Für meine Facebook-Freunde im April 2022

Neulich las ich eine Eurer Diskussionen, setzte mehrmals zu einer Antwort, einem Beitrag an, doch kam ich nicht weiter. 

Ich habe mich für meine Bitterkeit entschuldigt angesichts dessen, was ich dort von Euch las. In mehreren Beiträgen wurde der Sinn politischen Engagements in Frage gestellt, er bringe ja nichts, interessiere Politiker überhaupt nicht. Was haben die „Kerzlein und Mahnwachen“ damals gebracht, als der Irakkrieg begann, schrieb eine. Er wurde dennoch geführt. Er war grausam. