Megaher(t)z

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Brauchen Verliebte nur Gedanken-Frequenzen, um sich zu verstehen? Sind sie stärker als jedes Mobilfunknetz? Wird der Empfang klarer, je leidenschaftlicher die Beziehung ist? Und was passiert eigentlich, wenn der Empfang ausbleibt?

Erste Wolken fetzen an den Scheiben der Boeing vorüber. Wie ein Netz aus Lichtgirlanden liegt die Stadt am Boden ausgebreitet. Auf einer der schnurdünnen Landstraßen da unten fährt ein Mann zurück zu seiner Familie. In den Nächten hat er seine Arme und Beine wie eine Klammer um mich gelegt. „Ich laufe nicht weg. Keine Angst“, habe ich ihm in der Dunkelheit zugeflüstert. „Du wirst mich nie wieder los.“

Auf dem Flughafen, eine Stunde vor unserem Abschied, hat er gesagt, dass er seine Familie nicht verlassen wird. Er sah an mir vorbei zu den Terminals. Er schob mich zum Check-In. „Wegen der Kinder. Ich bringe es nicht übers Herz.“ In diesem Moment sehnte ich mich nach Sebastian. Ich wünschte, er trete geschminkt und kostümiert hinter einer Säule hervor, zaubere eine winzige Flöte aus dem Ärmel und tiriliere, bis die Kinder ihm nachlaufen oder trommele, dass dem Familienmann die Ohren platzen oder puste wie im Zirkus den Weltenschmerz aus seiner Tuba, dass er weit weg fliegt, bis unter die Kuppel und durch das kleine Loch hinaus noch höher, bis jenseits der Stratosphäre, wo niemand ihn mehr findet.

Seit Tagen habe ich nichts von Sebastian gehört. Er ist wieder auf Tournee, aber wo, das habe ich vergessen. Während des Steigflugs ist das Telefonieren verboten. In solchen Situationen helfen gedachte Frequenzen. Zwischen Verliebten schwingen sie ungestört, weil Verliebte immer aneinander denken. Gedanken-Frequenzen sind stärker als jedes Funknetz. Sie reichen über Ozeane und Gebirge hinweg. Je leidenschaftlicher die Beziehung, desto klarer der Empfang. Gedanken-Frequenzen bleiben immer geschaltet, sogar in der Oper und unter Wasser. Diese Woche mit dir war einfach…vollkommen, denke ich an den Familienmann auf der Straße. Vollkommen…das Wort ist zu wuchtig, es übersteigt das zulässige Handgepäck, aber mir fällt kein leichteres ein. Der Sternenhimmel vor dem Schlafzimmerfenster, die Skiausrüstung, die du besorgt hast, die Abende in der Sauna und danach nackt im Schnee…niemals ein Anruf, der störte. Perfekt organisiert… Ich habe nachgedacht. Das mit deiner Familie gefällt mir. Es passt zu dir. Du bist jemand, auf den man sich verlassen kann.

Über unsere Frequenz empfange ich sein Lächeln. Er findet das Wort vollkommen angemessen. Er mag gewichtige Worte. Das habe ich gern für dich getan, Darling. Die Frequenz zwischen Sebastian und mir schwingt nicht mehr. Wenn wir auf unseren Reisen aneinander denken, dann nur, weil wir besorgt sind, dass zu Hause etwas nicht läuft.

„Hast du die Zeitung für nächste Woche abbestellt?“

„Ist Post für mich gekommen?“

„Und vergiss nicht, die Bäume zu gießen.“

Früher hätte Sebastian meinen ersten harmlosen Flirt mit dem Mann in Amerika sofort bemerkt. Selbst über den Ozean hinweg. „Du lachst eine Oktave höher. Was ist passiert?“

Die Maschine trägt schwer an den Passagieren, am Gewicht ihrer Lebensgeschichten. In dieser Höhe schwirrt die Luft von gedachten Frequenzen. Die Stadt ist unter den Wolken verschwunden. Bald beruhigen sich die Motoren. Wir sind oben. Ich taste mich auf Strümpfen durch die Reihen dösender Passagiere und hole abwechselnd Kaffee und Wasser. Schlafen kann ich nicht.

Am nächsten Morgen betrete ich eine geputzte, verlassene Wohnung. Ich gebe meinem Koffer einen Tritt. Er ist eh schon an einigen Stellen kaputt. Sebastian hat ihn mir geschenkt, als das mit den vielen Reisen anfing. Er hat mir damals Mut gemacht, mit sound bizarre zu arbeiten, einem weltweiten Netzwerk von Musikern. Wir komponieren und produzieren Filmmusik. Ungefähr in diese Zeit fiel sein Durchbruch als Musical-Clown. Seitdem erhält er Einladungen aus der ganzen Welt. Ich falle auf das Futon, noch in Mantel und Schuhen. Ich falle wie eine Statue vom Sockel und bleibe da liegen. Ich fühle mich von der Reise über den Ozean seltsam gedehnt. Als wäre mein Kopf noch in Amerika, während meine Füße hier in Europa auf dem Bett liegen.

Der Mann in Amerika schläft noch. Er lebt mit seiner Familie in einem Holzhaus an einem Flussufer. Auf dem Weg zum Flughafen hat er einen Umweg gemacht. Er ist langsam an seinem Haus vorbei gefahren. Wie ein Scherenschnitt stand es vor dem leuchtenden Abendhimmel. „Hast du keine Angst, dass uns jemand sieht?“ Er antwortete nicht. Er blickte an mir vorbei nach draußen. Er bediente sich meiner Augen, um das Haus, den Garten mit Pool und den Zweitwagen vor der Garage ein weiteres Mal in Besitz zu nehmen. Eine kleine Affäre würde seine Existenz nicht gefährden.

Ich rappele mich mühsam vom Futon wieder hoch. Mir ist schwindlig. Ich wanke zu den Bäumen, befühle die Erde. Sie ist noch feucht. Es kann nicht lange her sein, dass Sebastian weg gefahren ist. Gegen Mittag ruft der Mann aus Amerika an. Er klingt ausgeschlafen. „Wie geht’s dir? Wie war dein Flug?“

„Du fehlst mir. Ich möchte zurück“, sage ich.

„Wir werden das bald wieder machen,“ tröstet er mich.

Ich habe ihm nicht von Sebastian erzählt. Ich frage mich, wie Sebastian reagieren würde, wenn er von dem Mann in Amerika erfahren würde. Ich hatte noch nie ein Geheimnis vor Sebastian. Seit zehn Jahren nicht, seit jenem Tag im Dezember, als er sich in einem Klaviergeschäft mir gegenüber an den Flügel setzte und in meine Ballade von Chopin einsetzte. Jedes Jahr am gleichen Tag besuchen wir wieder dieses Klaviergeschäft, in dem wir uns begegnet sind. Ich denke noch an Sebastian. Aber es ist Routine und Routine reicht bei weitem nicht aus, eine Frequenz am Leben zu halten.

In der Nacht rufe ich Sebastian an. Er ist in seinem Hotelzimmer vor dem Fernseher eingeschlafen. „Was ist los?“

„Hast du heute an mich gedacht?“, frage ich.

„Ist etwas passiert?“

„Nein.“

„Keine Post?“

„Auch kein Fax.“

„Ich bin müde“, sagt Sebastian.

„Danke, dass du die Bäume gegossen hast.“

„Langsam wächst alles zu. Und überall sitzen Spinnen.“

„Stören dich die Spinnen?“

Sebastian macht ein unentschiedenes Geräusch.

„Ich bin heute aus Amerika zurück gekommen.“

„Stimmt. Hatte ich schon vergessen. Entschuldige.“

„Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht, wo du gerade spielst.“

„Poznan.“

Als er einige Tage später nach Hause kommt, erzähle ich ihm von dem Mann in Amerika. Sebastian stürzt einen Whisky hinunter und gleich darauf einen zweiten. Er läuft in der Wohnung auf und ab. „Ich bin nicht verliebt. Wir werden uns auch nicht wiedersehen,“ sage ich. „Ich wollte dich nicht verletzen… aber diese Ödnis zwischen uns wird langsam unerträglich. Findest du nicht?“

Sebastian schnappt sein Saxophon und verschwindet. „Warte!“ Seine Schritte hallen im Treppenhaus. Dann klappt die Tür. Plötzlich steht alles auf der Kippe. Ich suche überall nach Zigaretten. Ich habe schon lange nicht mehr geraucht.Steh dazu! Du kommst durch! Keine Angst! Besser, wir beenden es jetzt als nie! Es wird uns einen Kreativ-Schub geben. Das steht doch in jedem Ratgeber. Loslassen! Erst hinterher wird uns klar sein, wie gut es war, so zu entscheiden. Ich wühle meine alten Handtaschen aus dem Schrank. Vergeblich. Keine Zigarette.

Ich rufe Sebastian an. Sein Telefon ist ausgeschaltet. Ich rufe seinen besten Freund an. Er ist nicht dort. Nachts liege ich wach. Basti, hörst du mich? Komm zurück. Ich möchte dich noch einmal lieben…Wir sollten nicht so auseinander gehen. Lass uns Freunde bleiben. Hörst du? Basti? Ich war niemals unehrlich zu dir. Ich wollte auch jetzt nicht unehrlich sein, mein liebster Freund. Eine erkaltete Liebe ist…man muss dazu stehen, dass es vorbei ist.

Es ist unheimlich, auf einer toten Frequenz zu senden…Hörst du mich? Basti? Wenn wir auseinander gehen, dann nicht wegen dem Mann in Amerika, sondern weil wir uns auseinander gelebt haben in den letzten zwei Jahren auf all diesen verflixten Reisen.

„Denkst du an mich?“, frage ich den Mann in Amerika am nächsten Tag.

„Immer, Liebling.“

Ich könnte nach Amerika gehen und in seiner Nähe leben. Eine Zeitlang jedenfalls. Für einen Neuanfang wäre es gut, die gewohnte Umgebung zu verlassen. „Du bist jederzeit willkommen“, sagt er. Es klingt wie an einer Hotel-Rezeption.

