Großmutters Haar (für Omi Antje)

Am 9. September wäre meine Lieblingsomi 95 Jahre alt geworden. Sie starb in einer Winternacht vor zwei Jahren. Sie fehlt mir noch immer. Sie war eine weise Frau, eine schöne Frau. Sie liebte meine Texte im Magazin der Berliner Zeitung und war enttäuscht, wenn wieder ein Wochenende ohne einen meiner Artikel begann. Sie hat sich mit meinen Gedanken, Ideen und Zielen auseinander gesetzt wie keine zweite Freundin. Sie war meine beste Freundin.

Sie empfahl mir, große Ketten zu tragen, so wie sie immer große Ketten über ihren schlichten Wollpullovern getragen hatte. Doch ihr Rat meinte mehr: Er meinte, dass ich stärker, raumnehmender, auffallender agieren sollte. Ein Jahr nach ihrem Tod habe ich mir eine lange, große Kette aus gelben Holzperlen gekauft.

Eigentlich war sie gar nicht meine Großmutter, sondern die Großmutter von Stefan Schrader, mit dem ich eine Zeitlang verheiratet war. Und sie war die Urgroßmutter unserer gemeinsamen Tochter Selma. Die Verbindung zu ihr ist nie abgerissen. Sie wurde mit den Jahren immer stärker.

Für sie habe ich diese Geschichte geschrieben.

Am Ende der Nacht

Am Ende der Nacht (2009)

Großmutters Haar

In dieser Nacht schien der Mond so hell, dass die Schornsteine Schatten aufs Dach warfen. Ich wollte die Spätsommernacht über der Stadt genießen, von oben aus einer anderen Perspektive auf mein Leben blicken, nichts bewerten, sondern spüren, was war und ist, und vor allem: Vincent nicht anrufen. Die Dachpappe stachelte meine nackten Beine.

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Einfach, unkompliziert, heiter und bald

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„Mit dem Sommerheft habt Ihr mich mitten ins Herz getroffen, diese Traumwelt…! Bei Kathrin Schrader fühlte ich mich ertappt und seelenverwandt – liegt das am Namen?…“ Kathrin Rochow, Darmstadt 

Jetzt gibt es ein neues Magazin, mit großartigen Texten von Judka Strittmatter, Maxi Leinkauf, Regina Scheer und vielen anderen…

© Illustration Liane Heinze

Einfach, unkompliziert, heiter und bald

Single-Frau trifft Single-Mann; beide haben ihre Obsession

Die Türen der U-Bahn schnappen zu. Das Spiel beginnt. Mit wenigen Blicken erfasse ich die Kandidaten im Wagon, vier, fünf übermüdete Männer, die sich gleichgültig dem Rhythmus der Metro überlassen. Keine schönen Männer. Männer, denen das Leben übel mitspielt, die erst in den Morgenstunden vor dem Fernseher oder neben einer Frau in den erlösenden Schlaf fallen, Männer, die ins Waschbecken pinkeln und sich selten die Zähne putzen.

Nicht immer entscheide ich mich für den unattraktivsten, möglicherweise aber für den, der mich am wenigsten reizt. Es verblüfft mich, Männer zu sehen, von denen nicht die geringste Provokation, kein bisschen Sex, ausgeht.

Jeden Morgen geschieht das Gleiche. Wir beide sind die einzigen Überlebenden des Endes der Welt. Nachdem ich tagelang durch eine verlassene Landschaft geirrt bin, treffe ich ihn. Heute ist es der Mann mit dem geordnet-ernsten Blick und den dünnen Lippen aus der Sitzreihe gegenüber. Seine Brillengläser sind schmal wie die Standart-Versionen von Excel-Zellen. Er trägt spitz nach oben gegeelte Ponyfransen und ein graues Sweatshirt mit ausgebeulten Taschen.

Eines Abends entdecke ich seine gebeugte Silhouette am Horizont. Die Ponyfransen ragen in den Sonnenuntergang. Wir gehen aufeinander zu, betrachten uns misstrauisch. Er macht ein Feuer. Wir braten Fische und vermissen das Salz. Wir tauschen uns knapp darüber aus, was als nächstes zu tun ist. Dann finden wir kein Thema mehr. Logisch. Schon vor dem Ende der Welt hätten wir uns miteinander gelangweilt. Jetzt ist noch viel weniger los.

Ich beobachte den Kandidaten in der Sitzreihe gegenüber aus den Augenwinkeln. Er bemerkt es nicht, döst weiter vor sich hin. Nach wenigen Tagen kommt der Moment, auf den das quälende Spiel hinaus läuft. Wir müssen uns lieben, so verlangt es das Protokoll meiner selbstzerstörerischen Fantasie, denn wir sind ja der letzte Mann und die letzte Frau.

Warum teste ich täglich aufs Neue, ob ich jeden, wirklich jeden, lieben könnte? Manchmal, wenn ich auf dem Bahnsteig stehe, wenn der Tunnel zu donnern beginnt und ein heftiger Wind dem Zug voraus eilt, hoffe ich, dass diesmal kein Kandidat in der Metro sein möge. Vergeblich. Ich fahre auf der falschen Linie.

Kaum draußen an der frischen Morgenluft, rollen attraktive Männer auf Treppen an mir vorüber. Sie stehen im Coffeeshop zum Greifen nah in der Schlange vor und hinter mir. Sie schlendern vorbei und flirten. Sobald Sonne und Wind mich streicheln, bin ich überzeugt, dass es einfach sein wird, unkompliziert, heiter und schon bald.

Meine Freundin Lilo sucht im Internet. Sie klickt sich durch lange Listen, in denen vom Betriebssystem über den Lieblings-Fernsehkoch, die stärksten und schwächsten Chakren bis zur bevorzugten Stellung alle Dinge des täglichen Lebens abgespeichert werden. Dann rechnet der Computer den passenden Mann für sie aus. Bisher hat er noch keinen Kandidaten für Lilo gefunden. Schon wieder dieses Wort: Kandidat. Ist es passend für einen Menschen, den man einmal lieben könnte? Oder bezeichnet es nicht eher Personen, die man im Arbeitsspeicher festhält und weiter sortiert und vergleicht?

Am nächsten Morgen klammert ein schlauchdünner Typ mit Augenschatten an der Haltestange neben der Tür. Ich berge ihn aus einem Trümmerhaufen. Meine Hände sind blutig, meine Schuhe aufgerieben an den Kanten der zerfetzten Steine. Er stützt sich auf mich. So wanken wir ohne ein Wort aus der Stadt. Draußen sinken wir auf eine Wiese. Er liegt auf mir. Er nimmt mir die Luft. Mein Herz rast. Ich gerate in Panik.

