Kathrins Notiz-Blog 23. September 10

© Illustration Liane Heinze

Leon hat mir den Rücken zugewandt. Es ist das erste Mal, dass er sich nachts von mir abwendet, statt wie gewohnt meinen Po an seinen Bauch zu ziehen und dann alle freien Stellen zwischen unseren Körpern luftdicht abzuschließen.

Ich bin aufgestanden, aber er ist davon nicht erwacht. Sonst spürte er sogar im Tiefschlaf, wenn ich versuchte, mich aus seiner Umarmung zu lösen. Er wurde unruhig, umklammerte mich, hielt sich an mir fest.

Es ist eine mondlose Nacht. Ich taste mich in die Küche, zum Fenster, schiebe mich auf dem Fensterbrett in den Rahmen, die nackten Sohlen gegen die Wand gepresst. Ich weine nicht. Ich war darauf gefasst. Aus unserer Beziehung ist endgültig die Luft raus. Leon hat mich vergessen. Er vergisst mich schon lange, beim Einkaufen. Er vergisst, mit mir zu kochen und wenn ich es allein tue, weil mein Magen weh tut und ich nicht länger warten kann, lässt er das Essen kalt werden. Er vergisst, dass ich studiere, Hausaufgaben habe, Pläne für meine Selbständigkeit mache. Er vergisst meinen Vorschlag, mal wieder in die Sauna zu gehen, jetzt, da der Sommer vorbei ist und es draußen kühler wird. Und nun hat er sogar meinen Po vergessen. Dieses Verschmelzen unserer Körper in der Dunkelheit war es, das mich bis jetzt gehalten hat. Ich will schon lange gehen, weil ich mich vergessen und verloren fühle, aber wenn ich nachts in seinen Armen daran denke, ist es, als ob mir jemand bei lebendigem Leib das Herz heraus reißt.

Ich taste mich zurück, lege mich wieder neben Leon, aber meine Gedanken werden nicht ruhig, sie wandern durch die Jahre mit ihm, suchen den Tag, an dem das Vergessen begann. Wieder stehe ich auf, schleiche zum Küchenfenster, blicke hinaus in den dunklen Garten.

Ich könnte morgen nach Jerichow fahren. Das ist schon lange mein Wunsch. Das hängt mit meinen Großeltern zusammen. Sie hießen wie die kleine Stadt in der Altmark: Jerichow. Opa und Oma Jerichow haben sich geliebt, ein ganzes Leben lang. Als ich klein war, lebten wir in einem Haus. Ruhige Tage, in denen mein Großvater pfeifend in Keller und Garten unterwegs war und die kleinen, harten Schritte meiner Großmutter, treppauf, treppab, den Rhythmus des Alltags bestimmten. Sie haben einander nie vergessen. Eines Nachts, viele Jahre nach dem Tod meines Großvaters, ich war inzwischen erwachsen, bin ich aus einem Club nach Hause gekommen und im Zimmer meiner Großmutter brannte noch Licht. Die Tür stand halb offen. Sie saß im warmen Licht der Schreibtischlampe an ihrem Sekretär und schrieb in ein kleines Buch. Von Zeit zu Zeit blickte sie auf und sprach mit jemandem. Es musste mein Großvater sein. Ich sah es an ihrem gelösten, mädchenhaften Ausdruck. Wahrscheinlich saß er auf dem Klavierhocker an seinem Flügel. Ich konnte ihn nicht sehen, weil die Tür nur halb geöffnet war. Vor zwei Jahren ist auch Großmutter ihm an den unbekannten Ort gefolgt. In ihrem Sekretär fand ich einen ganzen Stapel der kleinen Liebeschroniken aus jenen Nächten. Ich bewahre sie in meinem Kleiderschrank auf.

Meine Großeltern waren nie in Jerichow. Der Ort hat sie nicht interessiert. Aber ich denke an sie, wenn ich diesen Namen höre. Er hat einen warmen Klang und eine satte, erdige Farbe. Namen verbinden. Sie hinterlassen Spuren und wecken Erinnerungen. Ich sehne mich nach etwas Vertrautem, einem Trost.

