolgt aus Notwendigkeit oder Liebe. Es ist heute nicht notwendig, Esperanto zu lernen. Wen oder was lieben Menschen, die sich für Esperanto entscheiden? Eine Idee? Ein Spiel?

Jonne Saleva ist ein Austauschschüler aus Rovaniemi, der Hauptstadt Lapplands. Er ist siebzehn Jahre alt. In seiner Muttersprache spricht man das „o“ in seinem Namen weder kurz noch lang. Man hält das „o“ ein wenig, man schaukelt es wie ein Baby, bis der Name eine kleine, unbekannte Melodie erzeugt, die es sonst in keiner anderen europäischen Sprache gibt. Man muss das üben. Es hilft, sich einen dunklen Wintertag in Lappland dabei vorzustellen. Es hilft, sich ein Haus in das verschneite, flache Land zu denken und darin ein Feuer.

„Es war komisch, allein Esperanto  zu lernen, ohne zu wissen, wofür“, erzählt Jonne. Sein Deutsch hat einen starken sächsischen Einschlag. Er hat die Besonderheiten dieses Dialekts längst analysiert. „In Lappland gibt es nur zwei Leute, die Esperanto sprechen: Mein Lehrer Pekka und ich. Eines Tages rief Pekka an und sagte, dass sein Freund aus Japan da sei. Dieser Japaner sprach nur Japanisch und Esperanto. Es war das erste Mal, dass ich jemanden traf, mit dem ich mich nur auf Esperanto verständigen konnte. Das war großartig.“

Zum zweiten Mal besucht Jonne den Stammtisch der Dresdner Esperantisten. Benoît Philippe organisiert die Treffen im „Neustädter Diechl“, einem Restaurant in der Äußeren Neustadt, dem Szeneviertel Dresdens. Überwiegend ältere Herren sind um die Tafel versammelt. Als Jonne gegen neun Uhr im Gastraum sein Hütchen lüftet und die graue Filzjacke auf das Kanapee wirft, machen sich die ersten Besucher bereits auf den Heimweg.

Die meisten der Akademiker beherrschen wie Jonne zwei oder mehr Sprachen perfekt. Ein stämmiger Lateinlehrer mit dunklen Haaren und breiten Hosenträgern spricht fließend Spanisch, Russisch und Arabisch. Jetzt lernt er Chinesisch und unterrichtet das auch schon an seiner Schule. Sein Tischnachbar hat in der DDR Ökonomie studiert. Seit vielen Jahren ist er arbeitslos. Langeweile hat er nicht. Er übersetzt Computerprogramme ins Nieder – und Obersorbische. „Um die Sprachen zu pflegen“, sagt er.

Ein buntes Hündchen mit spitzer Nase wedelt um den Tisch, wenn wieder ein knuspriges Bauernfrühstück oder ein Schnitzel serviert wird. In dieser Runde passiert es, dass die Männer aus dem Esperanto heraus ins Sächsische fallen. Je weiter sie von Benoît Philippe entfernt sitzen, desto ausgiebiger. Mi krokodilas – ich krokodiliere, sagen Esperantisten, wenn sie miteinander in ihrer Landessprache sprechen. An diesem Abend kämpft Benoît Philippe nicht allein gegen das Krokodilieren. Sein langjähriger Freund Hubert Schweizer, ein Heilpraktiker und altkatholischer Priester, sitzt am anderen Ende des Tisches. Die beiden achten darauf, dass am Tisch nicht wieder von der Aufgabe des Abends abgewichen wird. Doktor Philippe hat eine Liste mit Wörtern vorbereitet, für die es noch keine Entsprechung auf Esperanto gibt, das Wort „piercing“ beispielsweise. „Korpo traboraga“, lautet ein Vorschlag, der durchbohrte Körper, „pikornamo“ ein anderer, Stechschmuck. Man plaudert über die Traditionen des Piercing auf anderen Kontinenten, -es scheint ein spaßiges Thema zu sein- und diskutiert, ob eher das Verb bohren oder pieken zutrifft. Die erarbeiteten Übersetzungs-Vorschläge schickt Benoît Philippe nach Leipzig, an den Herausgeber des Wörterbuch Deutsch-Esperanto, Professor Erich-Dieter Krause. Um die Auflage des Werkes wird ein kleines Geheimnis gemacht. Der Verlag will nur verraten, dass sie irgendwo zwischen 1000 und 3500 Exemplaren liegt. Eine ähnliche Zahl liest man auch über den Weltbund der Esperantisten: 1300 Deutsche sind dort als Mitglieder erfasst.

Am nächsten Montag wartet Doktor Philippe wieder vor Zimmer 104 auf seine Schüler. Jonne steht neben ihm und knetet seinen Hut. Fast alle kommen, um den Gast aus Lappland kennenzulernen: Sophie, Vivien, Felix, Carolin und Janek. Jonne soll etwas über seinen Alltag in Finnland erzählen. Doktor Philippe hat bereits eine Finnland-Karte aus dem Geographie-Kabinett geholt. Pia hat abgesagt. Sie muss zur Orchesterprobe. Sie denkt sowieso darüber nach, die AG aufzugeben. Sie möchte sich stärker auf Englisch konzentrieren.

Zielfahnder: Auf der Suche nach der Tupperdose

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In seiner freien Zeit streift Timo durch die Gegend, um an schwer zugänglichen Orten versteckte Mitteilungen zu finden. Er ist ein Geocacher. Er bevorzugt Schwierigkeitsstufe 5, die gefährlichste. 

© Photo: Stephan Pramme

Timo sucht das Codewort. Er ist nicht wegen der morbiden Schönheit des Gebäudes hier.

Timo Schygulla, 27 Jahre, aus Berlin-Reinickendorf, ist gekleidet und ausgerüstet wie für eine Expedition auf einen unbekannten Kontinent. Dabei streift er nur durch Brandenburger Land. Er trägt feste Schuhe und eine Hose mit vielen Taschen, in denen er seine Ausrüstungsgegenstände, GPS-Gerät, Telefon, Taschenlampe, Spiegel und feuerfeste Handschuhe, unterbringen kann. In seinem Rucksack stecken ein Wasserbeutel, aus dem er sich über einen Schlauch direkt bedient, und eine Kletter ausrüstung. Timo ist Geocacher. Er ist auf der Suche nach dem »Cache«, dem Versteck.

Geocaching ist ein relativ neuer Zeitvertreib. Gerade erlebt es einen Boom. Call-Center-Angestellte, Wissenschaftler, Verkäuferinnen, Informatiker, Rentner und Schüler sind unterwegs, um Tupperdosen in die Landschaft zu legen, mit einem Logbuch darin, in das der Finder seinen Namen und einen hübschen Spruch schreiben kann. Außer einem GPS-Gerät braucht man das Internet. Unter der Adresse www.geocaching.com werden die Koordinaten der Verstecke veröffentlicht. Dort wird auch registriert, wie oft jedes Versteck gefunden wurde und von wem. Daraus folgt das Punkte-Ranking der erfolgreichsten Cacher landes- oder weltweit. 860 000 Dosen, von fingerkuppenkleinen »Nanos« bis zu Munitionskisten, liegen auf allen fünf Kontinenten der Erde, einschließlich der Antarktis. Es ist allerdings anzunehmen, dass der prozentuale Anteil der Geocacher in Deutschland höher ist als beispielsweise in Patagonien. Genaue Zahlen gibt es aber nicht. Etwa 500 Geocacher streifen beispielsweise durch den Berliner Raum, schätzen Insider. Kaum noch eine Straße in der City, in der nicht unter einer Parkbank oder in einem Telefonhäuschen eine Dose klebt. Solche einfachen Verstecke sind aber nur der Anfang. »Multicaches« führen über mehrere knifflige Stationen zur Ziel-Dose, von den Cachern »Final« genannt. Der Ort, den Timo heute sucht, liegt 52 Grad, 15 Minuten und 704 Milliminuten nördlicher Breite und 12 Grad, 55 Minuten und 482 Milliminuten östlicher Länge.