Nach zwei Tagen ruft Sebastian an. Er möchte mich an einem neutralen Ort treffen. „In unserem Café, du weißt schon, wo es die Stufen rauf geht.“ Es ist eigentlich kein Café, sondern ein winziges Bistro mit zwei Tischen und schmalen ledergepolsterten Leisten an der Wand, auf denen man seinen Po abstützen kann. Nach unserer ersten gemeinsamen Nacht haben Sebastian und ich dort gefrühstückt und seitdem immer mal wieder. Das Bistro ist geschlossen. Auf einem Schild an der Tür verabschieden sich die Inhaber von ihren Gästen und danken für ihre Treue. Ich setze mich auf die Stufen und warte. Endlich kommt Sebastian. Er sieht blass aus.

„Mit diesen vielen Reisen muss Schluss sein“, sagt er. Seine Stimme klingt erschöpft. „Ich möchte eine eigene Bühne gründen. Auf dem Land. Ich weiß nicht, ob du die richtige Frau dafür bist.“

„Du wirst jemanden finden“, sage ich.

„Es läuft gerade so gut bei dir. Du solltest das weitermachen“, sagt er.

„Das werde ich auch.“

Wir laufen die Straße hinab, essen in einem indischen Restaurant und gehen nach Hause.In der Nacht streichelt Sebastian die Seitenlinie meines Körpers, fahrig, auf und ab, wie er manchmal durch die Wohnung läuft. Mein Kopf liegt wie immer in der Mulde unter seiner Schulter. Es ist mein Platz. Ich habe ihn geformt. Er wird Sebastian für immer an mich erinnern.

„Kennst du eine Frau für dein Bühnenprojekt?“ Sebastian schüttelt den Kopf.Er rollt mich auf die Seite, wie er es immer tut. Er beißt mich in den Nacken, wie ich es liebe. Dann flüstert er meinen Namen. In voller Länge. Ohne Schnörkel hinten dran.

„Hast du eben meinen Namen gesagt?“

„Ja.“

„Du hast meinen Namen noch nie so zärtlich gesagt.“

„Ach komm…“

„Du hast mich im Bett immer bei diesen international üblichen Kosenamen genannt.“

„Ist das wahr?“

„Ich habe mir immer gewünscht, dass du beim Sex meinen Namen sagst.“

„Du hättest doch nur sagen brauchen, dass du drauf stehst.“

„So etwas spricht man nicht aus. Es muss sich übertragen. Ohne Worte.“

Sebastian flüstert wieder und wieder meinen Namen. Er dehnt und haucht und stottert ihn. Er schluchzt meinen Namen. Er atmet ihn. Ich liege wach und blicke zur Decke, während er längst schläft. Sein Kopf ruht wie üblich in der Mulde neben meinem Hüftknochen. Immer wieder höre ich, wie Sebastian meinen Namen sagt. Vom Urknall unserer Verliebtheit hat er meinen Wunsch erst jetzt empfangen. Auf einer langwelligen, unbekannten Frequenz.

„Ab dem 10. Dezember habe ich eine Woche frei“, sagt der Mann in Amerika. „Kommst du, Darling?“ Der 11. Dezember ist Sebastians und mein Tag. Das erste Mal seit neun Jahren würde ich nicht mit ihm in den Klavierladen gehen. Es ist gut, Rituale aufzubrechen.

„Hast du jemals meinen Namen…Ich meine, weißt du eigentlich, wie ich heiße?“

„Natürlich. Du heißt Simone. Ein wunderschöner Name.“

„Hast du schon einmal eine Frau mit diesem Namen geliebt?“

„Nein.“

„Seltsam nicht? Ein Name ist banal und gleichzeitig einzigartig. Wie das Leben gleichzeitig beides ist.“

„Wirst du kommen, Liebling?“

„Ich habe am 11. Dezember einen wichtigen Termin. Vielleicht lässt er sich verschieben…Ich rufe dich an.“

Am 11. Dezember beginnt es zu schneien. Ich stehe vor dem Klavierladen und schaue durch das Fenster. Niemand ist drin. Die Klaviere glänzen in der warmen Beleuchtung. Ich habe Lust, eins aufzuschlagen und die Ballade von Chopin zu spielen. Die Ballade von damals. Ich gehe weiter.

Am Nachmittag ruft Sebastian an. Er habe ein Haus für sein Theater gefunden. Ob ich Lust hätte, es mir anzuschauen. Ich steige ins Auto und fahre los. Außerhalb der Stadt wird das Schneetreiben dichter. Die Felder sind schon weiß. Ich überlege, ob ich auf dem Land leben könnte. Den Bäumen und Spinnen täte es jedenfalls gut.

Advent in Paris

Berliner Zeitung

Wir müssen nur rasch eines unserer Kinder vom Flughafen Orly in Paris abholen. Dauert nicht lange. Morgen sind wir wieder da.

In diesem Jahr werden wir zu dritt Weihnachten feiern, so richtig mit Geschenken, Baum, selbst gebackenen Plätzchen und Kinderoper.

Quentin lebt in Südamerika, nicht weit vom Äquator. Er hat uns geschrieben, dass er sich auf den Schnee in Europa freut.

Am Gare du Nord krachen die Flügeltüren der Metro hinter uns zu. Wir sind drin. Im Strom der Menschen strudeln wir die Rolltreppe hinab. Unten empfangen uns uniformierte Kontrolleure. Sie legen den Finger an die Mütze und fordern uns auf, die Billets zu zeigen. Schnell muss das gehen, sonst bildet sich ein Knoten.

Weiter durch zugige Gänge. Ein Schwarzer streitet mit einem arabischen Zeitungshändler. Rolltreppen rauf. Rolltreppen runter.

In der Metro schimpft ein junger Mann auf die Kontrolleure. Es sei schließlich nicht seine Schuld, dass die Drucker oben nicht funktionierten. „Sehen Sie sich das an. Nichts.“ Er weist auf den Rand des Schnipsels, wo normalerweise der blaue Zifferncode des Entwerters landet. „Das machen die mit Absicht“, ruft ein älterer Herr. „Haben die Ihnen etwa Geld abgeknöpft?“ Der junge Mann hält eine Rechnung über die Köpfe in Richtung des älteren. „Zahlen Sie auf keinen Fall. Man darf sich das nicht bieten lassen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas.“ Die beiden steigen an der nächsten Station aus, schlendern gestikulierend über den Bahnsteig, ungeachtet der Menschen, die ihnen entgegen zum Zug hasten.

Unser Hotel liegt am Place de la Nation. Wir steigen in den ersten Stock hinauf, schieben den Wäscheberg vor der Tür beiseite und treten in unser Zimmer. Zum Glück haben wir nicht viel Gepäck. Quentin kommt morgen früh. Zwei Koffer würden vermutlich nicht in das Zimmer passen. Zumindest, wenn man das Bad noch erreichen will.

Kurz nachdem wir uns aufs Bett geworfen haben, erreicht Antoine ein Anruf aus Südamerika. Quentin kommt einen Tag später. Alle Flüge sind nach hinten verschoben, weil es gestern in Paris ein Unwetter gegeben hat.

Im Foyer des Hotels beraten wir, was zu tun ist. Das künstliche Feuer im Kamin flackert wie eine sterbende Glühlampe.

Wir telefonieren mit unseren Chefs. Zum Glück ist niemand verärgert. Für Unwetter haben alle Verständnis. Kann jedem passieren. Der Student an der Rezeption verlängert unser Zimmer um einen Tag. Jetzt müssen wir nur noch den Mietwagen umbuchen. In der Autovermietung auf dem Flughafen Orly meldet sich niemand. Wir versuchen es wieder und wieder. Wir rufen die Station in Berlin an. „Kein Problem“, sagt der Mann in Berlin. „Natürlich können Sie umbuchen. Rufen Sie die Kollegen in Orly morgen früh wieder an.“

Ein Tag in Paris. Wir schlendern die Straße hinab. Der Strom der Passanten verdichtet sich, je mehr wir uns den großen Kaufhäusern und glamourösen Läden der City nähern. Ehe wir uns versehen, sind wir in den Strom der Käufer eingeklemmt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Wir werden in das glitzernde Foyer eines Kaufhauses gesogen und durch parfümgesättigte Luft in Richtung Rolltreppe gedrängt. Auf den Förderbändern stehen die Menschen so dicht, dass keine Stecknadel mehr zu Boden fallen kann. Aber unter dem halbrunden Geländer in der zweiten Etage, auf dem Übergang zwischen zwei Rolltreppen, liegt ein blauer Wollhandschuh.

Der Mann, der ihn verloren hat, sucht vermutlich draußen auf der Straße in seinen Taschen, bleibt stehen, wird angerempelt, beschimpft, weiter geschoben.

Es ist zu eng, um sich nach dem Handschuh zu bücken. Was sollte man auch damit tun? Sich im Gewühl zu einem der überlasteten Verkäufer schubsen? Vielleicht hat der Besitzer des Handschuhs selbst bemerkt, als er ihn fallen ließ, konnte ihn aber nicht aufheben, weil er weiter geschoben wurde, ins nächste Stockwerk, zu den Stapeln glitzernder Weihnachtsdekorationen, den Bündeln bunter Bestecke, Säcken voller Ausstechformen, Stapeln von Pfannen, Tiegeln und Töpfen.

Wahrscheinlich hat er sich gewehrt. Sehen Sie nicht meinen Handschuh? Was sind Sie für ein Egoist! So machen Sie doch Platz! Was heißt hier: Rolltreppe? Ziehen Sie die Notbremse! Sie wissen nicht, wo die ist? Dann rufen Sie die Feuerwehr. Machen Sie schon!

Digital-Kameras, Telefone, Flachbildschirme, Verstärker in Edel-Design, Retro-Radios, das Iphone…Die Luft wird knapp. Wir taumeln entkräftet nach draußen, an ineinander verkeilten Reisebussen vorbei durch Hupkonzerte, im machtvollen Pulk der Fußgänger über rote Ampeln. Die Sirene eines Krankenwagens heult vergeblich gegen den Stillstand im Kreisverkehr.