Die Psychologin lächelt übergewichtig von ihrem Thron herab, entspannt wie ein Buddha. „Sie sollten prüfen, ob Sie sich durch die Erwartungshaltung der Gesellschaft nicht zu stark belastet fühlen. Ihre Eltern, Kollegen und Freunde gehen davon aus, dass ihr Freund kultiviert und gebildet sein sollte. Aber vielleicht sind Ihnen andere Dinge wichtiger.“

„Welche Dinge?“

„Sexuelle Praktiken, Machtspiele und so weiter.“

„Das könnte ich alles anklicken: Hochschulabschluss, Interesse an Oper und Bondage, gern auch anal…“

Der Buddha gerät für einen Moment ins Wanken. „Und warum klicken Sie nicht?“

„Es ist mir unheimlich, wie ein Stück Pizza aus der Mikrowelle, das innen heiß, aber außen noch kalt ist. Die intimsten Dinge eines Menschen möchte ich nicht wissen, bevor ich ihn getroffen habe. Ich möchte mich von außen nach innen vorarbeiten.“

Als ich die Praxis verlasse, habe ich nicht einmal ein Pillenrezept gegen Zwangsvorstellungen. Solange ich ruhig schlafen kann, sieht die Psychologin keinen Handlungsbedarf.

In der Suppenbar beobachte ich die Leute um mich herum. Ihr Leben scheint völlig normal zu verlaufen. Oder sind es nur die Küchen-Geräusche und das kollektive Kratzen der Löffel auf dem Grund der Schalen, die diesen Eindruck erwecken?

Der Mann neben mir klemmt seit zehn Minuten hinter seiner Zeitung. Ich wollte da auch noch einen Blick rein werfen, bevor meine Pause zu Ende geht. Ich lasse mir mit der Süßkartoffel-Erdnuss-Suppe extra viel Zeit. Der ist bis zu den Knien in die Zeitung gehüllt. Nur einmal, als er umblättert, taucht strubbeliges, blondes Haar dahinter auf. Ich gehe zur Toilette. Er liest immer noch. Ich schreibe eine Karte an Lilo. Die Zeitung kann ich vergessen. Ich räume das Geschirr weg.

In dem Moment, als ich die Bar verlasse und einen Gruß über die Schulter werfe, geschieht es. Die Zeitung sinkt. Sein Gesicht schwebt wie los gelöst darüber. Er strahlt. Dieses Lächeln ist so weit. Es vereint jedes Dorf zwischen Cote d’Azur und Antarktis. Es führt die komplizierte klick-me-or-not-Welt der Singles ad absurdum. Ich sehe eine dunkel gerahmte Brille und eine weiße Zahnreihe. Ich hafte an diesem Gesicht, dessen Auftritt so kurios ist. Wie ein Feuerwerk, das zu früh zündet, schießt mein Lächeln in unbekannte Richtungen. Ich werde rot. Endlich fällt die Tür ins Schloss.

Das Rad meiner Fantasie schnurrt. Bis er die Zeitung zusammen gefaltet und aus der Hand gelegt hat, bis er die Karte an Lilo bemerkt, die ich auf dem Tisch liegen gelassen habe, in den Mantel fährt und mir nachläuft, habe ich mit ihm gekocht und gegessen, eine Nacht in seinen Armen verbracht und ihn im Literatur-Salon als meinen Begleiter vorgestellt.

Seine Mantelschöße wehen wie Tragflächen. Er schwenkt die Karte. „Oh, danke.“ Wir stehen uns gegenüber und lächeln, und können beide nicht damit aufhören. „Bist du morgen wieder hier?“ Er nickt.

„Dann, bis morgen.“

„Bis morgen.“

Ich gehe weiter, stolpere, schaue mich um, ob er es gesehen hat, aber er ist schon fort.

Nur er weiß, wie ich aussehe, wenn mir das Lächeln entgleitet. Ich selbst werde es nie sehen können. Eigentlich ungerecht. Auf den nächsten hundert Metern wälzen wir uns im warmen Sand am Meer. Am Abend im Hotelzimmer erzählen wir uns wieder einmal, wie wir uns kennen gelernt haben. Er sagt: „Ich vergesse nie dein Grinsen, als du die Bar betreten hast.“ Ich sage: „Das war, als ich gegangen bin.“ Er sagt: „Nein, du kamst herein.“ Es ist unser erster Streit.

Plötzlich, in der Drehtür zum Bürogebäude, attraktive Männer in den Glaskammern vor und hinter mir, aber sie sind mir jetzt gleichgültig, erinnere ich mich an den Eindruck, ich spiegele mich in ihm, vorhin auf der Straße. Als hätte ich etwas erkannt, das ich nicht mit Worten benennen kann, über mich. Im Licht durchfluteten Foyer bleibe ich stehen. Satte Leute schleppen sich an mir vorbei zu den Aufzügen und ich stehe in einem Sonnenfleck wie erleuchtet. Es geht nämlich gar nicht um Betriebssysteme, Köche und Chakren. Es geht darum, herauszufinden, wer man ist. Was nur zu zweit möglich ist. Indem man sich in dem anderen spiegelt. Diese Erkenntnis hebt mich an. He Leute, habt ihr das gewusst? möchte ich den verdauenden Menschen im Aufzug zurufen.

Am nächsten Tag löffeln wir unsere Brokkoli-Gorgonzola, als seien wir dazu bestimmt, miteinander Suppe zu essen. Täglich. Wir reden wenig. Ich zwinge mich, meine Erwartungen zu dämpfen. Kann ein Single so unbefangen lächeln? Ist er nicht auf der sicheren Seite? Ich wage nicht zu fragen.

„Noch einen Kaffee?“ Meine Pause ist um. Trotzdem ja. Ich erzähle ihm von meinen U-Bahn-Fantasien. Er klebt an meinen Lippen wie ein kleiner Junge an einem Spielzeugautomaten. Schließlich sagt er: „Ich erlebe etwas ähnliches. In unser Museum kommen manchmal Schulklassen. Die Mädchen wissen nicht, dass ich von der Weltraumbehörde beauftragt bin, mit einer Frau meiner Wahl den Planeten Umathar im Sonnensystem Alpha Maioris zu bevölkern. Ich kann mich zwischen den Mädchen nicht entscheiden. Sie gefallen mir alle nicht. Die Weltraumbehörde droht, den Auftrag an einen anderen Wissenschaftler zu vergeben.“

„Das ist doch…das hast du dir eben ausgedacht. Du machst dich über mich lustig.“

Er legt die rechte Hand aufs Herz. „Aber nein. Ich schwöre. Das… das…kann man sich doch nicht ausdenken.“

Schon wieder breitet sich mein Grinsen wie Wildwuchs aus. Wenn das wahr ist? Ich danke Umathar, der seine Bahnen um Alpha Maioris zieht und für immer und alle Ewigkeiten unbewohnt bleiben wird, weil ich nun weiß, dass er ein emotional ausgehungerter Single ist wie ich.