Wir stehen vor der Ruine des Chirurgie-Pavillons einer ehemaligen Lungenheilstätte, im Flügel der Frauen. »Vom Eingang müssen wir 300 Meter peilen, direkt in die Mitte des Gebäudes«, sagt Timo. Unsere Schritte knirschen über Schutt und Glas. Ein langer Kreuzgang führt auf das Skelett einer zweiflügeligen, halbrunden Tür zu. Es zieht gewaltig, denn sämtliche Fenster sind zerbrochen. Links des Ganges gehen die ehemaligen Krankenzimmer ab. Die Türen wurden entfernt, weggetragen, wahrscheinlich waren sie schön, wie die Flügeltür am Ende, wie die leeren Fensterrahmen zum Park, deren Anstrich in so filigranen Blättchen vom Untergrund bricht, dass es wie ein Muster wirkt, wie feine Spitze. Die Gebäude wurden im 19. Jahrhundert gebaut. Beelitz-Heilstätten, das Sanatorium, rund 60 Kilometer südwestlich von Berlin, ist ein architektonisches und technisches Meisterwerk seiner Zeit. Nach 300 Metern befinden wir uns kurz hinter der Flügeltür, vor einem leeren Aufzugsschacht. Das Eisengitter rostet, gilbt, grünt. Der Verfall wirkt wie inszeniert. Nur noch Fragmente des geschmiedeten Geländers um den Aufzugsschacht, Blüten, Blätter und gedrehte Stäbe, sind geblieben. Sie wurden zersägt und abgebrochen. Der Aufzug hängt zwei Stock werke höher, eingerostet, wie für die Ewigkeit.

»Wichtig ist eine gute Story«, sagt Timo. Er führt Taschenlampe und Spiegel durch Entlüftungs- und Heizungsschächte und über offen liegende Rohre, um einen Hinweis auf Heinrich zu finden, der in einem der Pavillons von Beelitz-Heilstätten verloren gegangen ist. So weit die Story. Barbie & Bruettler haben den Multicache in Beelitz-Heilstätten gelegt. Geocacher arbeiten mit »Nicknames«. Timos Deckname lautet »Ultralist«. Auf www.geocaching.com ist zu lesen, dass Barbie & Bruettler in Kassel leben und seit 2006 knapp 4000 Funde gemacht haben, meist in hohen Schwierigkeitsstufen. Das Foto im Nutzerprofil zeigt eine rothaarige Schaufensterpuppe in Seidenwäsche. In einem nostalgischen Spiegel neben ihr ist der nackte Oberkörper des dazu gehörenden Schaufenstermannes zu sehen.

Nach 20 Minuten Suche schiebt sich ein Satz, mit schwarzem Edding auf ein Rohr geschrieben, in Timos Spiegel: »Woher kommt das viele Licht? Bin ich etwa noch im grünen OP? Heinrich.« Die Suche nach dem grünen OP führt durch mehrere zugige Gänge, von denen ehemalige Bäder, Toiletten und Krankenzimmer abgehen. »Ein lauschiges Plätzchen zum Vögeln« hat jemand auf die weißen Kacheln über ein Sofa gesprüht, das so aussieht, als hätte es schon mehrere Landregen aufgesogen. Das Dach des Gebäudes ist längst nicht mehr dicht. »In der Bildersafari für den großen Multi ist dieses Bild mit drauf«, sagt Timo. »Allerdings nur als Ablenkung.«

Auf keinen Fall möchte Timo sich ablenken lassen. Er nimmt die Besonderheit dieses Ortes zwar wahr, das Blut auf den blauen und rosa Kacheln, die ausgequetschten Ketchup-Flaschen in den Pfützen auf dem Betonboden, das verrostete Metallbett unter der altertümlichen OP-Lampe mit den blinden Augen, doch anders als die Fotografen und Filmleute, die in Beelitz-Heilstätten das Interieur des Schauders suchen, genießt Timo die besondere Herausforderung seines Caches. Nur das. Schwierigkeitsstufe fünf. Die höchste. Die Symbole auf der Web- site, ein Totenkopf, eine Kletterwand und eine Taschenlampe, sind die Indikatoren der Verstecke, die ihn interessieren. Wie die Figur in einem Computerspiel bewegt er sich in dem alten Krankenhaus. Glatt. Geschickt.

Timo ist Wirtschaftsingenieur, spezialisiert auf Multi-Media-Systeme, das heißt, auf die Anwendungen des Web 2.0 und Enterprise 2.0, also Blogs, Foren und Twitter. »Als Wirtschaftsingenieur hat man einerseits das technische Know-how und andererseits BWL«, erklärt er. Sein Studium hat er er folgreich abgeschlossen. Kürzlich hatte er ein Bewerbungsgespräch bei der Telekom. Es lief gut. Jetzt bereitet er sich auf die Prüfung im Accessmentcenter vor. Timo strahlt Leichtigkeit aus, die Sicherheit desjenigen, der gewohnt ist, dass ihm die Dinge gelingen. Schwer vorstellbar, dass ihm irgendwo ein peinlicher Satz entwischt. Es gibt Menschen, denen die Welt wie maßgeschneidert sitzt. Timo fährt Mountainbike, er paddelt und trainiert jetzt die Jugendgruppe seines Vereins am Tegeler See. Er löst Sudokus, hört die Nachrichten und geht zur Wahl. Seine Freundin Isabel studiert Mathematik. Geocaching langweilt sie. »Sie findet Finden schön«, sagt Timo. »Aber Suchen nicht.« Bei den Stammtisch-Treffen der Berliner Geocacher bleibt Timo alias »Ultralist« vornehm zurückhaltend. Vereinsmeierei ist ihm zuwider. Er mag keine Bier- und Weinseligkeit. Er ist am Austausch von Fakten interessiert.

Geocacher kommen aus allen Altersgruppen und Schichten der Bevölkerung. Es gibt ganze Familien, die cachen gehen, zum Beispiel der Diplomingenieur »Geolink«, seine Hausfrau »Lupini« und ihre gemeinsame Tochter »Midna«. Die Berliner »Gartenzwerge«, ein blasses, in Schwarz gekleidetes Paar, bezeichnen sich als Genusscacher. Was auch immer sie genießen, der gefährliche Multi in Beelitz- Heilstätten gehört sicher nicht dazu. »Jack Sparrow«, ein älterer Herr, der die Welt bereist und eine sagenhafte Punktezahl gesammelt hat, wird von vielen bewundert. Es gibt den Notarzt, der komplett auf einen Nickname verzichtet und sich einfach Jan Wagner nennt, als hätte er gar keine Lust, auch mal jemand anders zu sein als er selbst, und »Moenk«, den Geo-Informatiker, ein Star der Szene, ein Typ wie Timo: sportlich, sympathisch, klug und schön. Unter www.cachetalk.de betreibt er einen Podcast.