In der Morgendämmerung hole ich den karierten Wanderrucksack aus der Abstellkammer. Bald darauf erscheint Leon mit kleinen Augen. Er zerrt das T-Shirt über seinen Penis. Als hätte er vergessen, dass ich die Frau bin, die jede Nacht neben ihm liegt.

„Was ist denn los?“ fragt er.

„Ich fahre nach Jerichow“, sage ich.

„Ich komme mit“, sagt Leon. Zuerst will ich protestieren. Ich halte ihn für unwürdig, diesen Ort zu betreten. Er hat kein Recht auf Jerichow. Der Name gehört mir, meinen Großeltern, die einander nie vergessen haben. Aber dann denke ich, dass es doch schön wäre, noch eine gemeinsame Abschiedstour zu unternehmen.

Das Besondere an der Altmark ist der Horizont, eine leuchtende Linie, die über dem Land zu schweben scheint. Die Wolken hängen tief über den endlosen Wiesen. Die Elbe fließt träge und schwer in ihrem Bett. Schrebergärten, Kuhherden und Menschen schrumpfen in den Wiesen, aber alles, was sich über diesen Horizont erhebt, wirkt stark: Die Windräder und Greifvögel, eine Brücke und die Türme des still gelegten Kraftwerks. Wir wedeln auf unseren Rädern dicht hintereinander, bleiben manchmal stehen, um zu schauen und sprechen kaum. Wenn Leon mich vergisst, schreie ich gegen den starken Wind, aber kurz vor Tangermünde reicht meine Kraft zum Rufen nicht mehr aus. Die Entfernung zwischen uns wächst. Wir verlieren uns.

Ich fahre allein durch die kleinen Straßen von Tangermünde, halte Ausschau nach Leon, aber er ist nicht da. Am Marktplatz kaufe ich ein Caramel-Eis und radele weiter, bis sich vor mir wieder der Horizont ausbreitet. Die zwei spitzen Türme der romanischen Kirche von Jerichow ragen im Dunst darüber hinaus. Ich lehne mein Fahrrad an einen Feldstein und lasse mich daneben ins Gras sinken. Kurze Zeit darauf bremst Leon neben mir. Sein Gesicht ist schmutzig, als hätte er sich in Staub und Sand gewälzt. „Wo warst du?“ fragt er.

„Du warst plötzlich weg, hast mich nicht mehr gehört, dich nicht mehr nach mir umgesehen, mich einfach vergessen.“

„Quatsch! Ich habe dich überall gesucht.“ Er nimmt den Helm ab und wischt sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. „Ich bin die halbe Strecke zurückgefahren“, sagt er.

„Dann müssen wir dicht aneinander vorbei gefahren sein“, sage ich und denke, dass das typisch ist für Paare, die aneinander vorbei leben.

Leon packt das Picknick aus seinem Rucksack. Er wirft mir die kleinen Schachteln vor die Füße. Ich habe sie heute Morgen mit Sandwiches, Karotten und Gurken gefüllt. Natürlich habe ich auch kleine Süßigkeiten eingepackt, wie immer, auch Servietten und eine Thermoskanne mit starkem Kaffee. Wir hocken uns im Schneidersitz auf die Regenjacken und essen.

„Okay, wir haben uns also wiedergefunden“, sage ich. „Zuhause finden wir uns nicht wieder. Seit wann ist das so, dass du mich einfach vergisst?“

„Was?“ Leon sieht auf. Der Schweiß hat kleine Flussbetten in seinem staubigen Gesicht hinterlassen. „Wie kommst du darauf? Ich habe dich noch nie vergessen.“

„Gestern hast du dich von mir abgewandt vor dem Einschlafen.“

„Ich habe gerade den Kopf sehr voll. Es passiert so viel.“

„Und warum sprichst du nicht darüber?“, frage ich. „Früher haben wir über alles gesprochen. Ich möchte nicht, dass wir aneinander vorbei leben. Wann hast du das letzte Mal nach mir gefragt?“

„Wann hast du denn das letzte Mal nach mir gefragt?“, sagt Leon.