„Diese Fantasie habe ich oft“, sagt er euphorisch. „Manchmal auch draußen auf der Straße, wenn eine Gruppe durchschnittlicher Frauen auf mich zukommt.“

„Kandidatinnen“, sage ich. Ich nippe an meinem Kaffee und stelle mir vor, wie schrecklich es wäre, eine seiner Kandidatinnen zu sein.

„Was hältst du davon, wenn wir diese Aufbruchs – und Endzeitpläne etwas zurückstellen?“, fragt er.

„An welchen Zeitraum denkst du?“

„Sagen wir…“ Er greift nach der Karte. „…Bis zur Möhren-Mango. Ist morgen im Angebot.“ Er klappt die Karte zusammen.

„Wenn es mir morgen früh in der U-Bahn gelingt, keinen Kandidaten zu wählen, dann…“

„…dann versuchen wir es ab morgen vorläufig für immer.“ Er blickt ernst. Seine Augen sind blaugrau. Um seine Mundwinkel zuckt ein Schmunzeln. Er macht sich über mich lustig. Der Kaffee knirscht in meiner Kehle. Ich werde rot.

„…dann bleibt es mir zukünftig erspart, eine Viertelstunde eher aufzustehen und statt der U-Bahn das Fahrrad zu nehmen, wollte ich sagen.“

„Ich empfehle mich als wirksame Therapie gegen Radtouren.“ Er deutet einen Diener an. Das strubbelige Geflecht seiner Haare ist dicht. Ich habe Lust, hinein zu greifen.

„Danke.“

„Keine Ursache.“

„Und du?“, frage ich.

„Ich schaffe das schon“, sagt er. „Bei mir ist alles noch frisch. Kein Zwang. Ich bin erst vor zwei Monaten von der Weltraumbehörde ausgewählt worden.“

„Das tut mir leid.“

„Es geht schon. Tut nicht mehr weh.“ Er trommelt mit seinen Fingern auf den Tisch.

Ich habe meine Mittagspause gigantisch überzogen. „Ich muss los.“

„Ich habe noch Zeit bis zur nächsten Führung“, sagt er.

„Klärst du das mit der Weltraumbehörde heute schon?“, frage ich.

„Sofort“, sagt er.

„Na dann…“

„Hast du auch nichts vergessen?“ Er schaut unter den Tisch.

„Und wenn schon“, sage ich.

Er hält mir die Tür auf. Mein Lächeln spiegelt sich in seinen Augen, noch unsicher, ob es so einfach, unkompliziert und heiter sein kann. Und schon jetzt.

Anton und ich – Die andere Frau

Die folgenden drei Erzählungen schrieb ich im Sommer 2007 für das Magazin der Berliner Zeitung.

Das Wochenende verbringe ich allein. Anton ist in Japan. Er ist viel unterwegs. Damit er schneller hier und dort ist, hat er eine zweite Wohnung in der Schweiz gemietet.
Das Alleinsein macht mir nichts aus. Ich mag es auch, bei ihm in der Schweiz zu sein, zwischen den Orten zu leben, unterwegs zu sein. Ich bin glücklich, Antons Stimme jeden Abend am Telefon zu hören.

Einmal fragte er, wie oft ich an ihn denke. „Immer“, sagte ich. Anton glaubte mir nicht. „Ich kann das“, sagte ich. „An dich denken und dabei alle möglichen anderen Dinge tun. Ich trage dich unter der Haut.“

An diesem Sonntagnachmittag gehe ich in eine Fotogalerie. Vor einem Bild, auf dem Jim Jarmusch zwischen zwei Palmwedeln hindurch blickt, spricht mich ein schlanker, älterer Herr mit kurzen, grauen Haaren an. „Haben Sie Lust, morgen nach London zu fliegen?“
Seine Augen tasten verlegen meine Reaktion ab. Er hat eine Weile überlegt, ob er mich ansprechen sollte.
„Und dann?“, frage ich.
„Sie bleiben bis Freitag, schauen sich die Stadt an, genießen die Zeit. Es ist alles gebucht, alles bezahlt.“
„Mit Ihnen?“
„Nein.“ Er lacht. Seine hundert Fältchen springen sofort in ihre Form. Er scheint gern zu lachen. Er sieht glücklich aus. Die Reise hat er für seine Tochter gebucht und der ist nun etwas dazwischen gekommen. Alle seine Freunde hat er schon gefragt.
„Ich dachte, sie würden gern mal wieder nach London fahren. Sie sehen so aus“, sagt er.
Ich blicke zu Jim Jarmusch auf. Er beobachtet mich genau, als sei ich ein unbekanntes Studienobjekt in den Palmen.

In der nächsten Woche habe ich mir einiges vorgenommen. Es ließe sich vielleicht verschieben. Aber da ist das Meeting am Dienstag. Leider wichtig. Nein, es wird wohl nichts.
Wir verabschieden uns. Ich sehe dem Mann nach. Im Gehen streift er seinen Mantel über und schaut sich noch einmal um.

Am Montagabend, vermutlich zu der Stunde, als das Flugzeug nach London den Ärmelkanal überquert, klingelt eine schöne, fremde Frau an meiner Tür. Sie tritt ohne Aufforderung ein.
Was sie gleich sagen wird, möchte sie nicht im Treppenhaus sagen. Der Satz ist allein für mich bestimmt. Sie sagt: „Ich bin die zweite Frau in Antons Leben.“
Ich taste mich in die Küche, an das Spülbecken und stürze ein Glas Wasser hinunter.
„Könnte ich auch ein Glas bekommen?“, sagt die Besucherin.
„Natürlich.“ Meine Hände zittern.

Jetzt könnte ich in einem weichen Flugzeugsitz hängen, ahnungslos das Abendrot betrachten und an einem Tomatensaft nuckeln.

Ich taste nach den Zigaretten in der Tasche meines Jacketts. Es sind noch drei.
Seit Wochen spüre ich die andere Frau. Immer wieder habe ich Anton auf sie angesprochen.
„Und du bist wirklich nicht verliebt?“
„Nein.“
„Du hast einen Rasierapparat für 200 Euro gekauft. Das hast du nicht für mich getan. Du läufst hier immer unrasiert rum. Du hast abgenommen. Der Sex ist übrigens auch besser.“
„Da ist niemand. Glaub mir.“
Natürlich glaube ich ihm. Ich vertraue ihm völlig.