Timo hat die nächste Koordinate gefunden. Sie ist mit roter Farbe auf die Unterseite eines Fensterschenkels geschrieben. Die Spur führt hinaus aus der Chirurgie, durch den Park, zu einer gigantischen Ruine, noch immer im Flügel der Frauen. Die Ruine schiebt sich wie ein Kasten aus dem Park, rechts, links, unten und oben von Bäumen umgeben. Wir trauen zunächst unseren Augen nicht, doch dann bestätigt sich dieser erste wunderliche Eindruck: Im zerstörten oberen Stock werk des Gebäudes wachsen hohe Bäume. Ein Gang, verschüttet mit Holzbalken und Schutt, führt auf eine riesige Halle zu, deren Fenster zerstört sind, deren Fußboden von Steinen und Erde bedeckt ist, als wäre der Wald bereits erfolgreich gegen die Mauern vorgerückt. Die marode Treppe führt durch die Stockwerke hinauf in den Wald. Wie kommt ein kompletter Wald mit Nadeln, Moos, Ebereschen, Ahornbäumen und schlanken Kiefern in den vierten Stock eines Hauses? Die Treppe bricht in Höhe der Ebereschen ab. Timo hat keine Idee, wie der Wald hier rauf kam. Interessiert es ihn? Erstaunt es ihn? Gibt es überhaupt etwas, das ihn staunen macht, ihn entsetzt, auf die Palme bringt? War er jemals richtig wütend? Vertauschte Ziffern in Koordinaten hätten ihn schon verärgert, sagt Timo. Möglicherweise schleuderte die Bombe, die das Gebäude im Zweiten Weltkrieg zerstörte, einige Kilo Erde, ein Samenpaket, durch die Luft. Möglicherweise reichte das dem Wald aus, sich hier oben auszubreiten. Egal. Dieses Wissen wird im Multicache nicht abgefragt, ist also nicht von Belang. Hier kommt es lediglich darauf an, ein Loch im Waldboden zu finden, durch das Timo sein Kletterseil über den darunter liegenden, eisernen Balken der großen Halle fädeln kann. Im grünen Mooslicht der großen Halle, vielleicht ein ehemaliger Turn-, Fest- oder Speisesaal, in dem Vorträge über gesunde Lebensweise gehalten oder Konzerte aufgeführt wurden, legt Timo seinen Klettergurt um, befestigt zwei Reepseile an dem dicken Seil, in die er seine Füße stellt, und klettert wie auf einer mobilen Treppe unters Dach. Leicht sieht das aus. Das sind die Momente, die er an diesem Hobby liebt, Momente, in denen sein besonderes Können gefragt ist. Er muss jetzt nicht mehr suchen. Alle Rätsel sind gelöst. Er ist kurz vor dem Ziel. Er entspannt sich beim Klettern. »Es ist die Heraus forderung an Kopf und Können«, sagt er.

Als Nächstes möchte er gern den Cache auf dem Betonschiff in der Wismarer Bucht lösen. »Ich stelle mir das gut vor. Zuerst musst du da rüber paddeln, dann über die Bordwand klettern und dich drüben wieder abseilen.« Er würde auch gern mal nach Nepal reisen. »Die hohen Berge«, sagt er. »Der K2?« Er schüttelt den Kopf. Keine Extreme. Kein zu großes Risiko. Keine Besessenheit.

Wir finden Heinrich im Keller neben einer Metallkiste mit altem Röntgengerät. Natürlich keineLeiche, kein Skelett. Nur eine Tupperdose mit einem Logbuch drin. Außerdem befinden sich in der Dose ein kleines Spielzeugauto, ein leeres Jojo, ein alter Computerstecker, ein Button mit der Aufschrift »No War« und ein Geo-Coin. Diese Münzen stellen in der Szene einen Sammlerwert dar und werden nicht selten geklaut, weswegen von einigen Coins nur Kopien in Umlauf gegeben werden. Den Besitzer eines Coins kann man anhand der Ziffer über das Internet finden. Die amerikanische Firma www.geocaching.com verkauft die Geo-Coins. Die Hersteller der Münzen müssen an Groundspeak Tantiemen für die Vergabe der Nummern zahlen. Weitere Gewinne erzielt Groundspeak durch die Einnahme aus den Premium-Mitgliedschaften. Premium-Mitglieder zahlen für besondere Service-Leistungen und für die Exklusivität einiger Caches.

Wer war Heinrich? Ein langhaariger Kämpfer für den Frieden? Spielte er Jojo, um sich das Rauchen abzugewöhnen? Liebte er Autos? Wann kaufte er seinen ersten Computer? Barbie & Bruettler, die Erfinder von Heinrich, äußern sich dazu nicht. Das Spiel ist hier zu Ende, die Teile in der Dose sind zufällig. Sie bedeuten nichts.

Einfach, unkompliziert, heiter und bald

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„Mit dem Sommerheft habt Ihr mich mitten ins Herz getroffen, diese Traumwelt…! Bei Kathrin Schrader fühlte ich mich ertappt und seelenverwandt – liegt das am Namen?…“ Kathrin Rochow, Darmstadt 

Jetzt gibt es ein neues Magazin, mit großartigen Texten von Judka Strittmatter, Maxi Leinkauf, Regina Scheer und vielen anderen…

© Illustration Liane Heinze

Einfach, unkompliziert, heiter und bald

Single-Frau trifft Single-Mann; beide haben ihre Obsession

Die Türen der U-Bahn schnappen zu. Das Spiel beginnt. Mit wenigen Blicken erfasse ich die Kandidaten im Wagon, vier, fünf übermüdete Männer, die sich gleichgültig dem Rhythmus der Metro überlassen. Keine schönen Männer. Männer, denen das Leben übel mitspielt, die erst in den Morgenstunden vor dem Fernseher oder neben einer Frau in den erlösenden Schlaf fallen, Männer, die ins Waschbecken pinkeln und sich selten die Zähne putzen.

Nicht immer entscheide ich mich für den unattraktivsten, möglicherweise aber für den, der mich am wenigsten reizt. Es verblüfft mich, Männer zu sehen, von denen nicht die geringste Provokation, kein bisschen Sex, ausgeht.

Jeden Morgen geschieht das Gleiche. Wir beide sind die einzigen Überlebenden des Endes der Welt. Nachdem ich tagelang durch eine verlassene Landschaft geirrt bin, treffe ich ihn. Heute ist es der Mann mit dem geordnet-ernsten Blick und den dünnen Lippen aus der Sitzreihe gegenüber. Seine Brillengläser sind schmal wie die Standart-Versionen von Excel-Zellen. Er trägt spitz nach oben gegeelte Ponyfransen und ein graues Sweatshirt mit ausgebeulten Taschen.

Eines Abends entdecke ich seine gebeugte Silhouette am Horizont. Die Ponyfransen ragen in den Sonnenuntergang. Wir gehen aufeinander zu, betrachten uns misstrauisch. Er macht ein Feuer. Wir braten Fische und vermissen das Salz. Wir tauschen uns knapp darüber aus, was als nächstes zu tun ist. Dann finden wir kein Thema mehr. Logisch. Schon vor dem Ende der Welt hätten wir uns miteinander gelangweilt. Jetzt ist noch viel weniger los.

Ich beobachte den Kandidaten in der Sitzreihe gegenüber aus den Augenwinkeln. Er bemerkt es nicht, döst weiter vor sich hin. Nach wenigen Tagen kommt der Moment, auf den das quälende Spiel hinaus läuft. Wir müssen uns lieben, so verlangt es das Protokoll meiner selbstzerstörerischen Fantasie, denn wir sind ja der letzte Mann und die letzte Frau.

