Anton und ich – Warten

Mit Anton, das war von Anfang an etwas Besonderes. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich in einer stabilen Beziehung angekommen. Daran änderte sich auch nichts, als er wegen seiner Arbeit eine zweite Wohnung in der Schweiz mietete und wir seither viele Wochen getrennt verbringen.
Vor einigen Wochen begann sich ein schlimmer Verdacht in mir zu regen. Anton war schlanker geworden, nervöser. Er schien häufig abwesend. Am Telefon vermisste ich seine kleinen Witze.

An einem Wochenende schaltete er das Telefon aus und sagte, er müsse über sich und seine Arbeit nachdenken. Es ändere sich gerade sehr viel. Er hatte offenbar keine Lust mehr, mit mir über seine Arbeitsprobleme zu sprechen. Manchmal hatte es mich genervt. Jetzt vermisste ich sein Vertrauen.

„Ich verliere Anton“, erzählte ich einer Freundin am Telefon.
„Bleib cool“, sagte sie. „Es wird genauso sein, wie er sagt: Er muss nachdenken.“

Auf die Einladung einer anderen Freundin zur Sommernachtsparty auf dem Dach antwortete ich mit einer SMS: „Bin nicht in Partylaune. Anton liebt eine andere Frau.“
„Geht ein Mann, warten drei neue“, schrieb sie zurück. „Komm vorbei.“

Eines Nachts klingelte ich bei meiner liebsten Freundin, die gerade ein Baby erwartet. „Ich weiß, dass Anton in diesem Moment mit einer anderen Frau schläft. Ich werde verrückt. Kann ich heute Nacht bei euch bleiben?“
Sie richtete mir das Sofa her und sagte, ich solle mit Anton über die Sache reden.

Anton zerstreute meine Bedenken. „Niemals würde ich dich wegen einer anderen Frau verlassen.“
Ich teilte es meinen Freundinnen umgehend mit.
Zwei Stunden später rief ich sie der Reihe nach wieder an. „Dass er mich nicht wegen einer anderen verlässt, heißt aber nicht, dass es keine andere gibt, oder?“

Vor zwei Tagen, Anton war gerade in ein Flugzeug nach Tokio gestiegen, klingelte eine fremde Frau an meiner Wohnungstür. Sie sagte, sie sei die andere Frau in Antons Leben. Sie war aus der Schweiz nach Berlin gereist, um mir zu sagen, dass sie Anton nun seit fünf Monaten kennt und spürt, dass er der Mann ihres Lebens ist.

Meine geschiedene Freundin sagt, ich solle mich sofort von Anton trennen. Sie sagt, ich solle mich endlich auf mich selbst besinnen, auf das, was ICH will.
Ich finde, dass sie Recht hat.

Ich räume Antons Sachen aus unserem gemeinsamen Kleiderschrank und stopfe sie unter Verwünschungen in eine Umzugskiste. Die Umzugskiste schiebe ich in den Flur. Anton kann sie sich gleich unter den Arm klemmen, wenn er für immer zu ihr in die Schweiz fährt.

Ich schiebe die Bügel mit meinen Kleidungsstücken weit auseinander. Sie waren so gepresst die ganzen Jahre. Ich hole tief Luft.
Ich betrachte die befreiten Mäntel, Röcke, Hosen und Blusen und denke darüber nach, wer ICH bin und was ICH eigentlich will.

Meine jugendliche Freundin, die gerade auf Wohnungssuche ist, bietet mir ihre alte Wohnung zur Nachmiete an. „Hell und gemütlich und du kannst jederzeit raus aufs Dach.“ Am liebsten würde ich sofort nach Friedrichshain ziehen und den Sommer auf dem Dach verbringen. Direkt unter den Sternen. Und atmen.

Ich kann nicht schlafen und nicht essen. Meine Herzfrequenz hat sich verdreifacht. Ich rauche wieder. Meine Chefin legt mir nahe, zum Arzt zu gehen. Ich kann mich nur schwer auf meine Arbeit konzentrieren.