„Ich wollte sie kennenlernen. Anton hat so viel von Ihnen erzählt“, sagt die Frau. Sie spricht leise.
Gestern habe sie spontan entschieden, den Nachtzug zu nehmen. Seit dem Morgen warte sie auf mich. Sie lebt in der Schweiz, nicht weit von Anton entfernt.
Die Frau zieht ihre Jacke aus und hängt sie über den Stuhl.
„Entschuldigen Sie“, sagt sie. „Ich vertrage den Rauch nicht.“ Ich öffne das Fenster und lasse mich an dem offenen Flügel auf den Fußboden sinken.

„Wo haben Sie sich getroffen?“
Sie erzählt von einer Messe, auf der sie Anton das erstemal gesehen und wie sie in der Nacht darauf erwacht ist und plötzlich wusste, dass sie diesen Mann kennenlernen muss, wie sie ihn am nächsten Tag bei einem Geschäftsessen gefragt hat, welche Musik er mag und er ihr die Antwort auf einem kleinen Zettel über den Tisch geschoben hat. Es sei das Ticket seines Hotels mit der Zimmernummer gewesen. Wie sie das erste Mal neben ihm aufgewacht ist und dachte, sie sei Anton, mit ihm verschmolzen. „Diese Nähe bis zur Selbstauflösung“, sagt sie. „Das habe ich mit noch keinem Mann erlebt.“

Sie senkt den Kopf. Die langen, dunklen Haare fallen vor das Gesicht. Es ist eine Pose. Sie schämt sich kein bisschen. Sie ist es gewohnt, jeden Mann und jede Frau zu besiegen. Der Spiegel gibt immer zu ihren Gunsten Auskunft. Sie ist Schneewittchen.

„Und dann? Wie ging es weiter? Wo haben Sie sich getroffen? Wo geliebt? Bei Anton? In diesem Bett in seiner Wohnung, in dem…“ Sie nickt.
Aber wie ist das möglich? Wir telefonieren doch jeden Abend, jede Nacht, manchmal dreimal am Abend. Wenn wir nach Hause kommen, wenn wir gegessen haben und wenn wir ins Bett gehen. Antons Wohnung ist klein.
„Liegst du schon im Bett?“
„Ja.“
„Was hast du an?“
„Ein T-Shirt. Eines, das du getragen hast, als du letztes Wochenende hier warst. Es duftet noch nach dir.“
„Wie war das, wenn ich angerufen habe?“ Die andere Frau kann sich an keinen Anruf erinnern.

„Weiß er, dass Sie hier sind?“ Sie schüttelt den Kopf. „Er hat gesagt, Sie würden es nicht verkraften. Er liebt Sie.“ Sie streckt ihre Hand nach mir aus. Ich zucke zurück.

In Stansted in den Vorortzug steigen und durch britisch-grüne Wiesen, an Cottages vorbei fliegen, bis sich die Gebäude immer mehr verdichten und schließlich bis an die Gleise wachsen. Liverpool-Station.
Ich bin sicher, dass der Mann ein gutes Hotel für seine Tochter gebucht hat, irgendwo in Kensington oder Chelsea.

Wie sieht jemand aus, der London mag? Gut wahrscheinlich. Exzentrisch. Jung.
Die Besucherin redet derweil über ihre Beziehungen, wie sie waren, wie sie endeten und dass sie alle ihre Männer immer noch liebe. „Es bleibt doch die Energie der Liebe“, sagt sie. Ganz egal, wie es mit Anton weitergehen würde, ob sie sich trennen oder zusammen bleiben, schon jetzt sei diese Liebe für ihr ganzes Leben.

Sie schlägt einen Spaziergang vor. Wir laufen gegen den Wind in Richtung Museumsinsel.

Ich wäre endlich einmal in die Courtauld-Gallery gegangen. Dort hängt das Original eines meiner Lieblingsbilder, „Bar in den Folies-Bergère“ von Edouard Manet. Wenn ich das Mädchen an der Bar sehe, ist es, als blicke ich in mein Spiegelbild.
Ich kann mich nicht satt sehen an diesem Gesicht. Es ist viel aufschlussreicher als mein Spiegelbild. Nach und nach entdecke ich alles, was sie fühlt, ihre Schüchternheit und ihre Wut, ihre Angst und ihre Lust auf das Leben. Sie träumt, während sie die Leute bedient.

Die Frau redet über Anton, immer noch, seine Arbeit, seine Gesundheit, die Sache mit den zwei Frauen. Wie er immer wieder über mich spricht. Wie er sich mit seiner Liebe zu mir quält. Wie sehr sie ihn versteht und sich Sorgen um ihn macht. Sie kennt jeden Streit, den ich mit Anton hatte.
Ich zittere. Ist es wirklich so kalt?
Wir trinken einen Tee bei Starbucks. Er wärmt kein bisschen. Ich zittere immer noch. Wer uns hier sitzen sieht, könnte denken, dass wir Freundinnen sind.
„Erzählen Sie von sich“, fordert sie mich auf.
„Was möchten Sie wissen? Anton hat Ihnen doch schon alles gesagt.“
„Was ist Anton für Sie?“
„Er ist mein Mann“, sage ich.
„Das ist nur eine Bezeichnung, ein Familienstand. Ich meine, was er Ihnen bedeutet?“
„Er ist mir in die Haut geritzt. Wie ein Tattoo. Es ist nicht alles gut mit ihm. Manchmal tut es weh. Was das bedeutet, weiß ich nicht. Es ist was es ist.“

Mein Spiegelbild, das Mädchen an der Bar in den Folies Bergère, ist herausgeputzt in ihrem Korsett mit Spitze und einer Blume am Dekolletee. Sie schaut in die Menge der Leute, die sich amüsieren, denen sie Wein und Champagner eingeschenkt hat. Ein Mann spricht sie an. Ich glaube, sie hat Tränen in den Augen.
Ich kann gerade nicht weinen.

Ich könnte die Frau bitten, mich jetzt allein zu lassen. Als hätte sie meinen Gedanken erraten, blickt sie zur Uhr. Der Nachtzug geht in einer halben Stunde.
„Sie können bleiben, wenn Sie möchten.“ Ich weiß nicht, warum ich das sage. Vielleicht aus Schwäche, weil ich heute abend nicht allein sein will. Anton ist unerreichbar. Vielleicht aus Neugier. Weil ich noch nicht alles weiß.

Wir könnten über andere Dinge reden, unsere Arbeit, Filme, Bücher, Musik, Kinder.
„Möchten Sie Kinder?“
„Bisher habe ich mir noch nie Kinder gewünscht. Mit noch keinem Mann“, sagt sie. „Schwangerschaften erschienen mir so…bedrohlich. Dieser dicke Bauch. Aber jetzt, mit Anton, habe ich das erste Mal den Wunsch, ein Kind zu haben. Von ihm. Es ist seine Wärme und seine Intensität.“
Sie schaut in ihre Teetasse.

Wir schleichen durch die Straßen, sitzen auf einer Terrasse. Die Frau redet. Ich klappere mit den Zähnen. Ich kann nichts sagen, nichts denken, außer, dass ich hätte in London sein können, dass es vielleicht der Anfang von etwas geworden wäre. Doch ich sitze hier. Vor einem Ende. Dieser Nacht werden Tage folgen. In meinen Kalender sind Termine gekritzelt. Ich stelle mir die Frage des Überlebens…

Am nächsten Morgen, nachdem sie gegangen ist, werfe ich alle Textilien, die direkt mit ihr in Berührung gekommen sind, in den Müll. Auch die karierte Wolldecke, in die gehüllt sie gegen fünf Uhr morgens neben meinem Bett aufgetaucht war. Ich saß seit Stunden und starrte aus dem Fenster. Ich sah zu, wie der Kosmos seine helle Seite allmählich in das irdische Guckloch schob. Als die Vögel zu kreischen begannen, hatte ich auf die Uhr geschaut. Halb fünf. Kein Schlaf. Nicht eine Minute.
Sie hatte oben aus der Decke heraus geschaut und vorgeschlagen, dass wir alle drei mal voneinander Abstand nehmen sollten. Für ein halbes Jahr vielleicht.

In der Konferenz, wegen der ich die Londonreise abgelehnt habe, registriere ich, dass um mich herum gesprochen wird, doch der Sinn der Worte kommt nicht bei mir an. „Könnten Sie das bitte wiederholen?“ Nichts davon ist wichtig. Alles ist belanglos.

Mein Ärztin füllt mir weiße Kügelchen in eine Tüte und verspricht, dass sie sofort helfen. Aber was kann schon helfen, wenn einem die Haut bei lebendigem Leib abgezogen wird?

Ich begreife den Blick des Mannes in der Galerie, als er sich noch einmal zu mir umdreht. Etwas tragisches stand in seinen Augen. Jetzt weiß ich, dass er ein Engel war. Er war gesandt, um mich zu schützen.

Anton und ich – Warten

Mit Anton, das war von Anfang an etwas Besonderes. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich in einer stabilen Beziehung angekommen. Daran änderte sich auch nichts, als er wegen seiner Arbeit eine zweite Wohnung in der Schweiz mietete und wir seither viele Wochen getrennt verbringen.
Vor einigen Wochen begann sich ein schlimmer Verdacht in mir zu regen. Anton war schlanker geworden, nervöser. Er schien häufig abwesend. Am Telefon vermisste ich seine kleinen Witze.

An einem Wochenende schaltete er das Telefon aus und sagte, er müsse über sich und seine Arbeit nachdenken. Es ändere sich gerade sehr viel. Er hatte offenbar keine Lust mehr, mit mir über seine Arbeitsprobleme zu sprechen. Manchmal hatte es mich genervt. Jetzt vermisste ich sein Vertrauen.

„Ich verliere Anton“, erzählte ich einer Freundin am Telefon.
„Bleib cool“, sagte sie. „Es wird genauso sein, wie er sagt: Er muss nachdenken.“

Auf die Einladung einer anderen Freundin zur Sommernachtsparty auf dem Dach antwortete ich mit einer SMS: „Bin nicht in Partylaune. Anton liebt eine andere Frau.“
„Geht ein Mann, warten drei neue“, schrieb sie zurück. „Komm vorbei.“

Eines Nachts klingelte ich bei meiner liebsten Freundin, die gerade ein Baby erwartet. „Ich weiß, dass Anton in diesem Moment mit einer anderen Frau schläft. Ich werde verrückt. Kann ich heute Nacht bei euch bleiben?“
Sie richtete mir das Sofa her und sagte, ich solle mit Anton über die Sache reden.

Anton zerstreute meine Bedenken. „Niemals würde ich dich wegen einer anderen Frau verlassen.“
Ich teilte es meinen Freundinnen umgehend mit.
Zwei Stunden später rief ich sie der Reihe nach wieder an. „Dass er mich nicht wegen einer anderen verlässt, heißt aber nicht, dass es keine andere gibt, oder?“

Vor zwei Tagen, Anton war gerade in ein Flugzeug nach Tokio gestiegen, klingelte eine fremde Frau an meiner Wohnungstür. Sie sagte, sie sei die andere Frau in Antons Leben. Sie war aus der Schweiz nach Berlin gereist, um mir zu sagen, dass sie Anton nun seit fünf Monaten kennt und spürt, dass er der Mann ihres Lebens ist.

Meine geschiedene Freundin sagt, ich solle mich sofort von Anton trennen. Sie sagt, ich solle mich endlich auf mich selbst besinnen, auf das, was ICH will.
Ich finde, dass sie Recht hat.

Ich räume Antons Sachen aus unserem gemeinsamen Kleiderschrank und stopfe sie unter Verwünschungen in eine Umzugskiste. Die Umzugskiste schiebe ich in den Flur. Anton kann sie sich gleich unter den Arm klemmen, wenn er für immer zu ihr in die Schweiz fährt.

Ich schiebe die Bügel mit meinen Kleidungsstücken weit auseinander. Sie waren so gepresst die ganzen Jahre. Ich hole tief Luft.
Ich betrachte die befreiten Mäntel, Röcke, Hosen und Blusen und denke darüber nach, wer ICH bin und was ICH eigentlich will.

Meine jugendliche Freundin, die gerade auf Wohnungssuche ist, bietet mir ihre alte Wohnung zur Nachmiete an. „Hell und gemütlich und du kannst jederzeit raus aufs Dach.“ Am liebsten würde ich sofort nach Friedrichshain ziehen und den Sommer auf dem Dach verbringen. Direkt unter den Sternen. Und atmen.

Ich kann nicht schlafen und nicht essen. Meine Herzfrequenz hat sich verdreifacht. Ich rauche wieder. Meine Chefin legt mir nahe, zum Arzt zu gehen. Ich kann mich nur schwer auf meine Arbeit konzentrieren.