Warum teste ich täglich aufs Neue, ob ich jeden, wirklich jeden, lieben könnte? Manchmal, wenn ich auf dem Bahnsteig stehe, wenn der Tunnel zu donnern beginnt und ein heftiger Wind dem Zug voraus eilt, hoffe ich, dass diesmal kein Kandidat in der Metro sein möge. Vergeblich. Ich fahre auf der falschen Linie.

Kaum draußen an der frischen Morgenluft, rollen attraktive Männer auf Treppen an mir vorüber. Sie stehen im Coffeeshop zum Greifen nah in der Schlange vor und hinter mir. Sie schlendern vorbei und flirten. Sobald Sonne und Wind mich streicheln, bin ich überzeugt, dass es einfach sein wird, unkompliziert, heiter und schon bald.

Meine Freundin Lilo sucht im Internet. Sie klickt sich durch lange Listen, in denen vom Betriebssystem über den Lieblings-Fernsehkoch, die stärksten und schwächsten Chakren bis zur bevorzugten Stellung alle Dinge des täglichen Lebens abgespeichert werden. Dann rechnet der Computer den passenden Mann für sie aus. Bisher hat er noch keinen Kandidaten für Lilo gefunden. Schon wieder dieses Wort: Kandidat. Ist es passend für einen Menschen, den man einmal lieben könnte? Oder bezeichnet es nicht eher Personen, die man im Arbeitsspeicher festhält und weiter sortiert und vergleicht?

Am nächsten Morgen klammert ein schlauchdünner Typ mit Augenschatten an der Haltestange neben der Tür. Ich berge ihn aus einem Trümmerhaufen. Meine Hände sind blutig, meine Schuhe aufgerieben an den Kanten der zerfetzten Steine. Er stützt sich auf mich. So wanken wir ohne ein Wort aus der Stadt. Draußen sinken wir auf eine Wiese. Er liegt auf mir. Er nimmt mir die Luft. Mein Herz rast. Ich gerate in Panik.

Die Psychologin lächelt übergewichtig von ihrem Thron herab, entspannt wie ein Buddha. „Sie sollten prüfen, ob Sie sich durch die Erwartungshaltung der Gesellschaft nicht zu stark belastet fühlen. Ihre Eltern, Kollegen und Freunde gehen davon aus, dass ihr Freund kultiviert und gebildet sein sollte. Aber vielleicht sind Ihnen andere Dinge wichtiger.“

„Welche Dinge?“

„Sexuelle Praktiken, Machtspiele und so weiter.“

„Das könnte ich alles anklicken: Hochschulabschluss, Interesse an Oper und Bondage, gern auch anal…“

Der Buddha gerät für einen Moment ins Wanken. „Und warum klicken Sie nicht?“

„Es ist mir unheimlich, wie ein Stück Pizza aus der Mikrowelle, das innen heiß, aber außen noch kalt ist. Die intimsten Dinge eines Menschen möchte ich nicht wissen, bevor ich ihn getroffen habe. Ich möchte mich von außen nach innen vorarbeiten.“

Als ich die Praxis verlasse, habe ich nicht einmal ein Pillenrezept gegen Zwangsvorstellungen. Solange ich ruhig schlafen kann, sieht die Psychologin keinen Handlungsbedarf.

In der Suppenbar beobachte ich die Leute um mich herum. Ihr Leben scheint völlig normal zu verlaufen. Oder sind es nur die Küchen-Geräusche und das kollektive Kratzen der Löffel auf dem Grund der Schalen, die diesen Eindruck erwecken?

Der Mann neben mir klemmt seit zehn Minuten hinter seiner Zeitung. Ich wollte da auch noch einen Blick rein werfen, bevor meine Pause zu Ende geht. Ich lasse mir mit der Süßkartoffel-Erdnuss-Suppe extra viel Zeit. Der ist bis zu den Knien in die Zeitung gehüllt. Nur einmal, als er umblättert, taucht strubbeliges, blondes Haar dahinter auf. Ich gehe zur Toilette. Er liest immer noch. Ich schreibe eine Karte an Lilo. Die Zeitung kann ich vergessen. Ich räume das Geschirr weg.

In dem Moment, als ich die Bar verlasse und einen Gruß über die Schulter werfe, geschieht es. Die Zeitung sinkt. Sein Gesicht schwebt wie los gelöst darüber. Er strahlt. Dieses Lächeln ist so weit. Es vereint jedes Dorf zwischen Cote d’Azur und Antarktis. Es führt die komplizierte klick-me-or-not-Welt der Singles ad absurdum. Ich sehe eine dunkel gerahmte Brille und eine weiße Zahnreihe. Ich hafte an diesem Gesicht, dessen Auftritt so kurios ist. Wie ein Feuerwerk, das zu früh zündet, schießt mein Lächeln in unbekannte Richtungen. Ich werde rot. Endlich fällt die Tür ins Schloss.

Das Rad meiner Fantasie schnurrt. Bis er die Zeitung zusammen gefaltet und aus der Hand gelegt hat, bis er die Karte an Lilo bemerkt, die ich auf dem Tisch liegen gelassen habe, in den Mantel fährt und mir nachläuft, habe ich mit ihm gekocht und gegessen, eine Nacht in seinen Armen verbracht und ihn im Literatur-Salon als meinen Begleiter vorgestellt.

Seine Mantelschöße wehen wie Tragflächen. Er schwenkt die Karte. „Oh, danke.“ Wir stehen uns gegenüber und lächeln, und können beide nicht damit aufhören. „Bist du morgen wieder hier?“ Er nickt.

„Dann, bis morgen.“

„Bis morgen.“

Ich gehe weiter, stolpere, schaue mich um, ob er es gesehen hat, aber er ist schon fort.

Nur er weiß, wie ich aussehe, wenn mir das Lächeln entgleitet. Ich selbst werde es nie sehen können. Eigentlich ungerecht. Auf den nächsten hundert Metern wälzen wir uns im warmen Sand am Meer. Am Abend im Hotelzimmer erzählen wir uns wieder einmal, wie wir uns kennen gelernt haben. Er sagt: „Ich vergesse nie dein Grinsen, als du die Bar betreten hast.“ Ich sage: „Das war, als ich gegangen bin.“ Er sagt: „Nein, du kamst herein.“ Es ist unser erster Streit.

Plötzlich, in der Drehtür zum Bürogebäude, attraktive Männer in den Glaskammern vor und hinter mir, aber sie sind mir jetzt gleichgültig, erinnere ich mich an den Eindruck, ich spiegele mich in ihm, vorhin auf der Straße. Als hätte ich etwas erkannt, das ich nicht mit Worten benennen kann, über mich. Im Licht durchfluteten Foyer bleibe ich stehen. Satte Leute schleppen sich an mir vorbei zu den Aufzügen und ich stehe in einem Sonnenfleck wie erleuchtet. Es geht nämlich gar nicht um Betriebssysteme, Köche und Chakren. Es geht darum, herauszufinden, wer man ist. Was nur zu zweit möglich ist. Indem man sich in dem anderen spiegelt. Diese Erkenntnis hebt mich an. He Leute, habt ihr das gewusst? möchte ich den verdauenden Menschen im Aufzug zurufen.

Am nächsten Tag löffeln wir unsere Brokkoli-Gorgonzola, als seien wir dazu bestimmt, miteinander Suppe zu essen. Täglich. Wir reden wenig. Ich zwinge mich, meine Erwartungen zu dämpfen. Kann ein Single so unbefangen lächeln? Ist er nicht auf der sicheren Seite? Ich wage nicht zu fragen.

