Anton und ich – Im Transit einer Ehe

Freunde erzählen mir, dass es möglich und normal ist, zwei Menschen gleichzeitig zu lieben. Sie hätten das schon erlebt. Monogames Verhalten sei anerzogen. Eine Frage der Kultur.

Mein Schrei, als ich Anton mit der anderen Frau sah, ist völlig unkultiviert. Der Schmerz ist wild und roh. Ich würge unbekannte Laute hervor. Sie ringen sich von der urzeitlichen Grenze zwischen Tier und Mensch in mein Kissen.

Es erscheint mir unmöglich, die Intensität der Liebe für zwei Menschen gleichzeitig zu empfinden. Ich kann es nicht ertragen, meinen Mann, meinen besten Freund, mit einer anderen Frau zu teilen.

Ich streife mit meinen Wimpern, meinen Wangen, meinen Lippen über seinen Körper, dem ich Namen gegeben habe, von denen ich glaubte, dass niemand sie kennt außer ihm und mir, dieser Körper, dessen Geruch mich erregt, dessen Wärme mich tröstet, mit dem ich in diesem Augenblick verschmelzen möchte, damit uns nie wieder der letzte Aufruf zum Einchecken trennt. Sein Körper, an dem ich mich seit Jahren reibe, der mich lehrt, was Mann und Frau unterscheidet und was ich bin: Ein nacktes Wesen. Erschreckend weich.
„Ich möchte, dass du mich noch ein letztes Mal liebst. Dann lasse ich dich gehen.“
Denn mir ist klar, dass unsere Geschichte jetzt zu Ende ist.

Manchmal habe ich mit dem Gedanken gespielt, Anton zu verlassen. Doch ich bin niemals gegangen. Immer, wenn ich es ernsthaft in Erwägung zog, fielen mir die Konzerte ein, die wir gemeinsam besucht haben und die Platten, die er mir beiläufig auf den Schreibtisch gelegt hat. „Hier. Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Musik, die ich durch ihn entdeckt habe: Messiaen, Fauré, Stravinsky, Gorecki, Deep Purple und Steve Reich.

Anton ist nachdenklich und still. Er sitzt häufig am Klavier und schlägt einige Tasten an. Er klimpert ein paar Akkorde. Wir sprechen nicht viel. Ich kann sehen, dass er kämpft.
Ich würde ihm Unrecht tun, wenn ich meinte, er hätte seit Monaten ein Verhältnis mit einer Frau, die ihm nichts bedeutet. Ich mache mir keine Illusionen. Die Ernüchterung trifft mich mit voller Wucht. Jeder Traum perlt daran ab. Jede Hoffnung stirbt.

Ich möchte Anton fragen, wie oft er sie getroffen hat und wo.
Ich möchte ihm sagen, dass ich deutlich spüre, wie sie ihn berührt hat. Sie hat die Sehnsucht nach seinem alten Leben als Musiker zum Klingen gebracht. Ich möchte ihn fragen, ob sie dieselbe Musik liebt wie er und ob sie ein Instrument spielt. Keine einzige dieser Fragen bringe ich jemals über die Lippen. Sie bleiben in meinen Eingeweiden stecken.

Anton sagt: „Gib uns Zeit zum Nachdenken, Distanz zu gewinnen zu dem, was passiert ist. Ich möchte dich nicht verlieren. Ich liebe dich.“
„Also gut“, sage ich. „Wieviel Zeit brauchst du?“
„Und du?“, sagt Anton.
Ich betrachte meine Füße und zucke die Schultern.

Ich sehe mir Wohnungen an. In einem großen, hellen Zimmer mit einem Balkon zur Straße stelle ich mir den Beginn meines neuen Lebens vor. Hier sitzen, ausruhen, arbeiten, während die Abendsonne ins Zimmer scheint, wieder allein, frei, tun und lassen können, was ich will, flirten, andere Menschen treffen, vielleicht reisen…eine neue Musik finden.
„Ich muss noch einmal darüber nachdenken“, sage ich der Vermieterin. „Ich rufe sie morgen an.“

Die Frau, die Anton verlässt, ist eine völlig andere als die, die bei ihm bleiben wird. Ich bin beide Frauen. Ich treibe zwischen meinen Identitäten hin und her. Ich habe keine Ahnung, welche von diesen beiden Frauen mir näher ist, für welche von ihnen ich mich letztendlich entscheiden werde. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.