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Mist! Ich greife nach einem Schokoriegel. „Früher haben wir zusammen gekocht. Wir sind zusammen einkaufen gegangen oder in die Sauna. Jetzt habe ich gar keine Gelegenheit mehr, nach dir zu fragen. Wenn du nach Hause kommst, verkriechst du dich sofort in der Garage.“

„ Weil ich sehe, dass du in der Küche sitzt und lernst oder Modelle bastelst. Ich will dich nicht stören“, sagt er.

„Du lügst“, sage ich. „Du schaust nicht in die Küche. So weit kommst du gar nicht. Du gehst sofort in die Garage. Du siehst nicht einmal, ob ich Kuchen gekauft oder etwas zu essen gemacht habe. Es interessiert dich nicht. Du bist gar nicht da. Wo bist du eigentlich? In den belgischen Fahrradläden?“

„Ich bin nirgendwo“, sagt Leon. Er blickt irgendwie dramatisch. Ich greife nach dem nächsten Schokoriegel. „Ich bin ein Umherirrender“, sagt er.

„Was soll das heißen?“

„Ich weiß nicht, wohin ich gehöre.“

„Was?“

„Es stimmt, ich gehe nicht in die Küche, weil du mir am Telefon bereits gesagt hast, dass du lernst, arbeitest, Modelle baust, eine Prüfung vorbereitest oder einen Wettbewerb….“

„Das ist nicht wahr“, sage ich. „Du übertreibst maßlos. Du versuchst mir die Schuld an zuhängen. Das ist eine ganz fiese Nummer.“

„Dieses Hin und Her zwischen Belgien und Berlin, das hat viel ausgelöst in mir. Ich habe begonnen, über mich nachzudenken. Mir wird gerade vieles klar. Über mich.“

„Das sind doch nicht deine Worte“, sage ich. „Ich kenne dich. Das sind die Worte einer Frau. Oder machst du etwa eine Therapie?“

Leon springt auf. „Ich brauche doch keinen Therapeuten.“ Er trabt in den Stoppeln auf und ab.

„Mit wem sprichst du denn über dich?“ frage ich.

„Mit niemandem.“ Er pappt sich die Locken in die Stirn. „Ist noch Schokolade da?“

„Nein, alles weg.“

„So“, sagt er.

„Übrigens werde ich mich von dir trennen. Ich sage es dir lieber gleich. Ich habe jemanden kennen gelernt.“

„Spinnst du?“ Leons Gesicht ist plötzlich gefroren, seine vorstehenden Augen klein und starr. Auf seinen Lippen hockt ein verächtliches Wort. Er spricht es aus, leise. Das Wort zischt wie ein halb geöffnetes Ventil. Er läuft durch die Stoppeln, hin und her. Ich fange an zu weinen. Ich kann ihn nicht verletzen, ohne mir selbst weh zu tun. Ich heule wie ein Gespenst, klemme meinen Kopf zwischen die Knie. Ich will diesen Schmerz nicht mehr, diese absolute Nähe, diesen luftdichten Verschluss zwischen uns.

„Warum kehrst du mir den Rücken zu?“ schreie ich. Keine Antwort. Es ist ganz still. Ich springe auf. Leon ist noch da. Er steht im Feld und starrt rüber nach Jerichow.

Ich springe ihn fast an, wie eine Katze. Wie in Zeitlupe legt er seine Arme um mich. Ich küsse sein staubiges Gesicht. „Es gibt niemanden. Es ist gar nichts. Ich bin nur mal mit jemandem ausgegangen letzte Woche. Ich wollte es dir schon die ganze Zeit erzählen. Ich will kein Geheimnis vor dir haben, aber es gab keine einzige Gelegenheit zu reden.“

Wir halten uns umklammert wie Schiffbrüchige. „Ich bleibe bei dir“, sage ich. Zwischen unseren Wangen sammeln sich staubige Tränen. Es ist das erste Mal, dass ich ihn verführen muss, ihm zuvorkomme, ihn dringend brauche und ich einen Platz für uns suche. Auf den Regenjacken in den Stoppeln. „Ich bin so froh“, sage ich schließlich. Wir liegen nackt in der Sonne neben dem Feldstein, Bauch an Bauch. „Du siehst, auch ich kann mal den Anfang machen“, sage ich.