Für kurze Zeit entkommen wir der Masse in tote Nebenstraßen, bis wir auf einem großen Boulevard wieder in die Orgie eintauchen.

Hier flanieren Bourgois durch luxuriöse Einrichtungsläden. Geduldig warten sie an der Kasse. Sie kaufen Plastikleuchter in ausladenden Formen und schrillen Farben, Tischdekorationen aus Straß, goldene Teller, silberne Schüsseln, Flitter-Flatter, stilisierte Weihnachtsbäume aus Sperrholz und Stahlrohr und kartonweise blau funkelnde Glaskugeln. Hinter der Kasse lassen sie sich goldene Schleifen um den Edelkitsch binden. Das dauert Stunden. Stunden, in denen sie sich mit dem Personal am Packtisch über die Trends austauschen und darüber, wie sie im letzten Jahr mit wem und wo und dass es im Grunde jedes Jahr dasselbe, aber diesmal doch anders…

Die Designläden sind randvoll gefüllt mit Zen. Zen, das sind japanische Büroartikeln und Seifenspender. Zen sind Platzdeckchen und minimalistischer Baumschmuck. Ein Werbespot auf einer Großleinwand verspricht Zen sogar in einem Joghurt.

„Du warst noch nie in den Galeries Lafayette?“, fragt Antoine. „Nein“, sage ich. „Es hat mich nicht interessiert.“

„Du musst dir das Haus unbedingt ansehen.“ Antoine zieht mich weiter, vorbei an pelzgemäntelten Damen vor luxuriösen Auslagen. Das Publikum fasert auf die Straße aus, weil die Bürgersteige zu schmal sind. Polizisten auf Fahrrädern winken die Autos an dem Konsum-Tross vorbei.

Über uns wölbt sich die goldene Kuppel des Kaufhauses. „Möchtest du etwas? Ein neues Parfüm? Ich schenke es dir zu Weihnachten“, sagt Antoine. Ich schüttele den Kopf. Es ist zu laut zum Reden. Es ist zu viel zum Wünschen. Zum Glück gibt es mehrere Ausgänge.

Wir pressen uns in eine Metro und fahren zurück zum Hotel.

Am nächsten Morgen erreicht Antoine die Autovermietung auf dem Flughafen. Er sitzt auf dem Barhocker vor dem Internet-Computer im Foyer des Hotels. Ich habe mich neben die Kaminfunzel zurückgezogen und blättere in einem Einrichtungsmagazin. Es zieht mich zu den Zen-Tempeln. Vielleicht kaufe ich den Weihnachtsbaum aus Stahlrohr.

Eine kleine, blonde Frau tritt aus dem Fahrstuhl. Sie ist mit nichts außer einem Spitzenhemdchen und einem Handtuch um die Hüften bekleidet. „So etwas ist mir noch nie passiert“, schimpft sie. Der Student an der Rezeption blickt über den Tresen. „Mein Zimmer ist nicht gemacht. Ich habe es eben beim Duschen bemerkt.“ Sie bleibt mitten im Foyer, vor der Eingangstür, stehen. Sie ist barfuß. Ihre Haare sind mit Klemmen hoch gesteckt.

Der Mann an der Rezeption entschuldigt sich und fragt nach ihrer Zimmernummer.

Antoine scheint Schwierigkeiten mit der Autovermietung zu haben. „Was heißt, es geht nicht?“, ruft er in den Hörer. „Wieso geht es denn nicht? Haben Sie nur das eine Auto? Ich dachte, Sie wären eine der größten Autovermietungen Europas.“

„Ich möchte sofort den Hotelbesitzer sprechen“, zetert die Blondine.

Die Hoteldirektorin, eine drahtige Frau in den Fünfzigern, schlendert ins Foyer. „Es sind Haare in der Dusche“, beschwert sich das Mädchen. „Das ist widerlich.“

„Das Zimmer ist gemacht“, gibt der Junge an der Rezeption gelassen zurück. „Ich habe mit dem Service gesprochen.“

„Sie sollen sich die Dusche noch einmal anschauen“, weist die Dame des Hauses ihn an.

„Das ist alles?“, faucht das Mädchen. „Keine Entschuldigung?“

„Ich habe mich entschuldigt, Madame“, sagt der Student.

Die Hoteldirektorin schüttelt nervös ein Schlüsselbund. Sie grinst in meine Richtung.

Hinter mir kämpft Antoine immer noch mit der Autovermietung. „Sie sind zuerst laut geworden, Monsieur. Ich habe nur eine Frage gestellt. Eine ganz normale Frage. Meine Frage: Wieso können Sie den Wagen nicht einfach bis morgen stehenlassen? Haben Sie keine Parkplätze? Ihre Kollegen in Berlin…“

„Wir schauen uns die Dusche jetzt noch einmal an und bringen das in Ordnung.“

„Jedenfalls ist es das letzte Mal, dass ich hier war.“ Das Mädchen zieht ein Telefon unter ihrem Handtuch hervor.