„Noch einen Kaffee?“ Meine Pause ist um. Trotzdem ja. Ich erzähle ihm von meinen U-Bahn-Fantasien. Er klebt an meinen Lippen wie ein kleiner Junge an einem Spielzeugautomaten. Schließlich sagt er: „Ich erlebe etwas ähnliches. In unser Museum kommen manchmal Schulklassen. Die Mädchen wissen nicht, dass ich von der Weltraumbehörde beauftragt bin, mit einer Frau meiner Wahl den Planeten Umathar im Sonnensystem Alpha Maioris zu bevölkern. Ich kann mich zwischen den Mädchen nicht entscheiden. Sie gefallen mir alle nicht. Die Weltraumbehörde droht, den Auftrag an einen anderen Wissenschaftler zu vergeben.“

„Das ist doch…das hast du dir eben ausgedacht. Du machst dich über mich lustig.“

Er legt die rechte Hand aufs Herz. „Aber nein. Ich schwöre. Das… das…kann man sich doch nicht ausdenken.“

Schon wieder breitet sich mein Grinsen wie Wildwuchs aus. Wenn das wahr ist? Ich danke Umathar, der seine Bahnen um Alpha Maioris zieht und für immer und alle Ewigkeiten unbewohnt bleiben wird, weil ich nun weiß, dass er ein emotional ausgehungerter Single ist wie ich.

„Diese Fantasie habe ich oft“, sagt er euphorisch. „Manchmal auch draußen auf der Straße, wenn eine Gruppe durchschnittlicher Frauen auf mich zukommt.“

„Kandidatinnen“, sage ich. Ich nippe an meinem Kaffee und stelle mir vor, wie schrecklich es wäre, eine seiner Kandidatinnen zu sein.

„Was hältst du davon, wenn wir diese Aufbruchs – und Endzeitpläne etwas zurückstellen?“, fragt er.

„An welchen Zeitraum denkst du?“

„Sagen wir…“ Er greift nach der Karte. „…Bis zur Möhren-Mango. Ist morgen im Angebot.“ Er klappt die Karte zusammen.

„Wenn es mir morgen früh in der U-Bahn gelingt, keinen Kandidaten zu wählen, dann…“

„…dann versuchen wir es ab morgen vorläufig für immer.“ Er blickt ernst. Seine Augen sind blaugrau. Um seine Mundwinkel zuckt ein Schmunzeln. Er macht sich über mich lustig. Der Kaffee knirscht in meiner Kehle. Ich werde rot.

„…dann bleibt es mir zukünftig erspart, eine Viertelstunde eher aufzustehen und statt der U-Bahn das Fahrrad zu nehmen, wollte ich sagen.“

„Ich empfehle mich als wirksame Therapie gegen Radtouren.“ Er deutet einen Diener an. Das strubbelige Geflecht seiner Haare ist dicht. Ich habe Lust, hinein zu greifen.

„Danke.“

„Keine Ursache.“

„Und du?“, frage ich.

„Ich schaffe das schon“, sagt er. „Bei mir ist alles noch frisch. Kein Zwang. Ich bin erst vor zwei Monaten von der Weltraumbehörde ausgewählt worden.“

„Das tut mir leid.“

„Es geht schon. Tut nicht mehr weh.“ Er trommelt mit seinen Fingern auf den Tisch.

Ich habe meine Mittagspause gigantisch überzogen. „Ich muss los.“

„Ich habe noch Zeit bis zur nächsten Führung“, sagt er.

„Klärst du das mit der Weltraumbehörde heute schon?“, frage ich.

„Sofort“, sagt er.

„Na dann…“

„Hast du auch nichts vergessen?“ Er schaut unter den Tisch.

„Und wenn schon“, sage ich.

Er hält mir die Tür auf. Mein Lächeln spiegelt sich in seinen Augen, noch unsicher, ob es so einfach, unkompliziert und heiter sein kann. Und schon jetzt.

Treibstoff der Poesie

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Keine Kalorien-Tabelle verrät, wie viel Energie beim Bücherschreiben verbraucht wird. Ernährungsexperten fächern das Spektrum der menschlichen Tätigkeiten in unterschiedlich anstrengende Beschäftigungen wie Fitnesstraining, Autofahren, Hundeausführen und Fernsehen. Die Poesie kommt darin nicht vor.
Der Schriftsteller sitzt am Schreibtisch. Das sieht leicht aus. Von außen wirkt er relativ unbewegt, und solange man ihn nicht anspricht, sogar entspannt.
Er wirkt, als lebte er von Luft und Duft und gelegentlich einer Handvoll Haselnüssen. Die Künstler selbst tun wenig, diesen Irrtum aus der Welt zu schaffen.
Keiner spricht über die Mühen. Eher lakonisch lassen die Dichter die Schwierigkeiten mit den Worten anklingen. Man ahnt den Ringkampf mit der Sprache. Dass er sie häufig vom Monitor weg, in die Defensive in Richtung Küche treibt, dieses Detail des künstlerischen Prozesses halten sie nicht der Rede wert. Eine Nachfrage offenbart pikante Gewohnheiten.
Die Literaturübersetzerin Elina Kritzokat gesteht, dass manche Schreibunterfangen so bedrohlich scheinen, dass sie sich mit einem extra vollen Magen dafür präpariert. »Man lernt ja schon als Baby, dass Sicherheit sich durch Essen einstellt.«
Es kann nicht verkehrt sein, sich derart zu bevorraten, denn immerhin verschlingt der Kopf zwanzig Prozent unseres gesamten Energiebedarfes. Wissenschaftler behaupten zwar, es spiele dabei keine Rolle, ob jemand viel oder wenig denkt. Dichten würde demnach nicht mehr Energie verbrauchen als Briefesortieren.
Dem widersprechen Berichte wie die von Jens Sparschuh. Er sagt: » Das Schreiben macht mich sehr hungrig, mehr als Gartenarbeit.« Vermutlich haben die Wissenschaftler bei ihren Berechnungen die Kunst außen vor gelassen. Kunst lässt sich eben nicht in Kalorien umrechnen. Es ist bekannt, dass kreative Denkprozesse ziemlich viel Dampf im Kopf erzeugen. Doch woher kommt diese Energie?
Jenny Erpenbeck schleicht hin und wieder zu ihrem geheimen Vorrat an Salzlakritz und quitschsauren Gummis. Tamara Bach zerfetzte ihre Lippen mit Salt & Vinegar-Chips, während sie ihre mehrfach preisgekrönten Jugendromane »Marsmädchen« und »Jetzt ist hier« schrieb. Sogar Richard Wagner, der ein äußerst ambivalentes Verhältnis zur Küche hat, sucht diese gelegentlich am Vormittag auf, um sich einige Röllchen einer deftigen italienischen Salami abzuschneiden, wenn er mal nicht weiter weiß.
Poeten brauchen offenbar starke Geschmacksreize. Wie sollten sie auch Werke komprimierten Lebens schaffen, wenn sie sich von blassen Flocken oder Blättern ernährten? Jenny Erpenbeck drückt es so aus: »Manchmal braucht man etwas Physisches, damit die Gedanken kein Übergewicht bekommen.«
Süße, Säure, der Geschmackskick eben, hilft offenbar, die Kopflast auszutarieren, die kreative Lust zu zügeln.
Für die Literatur zerstören die Autoren ihre Zähne, ihre Haut, den Magen und die Arterien. Vielleicht spielte Peter Rühmkorf auf diese Diskrepanz zwischen Kunst und Gesundheit an, als er sagte: »Wer sich nicht ruiniert, aus dem wird nichts.«