„Du kannst immer anfangen“, sagt Leon.

„Das wird nichts, du kommst mir eh wieder zuvor.“

„Ich meine, du kannst auch anfangen zu reden“, sagt er. „Du kannst alles anfangen, was du willst.“

Ich lasse mich neben Leon rollen und blicke in den Himmel. Seltsam. Das war mir gar nicht klar, dass ich alles beginnen kann, wenn ich möchte.

Wir ziehen uns langsam an. Es ist Nachmittag geworden. Wir beschließen, nicht mehr nach Jerichow zu fahren. Es ist zu weit. Wir sind zu erschöpft. Wir steigen auf die Räder und wedeln langsam zurück nach Tangermünde.

Nach Jerichow kann ich immer noch fahren, mit Leon oder allein.

 

Kathrins Notiz-Blog 25. August 2010

© Illustration Liane Heinze

Kolja hat mich nach der Arbeit zu einem Cocktail eingeladen. Mit Kolja fällt das Reden leicht. Unsere Gespräche sind wie ein Bach, der über Kiesel springt. Die Themen finden kein Ende und werden niemals schwer. Vor dem Gorki-Park saß ein Cello-Spieler auf dem Bürgersteig. Wir hörten ihm eine Zeitlang zu. Es ging gegen zehn. Der Vollmond knallte und erleuchtete den Himmel sommerlich türkis. Ich dachte an unseren Wandschirm hinter dem Bett und wie Leon mich morgens in den Wasserlichtern mit seinem Penis aufweckt. Ich dachte an die drahtigen Locken, die ich als erstes spüre, wenn ich morgens verschlafen nach dem Tier suche. Kleine Tornados. Es macht mir Spaß, sie lang zu ziehen und wieder in ihre Form zurück schnippen zu lassen. Unvorstellbar grausam der Gedanke, dass eine andere Frau ihm so nahe kommen könnte.

Der Himmel funkelte und sprenkelte, als käme dieses Türkis nicht von den Sternen, sondern von weiter her, aus der pulsenden Mitte des Universums.

„Ich möchte mich mal wieder verlieben“, sagte Kolja. „Ich mag dieses Gefühl.“

„Ich auch.“

Einmal hatte ich Leon gefragt, was ein Mann fühlt, wenn er eine Frau liebt. Er hatte gesagt: „Vertrauen.“

„Ach komm, Vertrauen, das fühlt man auch zu guten Freunden.“

Er: „Lass mich in Ruhe, ich kann es dir trommeln, aber Worte habe ich dafür nicht.“

„Sie möchte ein Kind“, sagte Kolja. „Nächstes Jahr. Ehrlich gesagt, habe ich Angst davor.“

Wir schleppten uns den Weinbergsweg hinauf. Kolja sprach vom Älterwerden und seinem besten Freund, der mit Mitte Zwanzig schon Vater geworden war. Wie er sich schlagartig verändert hatte. Eben waren sie noch um die Häuser gezogen. Und nun machte er auf Familie. „Ich will ausgehen, tanzen, einen drauf machen. Hin und wieder brauche ich das. Verstehst du?“

„Hm.“

„Das ist vielleicht die letzte Sommernacht“, sagte Kolja. Er sah übrigens hinreißend aus. Seine blonden Haare sind zwar schon ziemlich dünn geworden, aber Kolja besitzt die Ausstrahlung eines gewieften Dorfjungen, der genau weiß, wo man die besten Pferde stiehlt. Unwiderstehlich. Man rechnet immer damit, dass er einen Frosch aus seiner locker sitzenden Hose hervor zieht, oder mindestens einen Popel. Ich vermute, dass er je älter, umso verwegener aussehen wird.