„Sie sind frei.“ Die Direktorin zuckt die Schultern. Das Mädchen tippt mit spitzen Fingernägeln eine Nummer. Sie beschimpft ihr Opfer, das absolut mieseste Hotel in ganz Paris für sie gebucht zu haben. Sie droht Maßnahmen an.

Die Hotel-Dame macht auf dem Absatz einen Schwenk und verdreht die Augen.

„Ich möchte ihren Vorgesetzten sprechen“, verlangt Antoine. Ich überlege, wo in unserer Wohnung der Zen-Baum am besten zur Wirkung käme.

„Wieso spät?“, ruft Antoine. „Es hat einen Sturm gegeben. Alle Flüge sind verschoben. Das müssen Sie doch gemerkt haben.“

Nach weiteren zwanzig Minuten Diskussion reserviert man uns einen Wagen am Gare du Lyon.

Die Blonde krakeelt noch im Aufzug in ihr Telefon.

Am nächsten Tag stehen wir auf, als die erste Metro unter unseren Betten entlang rumpelt. Im Stau auf der Autobahn rücken wir langsam an die Peripherie der Stadt. Motorradfahrer wedeln im Slalom zwischen den sechsspurig schleichenden Autos. 

Vor der Abflughalle Orly West tummeln sich karibisch bunte Menschen. Quentin kommt. Schmal und sehr weiß. „Wo ist der Schnee?“, fragt er.

Auch in Berlin liegt kein Schnee. Dafür ist es ruhig wie in einem Kurort. Die Eisbahn neben der Oper haben wir fast für uns allein. Wenige Fußgänger schlendern Unter den Linden entlang. Sie meditieren an roten Ampeln vor freien Straßen. Die Karussells auf dem Weihnachtsmarkt drehen glitzernde Runden. Der Fernsehturm blinkt in den Abend. Berlin ist Zen.

  

Ein Koffer voller Hüte: Vom Leichtsinn des Geldausgebens

Berliner Zeitung

Berliner Zeitung vom 8. September 2007

Karla hat kein Geld. Wieder einmal muss ich ihre Limonade bezahlen. Wenn ich mit Karla im Grashüpfer verabredet bin, kann ich darauf warten, dass sie irgendwann mit beiden Händen an die Taschen ihrer Jeans greift, mich mit runden Augen erschrocken ansieht und sagt: „So was blödes – ich habe mein Geld vergessen.“

Ich frage mich, wie Karla tickt. Ich vergesse Eintrittskarten, mein Telefon, Geheimzahlen und Namen, aber niemals Geld. So sehr ich mich auch anstrenge. Es muss wundervoll sein, Geld einfach vergessen zu können. Geld ist mein Feind. Er ist allgegenwärtig. Er hat mich umzingelt und rückt täglich weiter gegen mich vor. Aber ich gebe den Kampf nicht auf. Schließlich bin ich im Zeichen des Löwen geboren.

„Man kann Geld nicht vergessen“, knirsche ich. Karla ist beleidigt. „Du glaubst also, ich lüge dich an.“ Sofort tut es mir leid. Ich entschuldige mich. „Wahrscheinlich gehörst du zu den wenigen, glücklichen Frauen, die Geld deshalb vergessen können, weil sie sich einen reichen Mann geangelt haben“, sage ich schnell. Das macht die Sache noch schlimmer. Karla will gehen. „Es war nicht böse gemeint. Ehrlich. Ich bin doch nur neidisch.“ „Ich zahle dir alle Limonaden zurück“, faucht Karla. Ich starre auf die grünen Farbfladen, die von dem Gartentisch abblättern. Karla sagt, sie habe es satt, sich ständig dafür zu rechtfertigen, dass ihr Mann ein normales Einkommen hat. „Ich kann nichts dafür“, schwört sie. „Außerdem habe ich nichts davon. Er ist nämlich geizig.“

Ich zähle die Münzen in meinem Portemonnaie. Sie reichen gerade noch für zwei Limonaden. Bleiben noch ein paar Centstücke für die Bettler. Ich stecke sie in meine Hosentasche. Jetzt verstehe ich, was die anderen meinen, wenn sie sagen, Geld zerstöre die besten Freundschaften. Wenn möglich, vermeide ich den direkten Kontakt mit Geld. Geld ist mir unheimlich. Es ist der einzige Stoff, der sich in Luft auflösen kann, ohne das wenigstens eine Restsubstanz bleibt. Geld bewegt sich außerhalb der Naturgesetze.

Ich bevorzuge Karten. Karten sind elastisch und stabil. Sie ändern nicht einmal die Farbe. Karten sind konstant. Man steckt sie in einen Schlitz, zieht sie wieder heraus und hat bezahlt. So einfach. Karten suggerieren, dass es Geld in Wirklichkeit gar nicht gibt. Der Feind ist nichts als eine virtuelle Größe, eine Zahl, die auf dem Kontoauszug hin und wieder die Seite wechselt.