Ziellos treibe ich durch die Straßen. In diesen Tagen, während ich darauf warte, dass Anton aus Tokio zurückkommt und mir gegenüber steht, nehme ich alles deutlicher wahr als sonst. Die Gesichter der Passanten, ihre Hast, ihre Bitterkeit, ihren Gleichmut.
Die beiden Mädchen, die seit dem Morgen Zeitungsabos anbieten. Wieder und wieder schmettern sie den Passanten denselben Spruch entgegen, strecken die Zeitungen über die Köpfe der Menschenmenge, gegen den Strom. Die Tram, die an der Ampel heulend zum Stehen kommt. Fußgänger schieben sich zwischen den puffenden Autos hindurch. Ein Preßlufthammer knattert. Der Arbeiter wischt sich den Schweiß mit einem ledernen Handschuh von der Stirn. Staub glitzert in der Sonne und rieselt auf nackte, verschwitzte Haut.
Die Straße tröstet mich. Ich weiß, dass ich Anton gehen lassen, neu beginnen kann, wenn nicht auf einem Dach unter Sternen, dann in einem Hinterhof. Inmitten der Menschen, die kämpfen und hoffen, dringe ich zum süßen Kern meines Schmerzes vor. Es ist die Liebe selbst.

Kaum senkt sich der Abend in die Straßen, kommt die Angst. Sie breitet sich zu einem Abgrund aus. Ich rutsche ab. Ich falle. Im Fallen wird mir klar, dass ich selbst der Abgrund bin. Ich bin der Grand Canyon der Furcht.
Ich bereue, manchmal ungeduldig auf die Uhr geschaut zu haben, wenn Anton von den Problemen mit seinen Schweizer Kollegen erzählt hat. Ich bereue, ihn beschimpft zu haben, wenn ich lange auf ihn warten musste, wenn wir eine Tour ins Grüne machen wollten und er ewig nicht fertig wurde, weil er wieder alles verlegt hatte: Seinen Schlüssel, sein Geld, die Bahncard. Am meisten bereue ich die Nächte, in denen ich keine Lust auf Sex hatte.

Werde ich allein sein können? Werde ich jemals wieder lieben? Bin ich nicht längst zu erstarrt, um mich dem Leben hingeben zu können?

Ich rufe meine finnische Freundin an. „Anton ist ganz schön blöd, eine Frau wie dich aufs Spiel zu setzen“, sagt sie.

Ich rufe meine französische Freundin an. „Verflixter Anton“, sagt sie. „Was macht er mit dir?“

Eine Stunde vor Mitternacht rufe ich meine verheiratete, schwangere Freundin an. „Darf ich vorbei kommen?“
„Klar.“
„Vielleicht war diese Frau gar nicht wichtig für Anton. Vielleicht war sie hier, weil er gerade mit ihr Schluss gemacht hat“, sagt meine verheiratete, schwangere Freundin.

Ich bin sicher, dass sie Recht hat. Am nächsten Tag packe ich Antons Sachen wieder in den Kleiderschrank. Ich stecke meinen Kopf zwischen seine Hemden und Jacken. Ich sauge seinen Duft tief ein. Plötzlich ist die Sehnsucht nach seiner hellen, warmen Stimme so übermächtig, dass ich ihn anrufe.
„Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen.“
„Nur noch zwei Tage, dann bin ich zurück. Ist alles in Ordnung?“
„Mmm.“

Ich rufe einen Freund an. Er hat mir einmal gesagt, dass er jederzeit kommen und mich trösten würde. Anruf genügt.
Er ist anders als meine Freundinnen. Man kann mit ihm nicht über dieses Auf und Ab sprechen. Er kennt das nicht. Er sagt nur: „Tut mir leid, Mensch.“ Er fühlt sich nicht missbraucht, weil ich einfach so mit ihm schlafe, weil ich Trost brauche.