Ziellos treibe ich durch die Straßen. In diesen Tagen, während ich darauf warte, dass Anton aus Tokio zurückkommt und mir gegenüber steht, nehme ich alles deutlicher wahr als sonst. Die Gesichter der Passanten, ihre Hast, ihre Bitterkeit, ihren Gleichmut.
Die beiden Mädchen, die seit dem Morgen Zeitungsabos anbieten. Wieder und wieder schmettern sie den Passanten denselben Spruch entgegen, strecken die Zeitungen über die Köpfe der Menschenmenge, gegen den Strom. Die Tram, die an der Ampel heulend zum Stehen kommt. Fußgänger schieben sich zwischen den puffenden Autos hindurch. Ein Preßlufthammer knattert. Der Arbeiter wischt sich den Schweiß mit einem ledernen Handschuh von der Stirn. Staub glitzert in der Sonne und rieselt auf nackte, verschwitzte Haut.
Die Straße tröstet mich. Ich weiß, dass ich Anton gehen lassen, neu beginnen kann, wenn nicht auf einem Dach unter Sternen, dann in einem Hinterhof. Inmitten der Menschen, die kämpfen und hoffen, dringe ich zum süßen Kern meines Schmerzes vor. Es ist die Liebe selbst.

Kaum senkt sich der Abend in die Straßen, kommt die Angst. Sie breitet sich zu einem Abgrund aus. Ich rutsche ab. Ich falle. Im Fallen wird mir klar, dass ich selbst der Abgrund bin. Ich bin der Grand Canyon der Furcht.
Ich bereue, manchmal ungeduldig auf die Uhr geschaut zu haben, wenn Anton von den Problemen mit seinen Schweizer Kollegen erzählt hat. Ich bereue, ihn beschimpft zu haben, wenn ich lange auf ihn warten musste, wenn wir eine Tour ins Grüne machen wollten und er ewig nicht fertig wurde, weil er wieder alles verlegt hatte: Seinen Schlüssel, sein Geld, die Bahncard. Am meisten bereue ich die Nächte, in denen ich keine Lust auf Sex hatte.

Werde ich allein sein können? Werde ich jemals wieder lieben? Bin ich nicht längst zu erstarrt, um mich dem Leben hingeben zu können?

Ich rufe meine finnische Freundin an. „Anton ist ganz schön blöd, eine Frau wie dich aufs Spiel zu setzen“, sagt sie.

Ich rufe meine französische Freundin an. „Verflixter Anton“, sagt sie. „Was macht er mit dir?“

Eine Stunde vor Mitternacht rufe ich meine verheiratete, schwangere Freundin an. „Darf ich vorbei kommen?“
„Klar.“
„Vielleicht war diese Frau gar nicht wichtig für Anton. Vielleicht war sie hier, weil er gerade mit ihr Schluss gemacht hat“, sagt meine verheiratete, schwangere Freundin.

Ich bin sicher, dass sie Recht hat. Am nächsten Tag packe ich Antons Sachen wieder in den Kleiderschrank. Ich stecke meinen Kopf zwischen seine Hemden und Jacken. Ich sauge seinen Duft tief ein. Plötzlich ist die Sehnsucht nach seiner hellen, warmen Stimme so übermächtig, dass ich ihn anrufe.
„Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen.“
„Nur noch zwei Tage, dann bin ich zurück. Ist alles in Ordnung?“
„Mmm.“

Ich rufe einen Freund an. Er hat mir einmal gesagt, dass er jederzeit kommen und mich trösten würde. Anruf genügt.
Er ist anders als meine Freundinnen. Man kann mit ihm nicht über dieses Auf und Ab sprechen. Er kennt das nicht. Er sagt nur: „Tut mir leid, Mensch.“ Er fühlt sich nicht missbraucht, weil ich einfach so mit ihm schlafe, weil ich Trost brauche.

Im Café treffe ich meine weise Freundin.
„Warum sollte Anton dich verlassen?“, sagt sie. „In der Schweiz hat er sie. Hier hat er seine Wohnung, seine Post und dich, die sich um alles kümmert.
„Ich muss weg…“
„Was hast du davon, umzuziehen? Du änderst ja nichts. Du bist auf dem Dach genauso traurig wie in eurer komfortablen Wohnung.“
„Aber ich…ich ertrage das nicht.“
„Was? Dass es ihm gerade besser geht als dir?“
„Nein, aber dieses Gefühl, ein Abgrund zu sein und gleichzeitig das Bungy-Seil, an dem mein ICH auf und ab schnellt. Ich möchte die Tür hinter mir zumachen und zur Ruhe kommen, meine Wunden lecken.“
„Möchtest du die Tür wirklich schon zumachen? Was ist denn passiert außer dem, was überall und jedem passiert?“
„Deshalb trennen sich alle überall.“
„Lebst du wirklich besser ohne ihn?“
„Kann man gut leben mit einem Kerl, der einen monatelang betrogen hat?“
„Finde es heraus“, sagt meine weise Freundin. „Setze dir eine Frist. Warte, bis dein Herz wieder normal schlägt.“

Die andere Frau in Antons Leben hat mir geschrieben. Sie fragt, ob wir Brieffreundinnen werden. Ich zerreiße den Brief. Niemals wird sie zum Kreis meiner großartigen Freundinnen zählen.

Stunden, bevor Anton landet, fahre ich zum Flughafen. Ich schlendere durch die Hallen und führe imaginäre Dialoge mit ihm. Die andere Frau kommt darin nicht vor. Sie hat hier nichts zu suchen.