„Du bist leichtsinnig. Eine Grille“, sagt Antoine. Er meint die Künstler-Grille aus der Fabel, die kurz vor Weihnachten die Ameise um einen zinsfreien Kredit anbettelt. Antoine zahlt nie mit Karten. Trotzdem ist er mein liebster Verbündeter im Kampf gegen das Geld. Wie er das Wort „Grille“ ausspricht, schillert es wie eine Libelle in der Sonne. Limonaden und Eis kann man nicht mit Karten bezahlen. Im Grashüpfer sind sie ganz versessen auf Bargeld. Bettler, Bananenhändler und Taxifahrer – alle wollen klingende Münze. Es gibt Tee – und Buchläden, in denen man wie ein Betrüger angeschaut wird, wenn man eine Karte über die Ladentafel reicht. Aber ich bin sicher, dass immer mehr Menschen wie ich mit einer Bargeld-Phobie zu kämpfen haben.

Die Maschine für die Kontoauszüge rattert so laut, dass das Foyer der Bank vibriert. Das Wort „Rädern“ fällt mir ein, eine mittelalterliche Hinrichtungsmethode, bei der die Leiber der Verurteilten mittels riesiger Wagenräder zermartert wurden. Ich spüre die tausend Spitzen des Nadeldruckers meine Haut durchdringen, Pixel, die sich zu einer Zahl formieren – mein Kontostand. Meine Hände schwitzen. Hinter mir bildet sich eine Schlange. Die Tortur nimmt kein Ende, weil ich ständig mit Karten bezahle und dann wochenlang so tue, als gäbe es die Soll-Seite meines Kontos nicht, auf der mein Einkommen verdunstet, sobald es dort unten aufschlägt.

Manchmal ruft der Bankangestellte an und fragt, ob er mir helfen kann. Dann weiß ich, dass jede Hilfe zu spät kommt. Ich erfinde Zahlungen, die in den nächsten Tagen eintreffen. Ich beruhige den Banker. Ich tröste ihn. Ich sage ihm, dass er sich um mich bloß keine Sorgen machen soll. „Bitte entnehmen Sie die Ausdrucke. Es folgen weitere.“ Der Kasten wird von den Vergehen der letzten Wochen hin und her geschüttelt. So muss sich das jüngste Gericht anfühlen. War der Lippenstift wirklich nötig? Und wieder bin ich in Friedrichshain, Kreuzberg und Mitte vom rechten Weg in diverse Bekleidungsgeschäfte abgekommen und der Versuchung erlegen. Und die Bücher? Warum, zum Teufel, kann ich nicht auf die Taschenbuchausgaben warten?

Solange es möglich ist, mit weniger als nichts zu bezahlen, geht das Leben weiter, sobald ich den ratternden Beichtstuhl in der Bank hinter mir gelassen habe und wieder durch die Straßen und Läden treibe. Schließlich zahlt die ganze Welt mit weniger als nichts. Auch in diesem Punkt ist Berlin der ganzen Welt eine Nasenlänge voraus. Schulden gehören hier dazu. Außerdem trifft man nirgendwo so viele Menschen, die ohne festes Einkommen ihr Dasein sichern, wie in Berlin. Straßenmusikanten, Jongleure, Scheibenputzer, die Verkäufer von „Motz“ und „Straßenfeger“ und den vielen Überlebensblättern, mit denen man inzwischen einen ganzen Kiosk füllen könnte. Diese Idee gefällt mir. Ich habe die Vision einer Gesellschaft, die auf der Straße lebt. „Ist schwierig in Deutschland“, sagt ein Freund, der schon in vielen Teilen der Welt gelebt hat. Er erscheint mir ausreichend unkonventionell, eine Gesellschaft auf der Straße mit zu begründen. „Ist zu kalt hier. Wir werden erfrieren“, sagt er. Obwohl er nicht auf der Straße leben muss, verlässt er Berlin bald wieder und zieht in eine wärmere Gegend.

Zum Glück ist Antoine hier. Unsere Strategien sind zwar verschieden, weil wir von verschiedenen Kulturen geprägt sind, doch wir ergänzen uns hervorragend. Wo ich ängstlich werde, bleibt Antoine souverän. Wenn seine Nerven blank liegen, bin ich gelassen. Antoine verliert Geld. Es rieselt aus seinen Hemden, Hosenbeinen und Socken. Er lässt die Münzen auf dem Fußboden seiner Wohnung liegen. Auf seinem Schreibtisch sammeln sich Häufchen versehentlich in die Wäsche geratener Kassenbons und Rechnungen, zusammen gepappt und unleserlich. Manchmal klemmt ein Geldschein dazwischen. „Ist doch nur Geld“, sagt Antoine. Ich führe niemals mehr als einen Geldscheinen bei mir. Diesen beobachte ich argwöhnisch, bis er zerlegt ist.