Tanja Dückers bekennt sich öffentlich als Schokoholic. »Schokolade erdet mich«, sagt sie. »Sie verhindert, dass der Geist beim Schreiben völlig in luftige Höhen abdriftet.«
Tanja Dückers macht hedonistischen Shopping-Touren durch die süßesten Läden Berlins und lässt ihre Schokoladentafeln offen auf dem Schreibtisch liegen, mindestens zwei, bevorzugt helle Bitter oder satte Vollmilch, fair gehandelt und beim Fachhändler erworben. Ausführlich informiert sie sich über neue Sorten mit gewagten Gewürzkombinationen und probiert sie alle aus. Dückers genießt und steht dazu. Wenn sie gerade keine Schokolade isst, denkt sie über Schokolade nach. Sie beschäftigt sich mit Sorten, Lagen und Ernten, mit der wirtschaftlichen Situation der Anbauländer und der sozialen Lage der Kakaobauern. Sie studiert Rezepte und Trends und verfolgt den Streit um die Prozentpunkte, ab wann sich eine Schokolade bitter oder halbbitter nennen darf.
Die New Yorker Autorin Lily Brett hat allen Treibstoffen der Künstler abgeschworen und komprimiert den Verzicht auf Zucker, Schmalz, Alkohol und Nikotin, indem sie sich exzessiv mit ihren Ess-Störungen auseinandersetzt. Sie ist das prominenteste Beispiel der neurotischen »hypermodernen Esser«. Lily Brett isst niemals nur des Genusses wegen, sondern um sich mit Mineral –und Ballaststoffen, Vitaminen, Polyphenolen, Omega-3-Fettsäuren und ausreichend Flüssigkeit auszustatten.
Was ist es, das uns im Innersten zusammenhält, im Magen, dem die traditionelle chinesische Medizin das Element Erde und den süßen Geschmack spätsommerlicher Ernten zuordnet? Keine Berufsgruppe scheint so anfällig für Extremernährung wie die der Künstler.
Die junge Autorin Tamara Bach pflegt ein freundschaftliches Verhältnis zu ihrer Küche. Noch. Sie schreibt, raucht, isst und rockt darinnen. Gelegentlich wirft sie dabei Vasen und Teetassen um. Macht ja nichts. Den Laptop hängt sie anschließend zum Trocknen über den Herd.
Doch je reifer die Dichter, desto disziplinierter und bewusster wird ihr Umgang mit den Gefahrenklassen. Sie schätzen deren inspirierende Wirkung hoch und lassen sich nur noch selten vom Mangel an einem Wort willenlos in Richtung Keksdose treiben. Selbst Tanja Dückers beschränkt den Schokoladenkonsum inzwischen auf maximal eine halbe Tafel pro Tag.
Auch Richard Wagner mag neben den erwähnten Salamihäppchen zwischendurch mal ein Stück gute Schokolade mit hohem Kakaoanteil. »Das regt an und belebt. Schreiben ist ja auch eine sinnliche Erfahrung. Das ist aber auch das Einzige, was ich in der Küche mache. Denn ich koche nie.« Das hängt mit seiner persönlichen Geschichte zusammen. Er stammt aus Rumänien, 1987 kam er in die Bundesrepublik. »Anfang der Achtzigerjahre gab es in Rumänien wenig zu essen. In den Restaurants wurde kaum etwas angeboten. Ich musste jeden Tag selber kochen. Das war aufwändig. Als ich nach Deutschland ausgereist bin, habe ich mir geschworen, nie wieder zu kochen.« Heute isst er jeden Tag um die gleiche Zeit in dem kleinen italienischen Bistro in seiner Straße. Nach der Arbeit am Schreibtisch taucht er mit Bauarbeitern, Handwerkern und Angestellten in den Lärm der Straße, schaut den Köchen zu, wie sie Teig kneten und wenden und werfen und blitzschnell belegen. Er wählt sorgfältig aus und lässt sich Zeit für seine Mahlzeit.
Jens Sparschuh schlendert gern abends über den Wochenmarkt. Er betrachtet das Gemüse, prüft es, entwirft ein Abendessen für die Familie. Er passt das Ritual des Essens dem Kreislauf der Natur an und kauft nur saisonales Gemüse. In der Küche, am Herd oder in der Nähe eines Steinofens findet der Dichter die Verbindlichkeit wieder, die sein vagabundierender Geist während der Arbeit aufgibt. »Es ist ja gar nicht wahr, dass wir freien Künstler so frei sind«, sagt Jens Sparschuh. »Da drücken Termine. Du musst heute dahin und morgen dorthin.« Er hat nicht etwa eine Abneigung gegen Ortswechsel an sich. Im Gegenteil. Wie die meisten Schriftsteller empfindet er das Reisen als anregend.
In jedem Fall unterbrechen sie die Rituale des Essens. Wieder muss sich der Dichter dem Frühstücksbuffet in einem Hotel ausliefern, den immer gleichen gummiartigen Käse – und fettigen Wurstsorten, überzuckerten Cornflakes, zerkochten Kompotten und Billigmarmeladen. Wieder bekommt er nach den Lesungen und am Rand der Empfänge nur miese Salzbrezeln zu knabbern und dazu billigen Sekt, selbst, wenn der Bürgermeister spricht. Lesereisen sind meist eine kulinarische Tortur. Der Schriftsteller denkt an den Kräuterquark zu Hause im Kühlschrank, an die Bio-Kartoffeln, die er in der Schale röstet. Er sehnt sich nach einer Gemüsesuppe. Es geht ihm wie schon seinem Kollegen Oscar Wilde vor hundert Jahren: »Ich schwärme für die einfachen Genüsse. Sie sind die letzte Zuflucht der Komplizierten.«
Lily Brett hätte eine Lesereise durch Europa beinahe abbrechen müssen, weil ihre Portionen, die sie von zu Hause voraus geschickt hatte, im falschen Hotel angekommen waren. Tanja Dückers litt auf ihren Studienfahrten durch die osteuropäischen Länder unter dem Mangel an guter Schokolade, bis sie doch noch einige schmackhafte Sorten entdeckte: Polnische Kastanienschokolade und rumänische Karamellpralinen.
Thomas Brussig mag vor allem die italienische Küche. »Ich habe noch nie jemanden mit so viel Genuss essen sehen wie ihn«, erzählt seine Assistentin Kathrin Thienel. »Es ist unbeschreiblich. Seine Augen leuchten. Er sieht so glücklich aus.« Thomas Brussig wollte das Thema nicht selbst besprechen. Also ließ er seine Assistentin von seinen Kochkünsten schwärmen. »Nirgendwo habe ich so einen guten Latte Macchiato getrunken und das will etwas heißen. Ich habe immerhin 18 Jahre lang in Italien gelebt“, erzählt Kathrin Thienel.
Jeden Nachmittag bereite er ihn zu. »Dazu gibt es eine Süßigkeit, ein Stück Kuchen. Zum Arbeiten trinkt er aber lieber Eistee, den er selbst aus grünem Tee, Zitrone und Süßstoff zubereitet.« Zu seinen Ritualen gehört auch die Fastenzeit im Februar. »Da isst er einen ganzen Monat lang nichts. Nicht aus religiösen Gründen, sondern weil es gesund ist.« Auch wenn er hungert, arbeitet er weiter. » Er hält sogar Lesungen. Man merkt ihm nichts an. Er ist äußerst diszipliniert. Lediglich seine Stimme wird etwas schwächer. In dieser Zeit stellt er sich vor, wie es sein wird, wieder zu essen und zu kochen. Er liest Rezepte und Speisekarten dann wie einen Roman.«

Megaher(t)z

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Brauchen Verliebte nur Gedanken-Frequenzen, um sich zu verstehen? Sind sie stärker als jedes Mobilfunknetz? Wird der Empfang klarer, je leidenschaftlicher die Beziehung ist? Und was passiert eigentlich, wenn der Empfang ausbleibt?