Anton umarmt mich. „Was ist los? Du zitterst.“
„Sie war bei mir“, sage ich.
„Wer?“, sagt Anton.
„Wer?“, äffe ich ihn nach. „Die andere Frau in deinem Leben.“
Anton sagt nichts, aber ich spüre seine Erschütterung. Er lässt seinen Koffer stehen und entfernt sich einige Schritte, bleibt stehen, schaut aus der Halle auf die Taxispur vor dem Eingang, kehrt zurück.
„Komm.“
Wir setzen uns in das Bistro vor der Anzeigetafel.
„Warum hast du es nicht gesagt?“
„Ich konnte nicht“, sagt Anton. Er blickt auf die Tischplatte. „In den letzten Wochen ist mir alles zuviel geworden. Deshalb bin ich ein paar Tage länger in Tokio geblieben. Um nachzudenken.“
Dann lenkt er auch schon ab, spricht über seine Arbeit, dass er nicht so weitermachen möchte, dass es ihn nervt, sich immer beweisen zu müssen, dass die Schweiz ihm bis sonstwo steht und überhaupt…
„Ich bin kein Manager.“ Er schaut mich an. Er hat Tränen in den Augen. „In Tokio ist mir klar geworden, dass ich wieder ein Clown sein will. Ich bin ein Clown.“ Er lässt den Kopf in seine Arme auf dem kleinen Tisch fallen und schluchzt.
Ich streichele Antons Locken. Sie sind in den letzten Jahren ein bißchen grau geworden. Auf dem Foto von ihm als Musikclown grinst er weiß geschminkt unter seinen dunkelbraunen Locken hervor. Das war lange, bevor wir uns getroffen haben.
Er sagt, er wolle weg, etwas Neues beginnen, irgendwo.
„Geh mit ihr nach Timbuktu oder dahin, wo der Pfeffer wächst. Ich werde dahin gehen, wo man mich liebt.“
„Ich werde nicht bei ihr bleiben“, schluchzt Anton. Ich reiche ihm ein Taschentuch. Die Serviererin bringt ein Glas Wasser.
Wir halten uns an den Händen in diesem Transitraum unseres Lebens, ungewiss, wohin es uns tragen wird, ob gemeinsam oder getrennt.
Anton beruhigt sich langsam. Es gibt in diesem Moment nicht viel zu reden.
Er sagt nur: „Du siehst gut aus.“
„Aber ich bin fix und fertig.“
„Es steht dir gut.“
Wir schauen hinaus auf die Rollbahn.
Irgendwann stehen wir auf und verlassen den Flughafen, stützen uns gegenseitig wie Gestrandete nach einem Schiffbruch.
Man muss nicht immer reden. Manchmal tut es einfach gut, nichts zu sagen.
Später, wenn Anton duscht, werde ich meine Freundinnen anrufen.

Anton und ich – Im Transit einer Ehe

Freunde erzählen mir, dass es möglich und normal ist, zwei Menschen gleichzeitig zu lieben. Sie hätten das schon erlebt. Monogames Verhalten sei anerzogen. Eine Frage der Kultur.

Mein Schrei, als ich Anton mit der anderen Frau sah, ist völlig unkultiviert. Der Schmerz ist wild und roh. Ich würge unbekannte Laute hervor. Sie ringen sich von der urzeitlichen Grenze zwischen Tier und Mensch in mein Kissen.

Es erscheint mir unmöglich, die Intensität der Liebe für zwei Menschen gleichzeitig zu empfinden. Ich kann es nicht ertragen, meinen Mann, meinen besten Freund, mit einer anderen Frau zu teilen.

Ich streife mit meinen Wimpern, meinen Wangen, meinen Lippen über seinen Körper, dem ich Namen gegeben habe, von denen ich glaubte, dass niemand sie kennt außer ihm und mir, dieser Körper, dessen Geruch mich erregt, dessen Wärme mich tröstet, mit dem ich in diesem Augenblick verschmelzen möchte, damit uns nie wieder der letzte Aufruf zum Einchecken trennt. Sein Körper, an dem ich mich seit Jahren reibe, der mich lehrt, was Mann und Frau unterscheidet und was ich bin: Ein nacktes Wesen. Erschreckend weich.
„Ich möchte, dass du mich noch ein letztes Mal liebst. Dann lasse ich dich gehen.“
Denn mir ist klar, dass unsere Geschichte jetzt zu Ende ist.

Manchmal habe ich mit dem Gedanken gespielt, Anton zu verlassen. Doch ich bin niemals gegangen. Immer, wenn ich es ernsthaft in Erwägung zog, fielen mir die Konzerte ein, die wir gemeinsam besucht haben und die Platten, die er mir beiläufig auf den Schreibtisch gelegt hat. „Hier. Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Musik, die ich durch ihn entdeckt habe: Messiaen, Fauré, Stravinsky, Gorecki, Deep Purple und Steve Reich.

Anton ist nachdenklich und still. Er sitzt häufig am Klavier und schlägt einige Tasten an. Er klimpert ein paar Akkorde. Wir sprechen nicht viel. Ich kann sehen, dass er kämpft.
Ich würde ihm Unrecht tun, wenn ich meinte, er hätte seit Monaten ein Verhältnis mit einer Frau, die ihm nichts bedeutet. Ich mache mir keine Illusionen. Die Ernüchterung trifft mich mit voller Wucht. Jeder Traum perlt daran ab. Jede Hoffnung stirbt.

Ich möchte Anton fragen, wie oft er sie getroffen hat und wo.
Ich möchte ihm sagen, dass ich deutlich spüre, wie sie ihn berührt hat. Sie hat die Sehnsucht nach seinem alten Leben als Musiker zum Klingen gebracht. Ich möchte ihn fragen, ob sie dieselbe Musik liebt wie er und ob sie ein Instrument spielt. Keine einzige dieser Fragen bringe ich jemals über die Lippen. Sie bleiben in meinen Eingeweiden stecken.

Anton sagt: „Gib uns Zeit zum Nachdenken, Distanz zu gewinnen zu dem, was passiert ist. Ich möchte dich nicht verlieren. Ich liebe dich.“
„Also gut“, sage ich. „Wieviel Zeit brauchst du?“
„Und du?“, sagt Anton.
Ich betrachte meine Füße und zucke die Schultern.

Ich sehe mir Wohnungen an. In einem großen, hellen Zimmer mit einem Balkon zur Straße stelle ich mir den Beginn meines neuen Lebens vor. Hier sitzen, ausruhen, arbeiten, während die Abendsonne ins Zimmer scheint, wieder allein, frei, tun und lassen können, was ich will, flirten, andere Menschen treffen, vielleicht reisen…eine neue Musik finden.
„Ich muss noch einmal darüber nachdenken“, sage ich der Vermieterin. „Ich rufe sie morgen an.“

Die Frau, die Anton verlässt, ist eine völlig andere als die, die bei ihm bleiben wird. Ich bin beide Frauen. Ich treibe zwischen meinen Identitäten hin und her. Ich habe keine Ahnung, welche von diesen beiden Frauen mir näher ist, für welche von ihnen ich mich letztendlich entscheiden werde. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.

Der Vermieterin sage ich ab. Es ist noch zu früh. Ich besuche Anton in der Schweiz, wo er zeitweise lebt. Hier hat er die andere Frau getroffen.
„Sie war hier. Sie hat meinen Honig gegessen.“ Ich knalle die Kühlschranktür wieder zu.
„Welchen Honig?“, sagt Anton. „Ich schwöre dir, sie war nicht hier. Wir haben uns nicht mehr gesehen, seit ich aus Japan zurückgekommen bin.“
„Und wo ist der Honig? Du ißt keinen. Das letzte Mal war noch ein halbes Glas da: Dunkler Waldhonig.“
Anton seufzt. „Ich weiß nicht, was mit deinem Honig passiert ist, okay? Aber ich weiß, dass sie nicht hier war.“
„Das kannst du deiner Großmutter erzählen.“

Als Anton im Bad ist, schaue ich mir sein Telefon an. Ich lese alle Kurznachrichten. Ich sehe, wie oft sie ihn und wie oft er sie angerufen hat. Ziemlich oft. Mir zittern die Hände. Mein Herz kracht gegen die Rippen.