Wenn ich vergeblich auf eine Zahlung warte, schreibe ich eine erste, später eine zweite Mahnung. Wenn die zwei Mahnungen nicht helfen, gehe ich zum Gericht. Die düsteren Gänge des Mahngerichts sind mir inzwischen vertraut. Die brummigen Anweisungen der Beamten verstehe ich inzwischen schon beim ersten Mal. Ich kenne alle türkischen Bäcker rings um das Gerichtsgebäude, die Mahnbescheide verkaufen. „Einen Tee, zwei Baklava und einen Mahnbescheid bitte.“

Wenn Antoine sein Geld nicht bekommt, beginnt er zu klagen. Er beklagt sein Leben und die ganze Welt. Wochenlang. Ich habe Angst, dass er sich etwas antut. „Warum schreibst du keine Mahnung?“, sage ich. „Warum nimmst du dir keinen Anwalt?“ Antoine seufzt nur. Dann führt er ein langes Telefongespräch mit seinem säumigen Geschäftspartner. Er sagt, dass er seit Wochen nicht mehr schlafen könne, weil das Geld noch nicht da ist. Er sagt, er würde gern mit seiner Freundin in eine gemeinsame Wohnung ziehen und brauche das Geld für neue Möbel. „Was erzählst du da?“, frage ich in sein Telefonat. Wir haben niemals über eine gemeinsame Wohnung gesprochen. Antoine zwinkert, grinst und legt den Finger an die Lippen. Er sagt, er habe seinem Sohn ein neues Fahrrad versprochen. Und in vier Monaten sei schon wieder Weihnachten. Der andere hört sich alles geduldig an und erklärt dann, dass seine drei Kinder gerade in der Ausbildung steckten und eines seiner zwei Häuser dringend ein neues Dach brauche. Antoine schlägt vor zu tauschen. Er könne ja zur Abwechslung mal in einer popligen Berliner Mietwohnung leben. Ob ihm überhaupt klar wäre, dass er auf seine, Antoines, Kosten so wohlhabend geworden sei, während er, Antoine, nicht einmal ein kleines Appartement für sich und seine Frau in Berlin kaufen könne. Der andere entgegnet, Antoine solle sich bloß nicht wünschen, Hausbesitzer zu sein. Es sei ja alles so teuer geworden. Das Dach bereite ihm Magenschmerzen. So geht das hin und her. Im Laufe des Gespräches tauchen noch ein uneheliches Kind, ein arbeitsloser Bruder, ein kranker Hund und ein Neffe, dessen Haus überschwemmt wurde, auf. Am Ende handeln sie eine Zahlung aus, einen Kompromiss.

Ich frage mich, wieso sie nicht schneller auf den Punkt kommen. Bis ich verstehe, dass es sich um ein Kriegsritual handelt. Man spielt mit dem Feind Katz und Maus. Man schubst ihn hin und her, beißt zu und tut dann wieder so, als ließe man ihn laufen. Der Feind ist das Geld. Sie beweisen ihre Überlegenheit, in dem sie selbst darüber entscheiden, was sie mit ihm anstellen werden. Sie sind keine Gegner. Sie sind Verbündete im Kampf gegen die Macht des Geldes.

Einmal, als Antoine bei mir über Nacht bleibt, klingelt der Bankangestellte uns morgens aus dem Bett. Antoine lauscht dem Telefongespräch. Er springt aus dem Bett, baut sich vor mir auf und gestikuliert wild. Er schaltet den Lautsprecher ein. Er bekommt einen Schweißausbruch. Er will unbedingt wissen, was auf meinem Konto und in meinem Depot los ist. „Das ist meine Sache“, sage ich. Antoine fängt fürchterlich an zu klagen. „Es ist doch nur Geld“, beruhige ich ihn. Antoine sagt, ich sei so leichtsinnig wie eine ganze Wiese voller Grillen. Ich stelle mir eine Wiese voller Grillen vor, die so zartgrün schillern wie in Antoines Aussprache. Man trifft sie wohl nur am Mittelmeer. Am Mittelmeer müsste es möglich sein, eine Gesellschaft zu gründen, die auf der Straße lebt. Oder am Strand.

Als ich klein war, kamen meine Großeltern an manchen Abenden spät aus der Stadt zurück. Mein Großmutter flüsterte mir dann zu: „Wir waren heute leichtsinnig.“ Sie legte dabei den Finger auf den Mund, was bedeuten sollte, dass es unter uns bleibt. Sie lächelte verschmitzt, als bereitete ihr der Gedanke, Geld für Eis und einen Besuch im Zirkus verschwendet zu haben, mehr Vergnügen als das Eis und der Zirkus selbst. Kichernd präsentierte sie schließlich einen neuen Hut. Wenn Antoine sagt, ich sei leichtsinnig, fühle ich mich wie meine kichernde Großmutter mit dem neuen Hut. Meine Großmutter besaß sehr viele Hüte. Leichtsinn scheint mir eine der besten Waffen gegen das Geld zu sein. Leichtsinn macht schön. Das habe ich von meiner Großmutter gelernt. Hat ja keinen Sinn, sich wegen Geld graue Haare wachsen zu lassen.

Antoine sagt, er könne nicht mit mir leben. Er habe bereits genug Ärger. Ich packe die Hüte meiner Großmutter in einen Koffer und verlasse Berlin. Ich mache mich auf den Weg in den Süden. Dort werde ich mich dem Widerstand der schillernden Grillen anschließen. Berliner Zeitung