Erste Wolken fetzen an den Scheiben der Boeing vorüber. Wie ein Netz aus Lichtgirlanden liegt die Stadt am Boden ausgebreitet. Auf einer der schnurdünnen Landstraßen da unten fährt ein Mann zurück zu seiner Familie. In den Nächten hat er seine Arme und Beine wie eine Klammer um mich gelegt. „Ich laufe nicht weg. Keine Angst“, habe ich ihm in der Dunkelheit zugeflüstert. „Du wirst mich nie wieder los.“

Auf dem Flughafen, eine Stunde vor unserem Abschied, hat er gesagt, dass er seine Familie nicht verlassen wird. Er sah an mir vorbei zu den Terminals. Er schob mich zum Check-In. „Wegen der Kinder. Ich bringe es nicht übers Herz.“ In diesem Moment sehnte ich mich nach Sebastian. Ich wünschte, er trete geschminkt und kostümiert hinter einer Säule hervor, zaubere eine winzige Flöte aus dem Ärmel und tiriliere, bis die Kinder ihm nachlaufen oder trommele, dass dem Familienmann die Ohren platzen oder puste wie im Zirkus den Weltenschmerz aus seiner Tuba, dass er weit weg fliegt, bis unter die Kuppel und durch das kleine Loch hinaus noch höher, bis jenseits der Stratosphäre, wo niemand ihn mehr findet.

Seit Tagen habe ich nichts von Sebastian gehört. Er ist wieder auf Tournee, aber wo, das habe ich vergessen. Während des Steigflugs ist das Telefonieren verboten. In solchen Situationen helfen gedachte Frequenzen. Zwischen Verliebten schwingen sie ungestört, weil Verliebte immer aneinander denken. Gedanken-Frequenzen sind stärker als jedes Funknetz. Sie reichen über Ozeane und Gebirge hinweg. Je leidenschaftlicher die Beziehung, desto klarer der Empfang. Gedanken-Frequenzen bleiben immer geschaltet, sogar in der Oper und unter Wasser. Diese Woche mit dir war einfach…vollkommen, denke ich an den Familienmann auf der Straße. Vollkommen…das Wort ist zu wuchtig, es übersteigt das zulässige Handgepäck, aber mir fällt kein leichteres ein. Der Sternenhimmel vor dem Schlafzimmerfenster, die Skiausrüstung, die du besorgt hast, die Abende in der Sauna und danach nackt im Schnee…niemals ein Anruf, der störte. Perfekt organisiert… Ich habe nachgedacht. Das mit deiner Familie gefällt mir. Es passt zu dir. Du bist jemand, auf den man sich verlassen kann.

Über unsere Frequenz empfange ich sein Lächeln. Er findet das Wort vollkommen angemessen. Er mag gewichtige Worte. Das habe ich gern für dich getan, Darling. Die Frequenz zwischen Sebastian und mir schwingt nicht mehr. Wenn wir auf unseren Reisen aneinander denken, dann nur, weil wir besorgt sind, dass zu Hause etwas nicht läuft.

„Hast du die Zeitung für nächste Woche abbestellt?“

„Ist Post für mich gekommen?“

„Und vergiss nicht, die Bäume zu gießen.“

Früher hätte Sebastian meinen ersten harmlosen Flirt mit dem Mann in Amerika sofort bemerkt. Selbst über den Ozean hinweg. „Du lachst eine Oktave höher. Was ist passiert?“

Die Maschine trägt schwer an den Passagieren, am Gewicht ihrer Lebensgeschichten. In dieser Höhe schwirrt die Luft von gedachten Frequenzen. Die Stadt ist unter den Wolken verschwunden. Bald beruhigen sich die Motoren. Wir sind oben. Ich taste mich auf Strümpfen durch die Reihen dösender Passagiere und hole abwechselnd Kaffee und Wasser. Schlafen kann ich nicht.

Am nächsten Morgen betrete ich eine geputzte, verlassene Wohnung. Ich gebe meinem Koffer einen Tritt. Er ist eh schon an einigen Stellen kaputt. Sebastian hat ihn mir geschenkt, als das mit den vielen Reisen anfing. Er hat mir damals Mut gemacht, mit sound bizarre zu arbeiten, einem weltweiten Netzwerk von Musikern. Wir komponieren und produzieren Filmmusik. Ungefähr in diese Zeit fiel sein Durchbruch als Musical-Clown. Seitdem erhält er Einladungen aus der ganzen Welt. Ich falle auf das Futon, noch in Mantel und Schuhen. Ich falle wie eine Statue vom Sockel und bleibe da liegen. Ich fühle mich von der Reise über den Ozean seltsam gedehnt. Als wäre mein Kopf noch in Amerika, während meine Füße hier in Europa auf dem Bett liegen.

Der Mann in Amerika schläft noch. Er lebt mit seiner Familie in einem Holzhaus an einem Flussufer. Auf dem Weg zum Flughafen hat er einen Umweg gemacht. Er ist langsam an seinem Haus vorbei gefahren. Wie ein Scherenschnitt stand es vor dem leuchtenden Abendhimmel. „Hast du keine Angst, dass uns jemand sieht?“ Er antwortete nicht. Er blickte an mir vorbei nach draußen. Er bediente sich meiner Augen, um das Haus, den Garten mit Pool und den Zweitwagen vor der Garage ein weiteres Mal in Besitz zu nehmen. Eine kleine Affäre würde seine Existenz nicht gefährden.

Ich rappele mich mühsam vom Futon wieder hoch. Mir ist schwindlig. Ich wanke zu den Bäumen, befühle die Erde. Sie ist noch feucht. Es kann nicht lange her sein, dass Sebastian weg gefahren ist. Gegen Mittag ruft der Mann aus Amerika an. Er klingt ausgeschlafen. „Wie geht’s dir? Wie war dein Flug?“

„Du fehlst mir. Ich möchte zurück“, sage ich.

„Wir werden das bald wieder machen,“ tröstet er mich.

Ich habe ihm nicht von Sebastian erzählt. Ich frage mich, wie Sebastian reagieren würde, wenn er von dem Mann in Amerika erfahren würde. Ich hatte noch nie ein Geheimnis vor Sebastian. Seit zehn Jahren nicht, seit jenem Tag im Dezember, als er sich in einem Klaviergeschäft mir gegenüber an den Flügel setzte und in meine Ballade von Chopin einsetzte. Jedes Jahr am gleichen Tag besuchen wir wieder dieses Klaviergeschäft, in dem wir uns begegnet sind. Ich denke noch an Sebastian. Aber es ist Routine und Routine reicht bei weitem nicht aus, eine Frequenz am Leben zu halten.

In der Nacht rufe ich Sebastian an. Er ist in seinem Hotelzimmer vor dem Fernseher eingeschlafen. „Was ist los?“

„Hast du heute an mich gedacht?“, frage ich.

„Ist etwas passiert?“

„Nein.“

„Keine Post?“

„Auch kein Fax.“

„Ich bin müde“, sagt Sebastian.

„Danke, dass du die Bäume gegossen hast.“

„Langsam wächst alles zu. Und überall sitzen Spinnen.“

„Stören dich die Spinnen?“

Sebastian macht ein unentschiedenes Geräusch.

„Ich bin heute aus Amerika zurück gekommen.“

„Stimmt. Hatte ich schon vergessen. Entschuldige.“

„Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht, wo du gerade spielst.“

„Poznan.“

Als er einige Tage später nach Hause kommt, erzähle ich ihm von dem Mann in Amerika. Sebastian stürzt einen Whisky hinunter und gleich darauf einen zweiten. Er läuft in der Wohnung auf und ab. „Ich bin nicht verliebt. Wir werden uns auch nicht wiedersehen,“ sage ich. „Ich wollte dich nicht verletzen… aber diese Ödnis zwischen uns wird langsam unerträglich. Findest du nicht?“

Sebastian schnappt sein Saxophon und verschwindet. „Warte!“ Seine Schritte hallen im Treppenhaus. Dann klappt die Tür. Plötzlich steht alles auf der Kippe. Ich suche überall nach Zigaretten. Ich habe schon lange nicht mehr geraucht.Steh dazu! Du kommst durch! Keine Angst! Besser, wir beenden es jetzt als nie! Es wird uns einen Kreativ-Schub geben. Das steht doch in jedem Ratgeber. Loslassen! Erst hinterher wird uns klar sein, wie gut es war, so zu entscheiden. Ich wühle meine alten Handtaschen aus dem Schrank. Vergeblich. Keine Zigarette.

Ich rufe Sebastian an. Sein Telefon ist ausgeschaltet. Ich rufe seinen besten Freund an. Er ist nicht dort. Nachts liege ich wach. Basti, hörst du mich? Komm zurück. Ich möchte dich noch einmal lieben…Wir sollten nicht so auseinander gehen. Lass uns Freunde bleiben. Hörst du? Basti? Ich war niemals unehrlich zu dir. Ich wollte auch jetzt nicht unehrlich sein, mein liebster Freund. Eine erkaltete Liebe ist…man muss dazu stehen, dass es vorbei ist.

Es ist unheimlich, auf einer toten Frequenz zu senden…Hörst du mich? Basti? Wenn wir auseinander gehen, dann nicht wegen dem Mann in Amerika, sondern weil wir uns auseinander gelebt haben in den letzten zwei Jahren auf all diesen verflixten Reisen.

„Denkst du an mich?“, frage ich den Mann in Amerika am nächsten Tag.

„Immer, Liebling.“

Ich könnte nach Amerika gehen und in seiner Nähe leben. Eine Zeitlang jedenfalls. Für einen Neuanfang wäre es gut, die gewohnte Umgebung zu verlassen. „Du bist jederzeit willkommen“, sagt er. Es klingt wie an einer Hotel-Rezeption.

Nach zwei Tagen ruft Sebastian an. Er möchte mich an einem neutralen Ort treffen. „In unserem Café, du weißt schon, wo es die Stufen rauf geht.“ Es ist eigentlich kein Café, sondern ein winziges Bistro mit zwei Tischen und schmalen ledergepolsterten Leisten an der Wand, auf denen man seinen Po abstützen kann. Nach unserer ersten gemeinsamen Nacht haben Sebastian und ich dort gefrühstückt und seitdem immer mal wieder. Das Bistro ist geschlossen. Auf einem Schild an der Tür verabschieden sich die Inhaber von ihren Gästen und danken für ihre Treue. Ich setze mich auf die Stufen und warte. Endlich kommt Sebastian. Er sieht blass aus.

„Mit diesen vielen Reisen muss Schluss sein“, sagt er. Seine Stimme klingt erschöpft. „Ich möchte eine eigene Bühne gründen. Auf dem Land. Ich weiß nicht, ob du die richtige Frau dafür bist.“

„Du wirst jemanden finden“, sage ich.

„Es läuft gerade so gut bei dir. Du solltest das weitermachen“, sagt er.

„Das werde ich auch.“

Wir laufen die Straße hinab, essen in einem indischen Restaurant und gehen nach Hause.In der Nacht streichelt Sebastian die Seitenlinie meines Körpers, fahrig, auf und ab, wie er manchmal durch die Wohnung läuft. Mein Kopf liegt wie immer in der Mulde unter seiner Schulter. Es ist mein Platz. Ich habe ihn geformt. Er wird Sebastian für immer an mich erinnern.

„Kennst du eine Frau für dein Bühnenprojekt?“ Sebastian schüttelt den Kopf.Er rollt mich auf die Seite, wie er es immer tut. Er beißt mich in den Nacken, wie ich es liebe. Dann flüstert er meinen Namen. In voller Länge. Ohne Schnörkel hinten dran.

„Hast du eben meinen Namen gesagt?“

„Ja.“

„Du hast meinen Namen noch nie so zärtlich gesagt.“

„Ach komm…“

„Du hast mich im Bett immer bei diesen international üblichen Kosenamen genannt.“

„Ist das wahr?“

„Ich habe mir immer gewünscht, dass du beim Sex meinen Namen sagst.“

„Du hättest doch nur sagen brauchen, dass du drauf stehst.“

„So etwas spricht man nicht aus. Es muss sich übertragen. Ohne Worte.“

Sebastian flüstert wieder und wieder meinen Namen. Er dehnt und haucht und stottert ihn. Er schluchzt meinen Namen. Er atmet ihn. Ich liege wach und blicke zur Decke, während er längst schläft. Sein Kopf ruht wie üblich in der Mulde neben meinem Hüftknochen. Immer wieder höre ich, wie Sebastian meinen Namen sagt. Vom Urknall unserer Verliebtheit hat er meinen Wunsch erst jetzt empfangen. Auf einer langwelligen, unbekannten Frequenz.

„Ab dem 10. Dezember habe ich eine Woche frei“, sagt der Mann in Amerika. „Kommst du, Darling?“ Der 11. Dezember ist Sebastians und mein Tag. Das erste Mal seit neun Jahren würde ich nicht mit ihm in den Klavierladen gehen. Es ist gut, Rituale aufzubrechen.

„Hast du jemals meinen Namen…Ich meine, weißt du eigentlich, wie ich heiße?“

„Natürlich. Du heißt Simone. Ein wunderschöner Name.“

„Hast du schon einmal eine Frau mit diesem Namen geliebt?“

„Nein.“

„Seltsam nicht? Ein Name ist banal und gleichzeitig einzigartig. Wie das Leben gleichzeitig beides ist.“

„Wirst du kommen, Liebling?“

„Ich habe am 11. Dezember einen wichtigen Termin. Vielleicht lässt er sich verschieben…Ich rufe dich an.“

Am 11. Dezember beginnt es zu schneien. Ich stehe vor dem Klavierladen und schaue durch das Fenster. Niemand ist drin. Die Klaviere glänzen in der warmen Beleuchtung. Ich habe Lust, eins aufzuschlagen und die Ballade von Chopin zu spielen. Die Ballade von damals. Ich gehe weiter.

Am Nachmittag ruft Sebastian an. Er habe ein Haus für sein Theater gefunden. Ob ich Lust hätte, es mir anzuschauen. Ich steige ins Auto und fahre los. Außerhalb der Stadt wird das Schneetreiben dichter. Die Felder sind schon weiß. Ich überlege, ob ich auf dem Land leben könnte. Den Bäumen und Spinnen täte es jedenfalls gut.