Der Vermieterin sage ich ab. Es ist noch zu früh. Ich besuche Anton in der Schweiz, wo er zeitweise lebt. Hier hat er die andere Frau getroffen.
„Sie war hier. Sie hat meinen Honig gegessen.“ Ich knalle die Kühlschranktür wieder zu.
„Welchen Honig?“, sagt Anton. „Ich schwöre dir, sie war nicht hier. Wir haben uns nicht mehr gesehen, seit ich aus Japan zurückgekommen bin.“
„Und wo ist der Honig? Du ißt keinen. Das letzte Mal war noch ein halbes Glas da: Dunkler Waldhonig.“
Anton seufzt. „Ich weiß nicht, was mit deinem Honig passiert ist, okay? Aber ich weiß, dass sie nicht hier war.“
„Das kannst du deiner Großmutter erzählen.“

Als Anton im Bad ist, schaue ich mir sein Telefon an. Ich lese alle Kurznachrichten. Ich sehe, wie oft sie ihn und wie oft er sie angerufen hat. Ziemlich oft. Mir zittern die Hände. Mein Herz kracht gegen die Rippen.

„Es ist vorbei“, sage ich. „Die letzte Rolle, die ich spielen will, ist die einer Frau, die ihrem Mann nachspioniert, die sein Telefon und seine Taschen untersucht. Ich hasse mich dafür, so etwas zu tun.“
Ich heule vor Wut. Ich schlage nach ihm. Ich schreie ihn an. Anton wehrt sich nicht.
„Ich finde gut, dass du es getan hast“, sagt er später. „Man tut solche Sachen. Du solltest dich nicht hassen deswegen.“
„Können wir nicht tauschen? Du heiratest sie und ich werde deine Geliebte? Diese Rolle liegt mir mehr.“
„Ich weiß“, sagt Anton. „Darin hast du Erfahrung.“
Ich konnte es ertragen, einen verheirateten Mann zu lieben. Das hier kann ich nicht ertragen. Ich werde verrückt dabei.

„Ich habe mit ihr gesprochen“, sagt Anton. „Wir haben uns sehr lange unterhalten. Wir werden uns nicht mehr sehen.“

Wieder verfangen sich die ungefragten Fragen in meinem Bauch. Sie akzeptiert das? Sie lässt dich einfach gehen? Wird sie damit klar kommen? Wie lange?
Ich frage nur: „Warum?“
Anton sagt: „Weil es auch mir zuerst um mich geht. Weil mir alles zuviel geworden ist.“

Ich bitte ihn, nicht mehr nach Berlin zu kommen.
„Ich möchte aber nächstes Wochenende kommen“, sagt er.
Ich habe mich entschieden. Ich bin die Frau, die Anton verlassen wird. Ich bin die Frau, die sich ärgert, das jemand anderes in das große, helle Zimmer mit dem Balkon zur Straße einziehen wird.
Ich beschließe, nicht zu Hause zu sein, wenn Anton nach Berlin kommt. Ich rufe meine beste Freundin an. „Kein Problem“, sagt sie. „Das Sofa gehört dir.“ Mein neues Leben wird großartig. Ich fühle mich stark.

„Wann wirst du kommen?“, frage ich Anton.
„Freitag oder Samstag“, sagt er. „Weiß noch nicht.“

Am Freitagabend gehe ich ins Yogastudio. Ich stehe seit ungefähr sieben Minuten auf dem Kopf, als es draußen plötzlich dunkel wird. Das Unwetter beginnt mit einer Sturmbö. Ein Ast kracht gegen das Fenster. Im Nachbarhof beginnt ein Kind zu weinen. Dann trommeln die ersten Tropfen auf das Dach. Es blitzt. Kurz darauf walzt der Donner wie eine Lawine über die Stadt.