„Ist Leon nicht eifersüchtig?“

„Er weiß ja nicht, dass ich mit dir ausgehe.“

„Er lässt dich tagelang allein. Glaubt er, du sitzt zu Hause und strickst?“

„Das glaubt er wohl.“

Kolja blieb stehen und musterte mich mit zusammen gekniffenen Augen.

„Früher war ich höllisch eifersüchtig. Ich bin verrückt geworden, wenn meine Freundin allein mit einem anderen Mann war oder bei einem Freund übernachtet hat.“

„Jetzt nicht mehr?“

„Ich habe eine Therapie gemacht. Ich komme damit klar.“ Es klang, als spräche er von seiner Kastration. Er wühlte in der Hosentasche. Laubfrosch? Popel? Nein, eine verschrumpelte Zigarette.

Wir gingen ins Zaza. Ein Windlicht flackerte zwischen uns. Kolja hielt es an die Zigarette und paffte. Sie war offensichtlich feucht.

„Einmal hatte ich Angst, dass Leon sich in eine andere Frau verliebt hat.“

„Und?“ Kolja hielt inne und kniff mich in seine Augenzange, die kalte Zigarette zwischen den Zähnen.

„Ich habe ihn gefragt. Nichts. Ich hatte mich geirrt.“

„Männer lügen. Was glaubst du, wie oft ich meine Freundin schon belügen musste.“

Und Frauen durchschauen die Lügen, wollte ich sagen, sprach es aber nicht aus. Ich fand es reizvoll, dass Leons Lüge an diesem Abend eine Möglichkeit blieb.

„Es muss sich lohnen“, sagte Kolja. Er hatte seine Zigarette endlich in Gang gebracht und lehnte sich zurück.

„Was?“

„Das Verlieben. Es muss eine interessante Frau sein. Sie muss so sein, dass ich meine Freundin für sie verlassen würde.” Ich traute mich nicht, Kolja anzuschauen. Ich wünschte mir, diese Frau zu sein, hielt aber für ausgeschlossen, dass er mich meinte. „Meistens ist es umgekehrt“, sprach er weiter. „Die Leute gehen fremd, aber sie haben Angst, ihre langjährige Beziehung zu gefährden. Ich möchte aber nicht nur Sex. Ich möchte verliebt sein. Emotionales Bungee-Jumping.“
In diesem Moment dachte ich, es später darauf ankommen zu lassen. Beim Abschiedskuss ein Stück abrutschen und dabei seine Lippen berühren. Es waren nur ein paar Millimeter, dann würde das Bungee-Seil mit uns in den Abgrund stürzen.

„Sieh mal, die Farben!“ Ich hielt meinen rosa Watermelon-Man neben seinen gelben Ladykiller. Wir schwiegen und saugten. Dann versuchte ich das Gespräch noch einmal auf meine Entwürfe für den Optiker zu lenken, aber Kolja hatte keine Lust, darüber zu sprechen. Wir hatten uns schließlich den ganzen Nachmittag damit beschäftigt.

„In Helsinki hast du die Tür zu deinem Zimmer in der Nacht offen stehen lassen“, sagte Kolja. Meinte er mich doch? Ich hackte mit dem Strohhalm auf die Eiswürfel ein.

„Ich bin klaustrophob“, sagte ich.

„Du hast ziemlich viele Ängste.“

„Du auch.“

„Stimmt. Sagt mein Therapeut auch. Man merkt es mir aber nicht an.“

„Mir auch nicht“, sagte ich.

„Doch“, sagte Kolja. „Ich habe es sofort gesehen, als du die Bürotür geöffnet hast, wie du dich blitzschnell orientiert und keinen Schritt weiter getraut hast.“

„Du spinnst.”

„Es ist wahr. Ich musste aufstehen und dir entgegenkommen.”