„Es ist vorbei“, sage ich. „Die letzte Rolle, die ich spielen will, ist die einer Frau, die ihrem Mann nachspioniert, die sein Telefon und seine Taschen untersucht. Ich hasse mich dafür, so etwas zu tun.“
Ich heule vor Wut. Ich schlage nach ihm. Ich schreie ihn an. Anton wehrt sich nicht.
„Ich finde gut, dass du es getan hast“, sagt er später. „Man tut solche Sachen. Du solltest dich nicht hassen deswegen.“
„Können wir nicht tauschen? Du heiratest sie und ich werde deine Geliebte? Diese Rolle liegt mir mehr.“
„Ich weiß“, sagt Anton. „Darin hast du Erfahrung.“
Ich konnte es ertragen, einen verheirateten Mann zu lieben. Das hier kann ich nicht ertragen. Ich werde verrückt dabei.

„Ich habe mit ihr gesprochen“, sagt Anton. „Wir haben uns sehr lange unterhalten. Wir werden uns nicht mehr sehen.“

Wieder verfangen sich die ungefragten Fragen in meinem Bauch. Sie akzeptiert das? Sie lässt dich einfach gehen? Wird sie damit klar kommen? Wie lange?
Ich frage nur: „Warum?“
Anton sagt: „Weil es auch mir zuerst um mich geht. Weil mir alles zuviel geworden ist.“

Ich bitte ihn, nicht mehr nach Berlin zu kommen.
„Ich möchte aber nächstes Wochenende kommen“, sagt er.
Ich habe mich entschieden. Ich bin die Frau, die Anton verlassen wird. Ich bin die Frau, die sich ärgert, das jemand anderes in das große, helle Zimmer mit dem Balkon zur Straße einziehen wird.
Ich beschließe, nicht zu Hause zu sein, wenn Anton nach Berlin kommt. Ich rufe meine beste Freundin an. „Kein Problem“, sagt sie. „Das Sofa gehört dir.“ Mein neues Leben wird großartig. Ich fühle mich stark.

„Wann wirst du kommen?“, frage ich Anton.
„Freitag oder Samstag“, sagt er. „Weiß noch nicht.“

Am Freitagabend gehe ich ins Yogastudio. Ich stehe seit ungefähr sieben Minuten auf dem Kopf, als es draußen plötzlich dunkel wird. Das Unwetter beginnt mit einer Sturmbö. Ein Ast kracht gegen das Fenster. Im Nachbarhof beginnt ein Kind zu weinen. Dann trommeln die ersten Tropfen auf das Dach. Es blitzt. Kurz darauf walzt der Donner wie eine Lawine über die Stadt.

Ein Yogi muss auf seinen Körper konzentriert bleiben. Ich strecke mich intensiver gegen die zunehmende Schwerkraft. Ich presse meine Schulterblätter gegen die Rippen, damit mein Herz sich weit öffnen kann. Ich schaue in mein Herz und sehe nichts als das Gewitter. Parvati, die schwarze Göttin, zieht wie eine Gewitterwolke durch meine Mitte. Parvati, die uns die verborgenen Seiten unserer Seele öffnet, die uns davor bewahrt, zu glauben, wir seien lichter und besser als andere Wesen.
Von Parvati heißt es, sie habe, um ihren Gemahl Shiva zurückzuerlangen, Millionen Jahre auf einem Bein gestanden, bis schließlich Pflanzen an ihr emporwuchsen und sie selbst zu einem Baum wurde.
Es gelang ihr, Shiva so sehr zu beeindrucken, dass er sie zur Frau nahm, ohne zu erkennen, dass sich hinter der Baum-Frau seine ehemalige Gemahlin Parvati verbirgt.

Möglich, dass Anton jetzt gerade im Flugzeug sitzt, dass er während der Landung von den Wetterwolken geschüttelt wird oder oben über der Stadt kreisen muss. Könnte sein, dass dem Piloten der Treibstoff ausgeht, wenn das Gewitter sich nicht beruhigt.

Als ich wieder auf den Füßen und auf der Straße stehe und mein Telefon einschalte, habe ich eine Nachricht von Anton: Komme heute abend gegen neun Uhr.

Ich laufe im strömenden Regen nach Hause, nur mit einem T-Shirt und kurzen Hosen bekleidet, Flip-Flops an den Füßen. Der Regen ist warm. Am Horizont wird es heller. Die Kugel des Fernsehturms leuchtet. Falls Grau leuchten kann, dann leuchtet es so wie die Kugel des Fernsehturms nach einem Gewitter.
Ich rufe meine beste Freundin an. „Dieses Unwetter…ich hatte plötzlich Angst, weil…Anton sitzt gerade im Flugzeug, verstehst du? Ich glaube, ich möchte doch lieber bei ihm sein.“
„Habe ich mir schon gedacht“, sagt meine Freundin.

Ich rufe Anton an. Er sitzt bereits in der S-Bahn.
„Hast du Hunger?“
„Hmmm.“
Ich kaufe schnell noch etwas zu essen ein.

„Was denkst du über uns?“, frage ich ihn am nächsten Morgen, während er sich rasiert.
„Die Frage ist doch, was wir eigentlich wollen? Was willst du?“
„Ich möchte dich nicht verlieren. Dich verlieren wäre wie die Musik zu verlieren.“
Er setzt sich neben mich auf die Badewanne. Überall in seinem Gesicht klebt Seife. „Ich habe mich selbst verloren“, sagt er.
Anton streift mir das Hemd über den Kopf. Wieder einmal bin ich nackt. Ich küsse die Seife aus seinen Ohren.
Wir schwören, uns niemals im Stich zu lassen, füreinander da zu sein. Wo auch immer wir sind. Mit wem auch immer. Solange wir atmen.

Ich beschließe, nicht mehr nachzuforschen, was er, wo auch immer, mit wem auch immer, redet und tut. Ich beschließe, dass es seine Sache ist und nichts mit uns zu tun hat, dass alles, was uns mit anderen Menschen verbindet, nur blasser und schwächer sein kann als das, was wir miteinander erleben.
Und wenn ich mich neu verliebe? Könnte ich mein Versprechen dann noch halten?
Ich beschließe, das nicht jetzt zu entscheiden, sondern die Zeit mit Anton zu genießen.