Ein Yogi muss auf seinen Körper konzentriert bleiben. Ich strecke mich intensiver gegen die zunehmende Schwerkraft. Ich presse meine Schulterblätter gegen die Rippen, damit mein Herz sich weit öffnen kann. Ich schaue in mein Herz und sehe nichts als das Gewitter. Parvati, die schwarze Göttin, zieht wie eine Gewitterwolke durch meine Mitte. Parvati, die uns die verborgenen Seiten unserer Seele öffnet, die uns davor bewahrt, zu glauben, wir seien lichter und besser als andere Wesen.
Von Parvati heißt es, sie habe, um ihren Gemahl Shiva zurückzuerlangen, Millionen Jahre auf einem Bein gestanden, bis schließlich Pflanzen an ihr emporwuchsen und sie selbst zu einem Baum wurde.
Es gelang ihr, Shiva so sehr zu beeindrucken, dass er sie zur Frau nahm, ohne zu erkennen, dass sich hinter der Baum-Frau seine ehemalige Gemahlin Parvati verbirgt.

Möglich, dass Anton jetzt gerade im Flugzeug sitzt, dass er während der Landung von den Wetterwolken geschüttelt wird oder oben über der Stadt kreisen muss. Könnte sein, dass dem Piloten der Treibstoff ausgeht, wenn das Gewitter sich nicht beruhigt.

Als ich wieder auf den Füßen und auf der Straße stehe und mein Telefon einschalte, habe ich eine Nachricht von Anton: Komme heute abend gegen neun Uhr.

Ich laufe im strömenden Regen nach Hause, nur mit einem T-Shirt und kurzen Hosen bekleidet, Flip-Flops an den Füßen. Der Regen ist warm. Am Horizont wird es heller. Die Kugel des Fernsehturms leuchtet. Falls Grau leuchten kann, dann leuchtet es so wie die Kugel des Fernsehturms nach einem Gewitter.
Ich rufe meine beste Freundin an. „Dieses Unwetter…ich hatte plötzlich Angst, weil…Anton sitzt gerade im Flugzeug, verstehst du? Ich glaube, ich möchte doch lieber bei ihm sein.“
„Habe ich mir schon gedacht“, sagt meine Freundin.

Ich rufe Anton an. Er sitzt bereits in der S-Bahn.
„Hast du Hunger?“
„Hmmm.“
Ich kaufe schnell noch etwas zu essen ein.

„Was denkst du über uns?“, frage ich ihn am nächsten Morgen, während er sich rasiert.
„Die Frage ist doch, was wir eigentlich wollen? Was willst du?“
„Ich möchte dich nicht verlieren. Dich verlieren wäre wie die Musik zu verlieren.“
Er setzt sich neben mich auf die Badewanne. Überall in seinem Gesicht klebt Seife. „Ich habe mich selbst verloren“, sagt er.
Anton streift mir das Hemd über den Kopf. Wieder einmal bin ich nackt. Ich küsse die Seife aus seinen Ohren.
Wir schwören, uns niemals im Stich zu lassen, füreinander da zu sein. Wo auch immer wir sind. Mit wem auch immer. Solange wir atmen.

Ich beschließe, nicht mehr nachzuforschen, was er, wo auch immer, mit wem auch immer, redet und tut. Ich beschließe, dass es seine Sache ist und nichts mit uns zu tun hat, dass alles, was uns mit anderen Menschen verbindet, nur blasser und schwächer sein kann als das, was wir miteinander erleben.
Und wenn ich mich neu verliebe? Könnte ich mein Versprechen dann noch halten?
Ich beschließe, das nicht jetzt zu entscheiden, sondern die Zeit mit Anton zu genießen.

Ein Kommentar zu “Anton und ich – Im Transit einer Ehe

  1. Eine so tragische wie romantische Geschichte – vor allem, wenn man sich gerade selbst in den Transitraum katapultiert hat. Gibt es mehr von Anton und der Erzählerin zu lesen? Ich könnte süchtig danach werden.

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