„Ich bin ein höflicher Mensch.”

„Warst du als Kind mal eingesperrt oder warum fürchtest du geschlossene Türen?“

„Glaub nicht. Es wird schlimmer mit den Jahren. Ist wohl eher die Angst vor dem Sargdeckel.“

Kolja grinste. „Du bist melancholisch. Wie ich.“ Sein Cocktailglas war leer. Er schlürfte die letzten Tropfen zwischen den Eiswürfeln weg. Eine Kehrmaschine zog träge und laut durch den Rinnstein.

„Was ist Melancholie?“, fragte ich.

„Es gab mal eine Ausstellung“, sagte Kolja. „Da wurde es erklärt.“

Ich erinnerte mich an die Ausstellung. Es war ziemlich lange her. Mir fiel ein, dass ich schon lange keine Galerie, keine Ausstellung mehr besucht hatte. Wir redeten über Gestirne, das Mittelalter, schwarze Galle und Depressionen. Kolja gähnte. Es ging langsam auf drei. Es war kalt. Die Eiswürfel schmolzen nicht mehr.

Kathrins Notiz-Blog 23. August 10

© Illustration Liane Heinze

Leon war hier, jedoch nicht vollständig. Er hat Fahrradteile auf dem Fußboden verteilt, meine Skizzen auf dem Küchentisch aufgewirbelt und ist dann in seiner Garage verschwunden. Er könne nicht mehr schlafen, sagte er, als ich kurz vor Mitternacht in die Garage ging, um nach ihm zu schauen. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Seine Augen schienen ein Stück weiter aus dem Gesicht in Richtung der Ohren gerutscht zu sein. Seine Locken standen in staubigen Bündeln vom Kopf ab. Er war unrasiert.

Ich nahm seinen Kopf in meine Hände und drückte ihn an meinen Bauch. Er blickte mich von unten an, aus einer großen Entfernung. Später versuchte ich zu schlafen, allein vor unserem Wandschirm, auf den das Mondlicht fiel, aber ich fand keine Ruhe.

Kathrins Notiz-Blog 7. Juli 10

© Illustration Liane Heinze

Im Radio sprach ein Physiker über die Zeit. Er wurde gefragt, ob die Zeit auch unabhängig von uns Menschen existiert. Er sagte, man wisse es nicht so genau, vermute es aber. Auf jeden Fall sei die Zeit nicht das, was wir dafür halten und was Uhren und Kalender messen.

Diesen Verdacht, dass die Uhren nicht stimmen, habe ich schon lange. Es gibt Zeitphänomene, die das beweisen. Phänomen Nummer eins (ich nenne es das Schildkröten-Phänomen): Zeit gewinnt man nicht, indem man sich beeilt. Unsere Sprache drückt den Zeitgewinn korret aus. Man muss ich Zeit-lassen oder Zeit-nehmen.

Aber der Physiker im Radio war der Meinung, dass wir zu schlampig mit dem Wort: Zeit umgehen. Wir sagen: Ich habe keine Zeit, aber eigentlich müsste es heißen: Ich bin nicht frei. Oder: Ich bin beschäftigt. Denn jeder Mensch hat gleich viel Zeit.

Ich habe den ganzen Tag über der Skizze des Optikerladens gesessen. Morgen gehe ich damit zu Kolja. Er hat versprochen, mir bei der Umsetzung zu helfen.

Während ich meine Skizzen in eine Mappe packte, dachte ich, dass nur die Zeit, in der wir einen anderen Menschen lieben, wahrhaft gelebte Zeit ist. Dazwischen ist nur ein Polster aus etwas, aus dem man die Luft auch rauslassen, das Ding zusammenlegen, hinter einen Schrank schieben und vergessen kann.

Leon war in einem Fahrradgeschäft in Quatre-Chemins, als ich anrief. Er war völlig aus dem Häuschen, weil er gerade eine Campagnolo-Schaltung gefunden hatte. Ich fragte, ob er immer noch ein Kind mit mir haben möchte.