Im Café treffe ich meine weise Freundin.
„Warum sollte Anton dich verlassen?“, sagt sie. „In der Schweiz hat er sie. Hier hat er seine Wohnung, seine Post und dich, die sich um alles kümmert.
„Ich muss weg…“
„Was hast du davon, umzuziehen? Du änderst ja nichts. Du bist auf dem Dach genauso traurig wie in eurer komfortablen Wohnung.“
„Aber ich…ich ertrage das nicht.“
„Was? Dass es ihm gerade besser geht als dir?“
„Nein, aber dieses Gefühl, ein Abgrund zu sein und gleichzeitig das Bungy-Seil, an dem mein ICH auf und ab schnellt. Ich möchte die Tür hinter mir zumachen und zur Ruhe kommen, meine Wunden lecken.“
„Möchtest du die Tür wirklich schon zumachen? Was ist denn passiert außer dem, was überall und jedem passiert?“
„Deshalb trennen sich alle überall.“
„Lebst du wirklich besser ohne ihn?“
„Kann man gut leben mit einem Kerl, der einen monatelang betrogen hat?“
„Finde es heraus“, sagt meine weise Freundin. „Setze dir eine Frist. Warte, bis dein Herz wieder normal schlägt.“

Die andere Frau in Antons Leben hat mir geschrieben. Sie fragt, ob wir Brieffreundinnen werden. Ich zerreiße den Brief. Niemals wird sie zum Kreis meiner großartigen Freundinnen zählen.

Stunden, bevor Anton landet, fahre ich zum Flughafen. Ich schlendere durch die Hallen und führe imaginäre Dialoge mit ihm. Die andere Frau kommt darin nicht vor. Sie hat hier nichts zu suchen.

Anton umarmt mich. „Was ist los? Du zitterst.“
„Sie war bei mir“, sage ich.
„Wer?“, sagt Anton.
„Wer?“, äffe ich ihn nach. „Die andere Frau in deinem Leben.“
Anton sagt nichts, aber ich spüre seine Erschütterung. Er lässt seinen Koffer stehen und entfernt sich einige Schritte, bleibt stehen, schaut aus der Halle auf die Taxispur vor dem Eingang, kehrt zurück.
„Komm.“
Wir setzen uns in das Bistro vor der Anzeigetafel.
„Warum hast du es nicht gesagt?“
„Ich konnte nicht“, sagt Anton. Er blickt auf die Tischplatte. „In den letzten Wochen ist mir alles zuviel geworden. Deshalb bin ich ein paar Tage länger in Tokio geblieben. Um nachzudenken.“
Dann lenkt er auch schon ab, spricht über seine Arbeit, dass er nicht so weitermachen möchte, dass es ihn nervt, sich immer beweisen zu müssen, dass die Schweiz ihm bis sonstwo steht und überhaupt…
„Ich bin kein Manager.“ Er schaut mich an. Er hat Tränen in den Augen. „In Tokio ist mir klar geworden, dass ich wieder ein Clown sein will. Ich bin ein Clown.“ Er lässt den Kopf in seine Arme auf dem kleinen Tisch fallen und schluchzt.
Ich streichele Antons Locken. Sie sind in den letzten Jahren ein bißchen grau geworden. Auf dem Foto von ihm als Musikclown grinst er weiß geschminkt unter seinen dunkelbraunen Locken hervor. Das war lange, bevor wir uns getroffen haben.
Er sagt, er wolle weg, etwas Neues beginnen, irgendwo.
„Geh mit ihr nach Timbuktu oder dahin, wo der Pfeffer wächst. Ich werde dahin gehen, wo man mich liebt.“
„Ich werde nicht bei ihr bleiben“, schluchzt Anton. Ich reiche ihm ein Taschentuch. Die Serviererin bringt ein Glas Wasser.
Wir halten uns an den Händen in diesem Transitraum unseres Lebens, ungewiss, wohin es uns tragen wird, ob gemeinsam oder getrennt.
Anton beruhigt sich langsam. Es gibt in diesem Moment nicht viel zu reden.
Er sagt nur: „Du siehst gut aus.“
„Aber ich bin fix und fertig.“
„Es steht dir gut.“
Wir schauen hinaus auf die Rollbahn.
Irgendwann stehen wir auf und verlassen den Flughafen, stützen uns gegenseitig wie Gestrandete nach einem Schiffbruch.
Man muss nicht immer reden. Manchmal tut es einfach gut, nichts zu sagen.
Später, wenn Anton duscht, werde ich meine Freundinnen anrufen.

Ein Kommentar zu “Anton und ich – Warten

  1. Hallo Frau Schrader,

    die Geschichte ist wirklich wunderschön, habe sie gleich jemandem vorgekesen.
    Bin zufällig über deine Website gestolpert; werde sie jetzt öfter lesen.

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