„Jetzt?“, sagte er. „Das ist vielleicht nicht der richtige Moment, oder?“

„Vor ein paar Wochen wolltest du unbedingt.“

„Möchtest du?“, fragte er.

„Ja“, sagte ich.

Kathrins Notiz-Blog 28. Juni 10

© Illustration Liane Heinze

Die Oper war großartig. In der Pause spendierte der Optiker ein Glas Sekt und zitierte sämtliche Feuilletons über die Inszenierung. Er musste sich den ganzen Nachmittag via Google vorbereitet haben. „Aber wie gefällt es Ihnen? Was ist Ihre Meinung?“ Diese Frage brachte ihn aus der Fassung. Er wurde rot. Das reizte mich, ihn noch mehr zu quälen. Ich entdeckte einen sadistischen Zug an mir. „Das wichtigste ist doch, berührt zu werden“, sagte ich. Er fing sich wieder und zitierte einen Intellektuellen über die Kraft der Bühne.

Morgen würde er mir sagen, dass er sich das mit dem Laden noch mal überlegt hat. Dabei hatte ich schon Ideen. Die Skizzen steckten in meiner Tasche. Ich hatte sie ihm in der Nacht zeigen wollen, oder nach unserem gemeinsamen Frühstück. Das hatte sich erledigt. Ich trug sie wieder mit nach Hause. Meinen ersten Auftrag hatte ich verpatzt.

Ich ließ mich erleichtert auf das Bett fallen. Ich war allein zu Hause. Es war kurz nach Mitternacht. Ich dachte an Leon, den ich seit Tagen nicht erreicht hatte. Ich trank Wein und tanzte durch die Wohnung. Gegen vier erreichte ich ihn endlich.

„Was ist passiert?“, fragte er.

„Das wollte ich dich fragen. Wieso ist dein Telefon seit Tagen ausgeschaltet?“

„Der Akku war leer.“

„Achso.“

„Was ist los?“ bohrte Leon. „Du klingst verloren.“

„Ich habe mir Sorgen gemacht.“

„Kathrin!“ Er dehnte meinen Namen wie eine Stange Lakritz. „Ich bin nicht aus der Welt. Ich bin in Verviers. Wie gesagt: Mein Akku war leer.“

„Und wieso ist er jetzt wieder voll?“

„Heute habe ich ein Kabel gekauft.“

„Warum hast du nicht angerufen? Du hast doch gesehen, wie oft ich es versucht habe.“

„Ich war in der Stadt unterwegs, dann war es schon spät.“ Er sagte, er müsse jetzt öfter nach Belgien fahren. Es gäbe dort wirklich eine Menge zu entdecken.

Wir schwiegen. Ich lauschte in die Stille. Nach einigen Sekunden begannen wir gleichzeitig zu sprechen, brachen beide wieder ab und begannen dann wieder gleichzeitig.

„Sag du!“

„Nein, du.“

„Du hast dein Handy aufgeladen und mich stundenlang nicht angerufen.“

„Ich habe das Handy zum Laden im Hotel gelassen. Ich hatte es gar nicht mit in der Stadt. Als ich zurückkam, war es kurz nach zwölf, ich dachte, du schläfst vielleicht schon. Wieso bist du noch wach?“

„Ich habe gerade von meiner Beerdigung geträumt. Darüber bin ich wieder aufgewacht.“

„War es so schlimm?“

„Zuerst nicht. Sie spielten Jaques Offenbach. Aber die Luft im Sarg war schlecht. Ich hatte Angst zu ersticken.“

„Hmmm!“

Wieder lauschte ich in das Schweigen.

„Ich liebe dich“, sagte Leon. Es klang so feierlich, dass ich alle Angst verlor und ihm beinahe von dem Abend mit dem Optiker erzählt hätte und dass ich meinen ersten Auftrag verpatzt hatte.

Aber schließlich war er allein in einem belgischen Hotel in einer Stadt, die niemand kennt außer den Menschen, die dort leben. Das war schlimm genug.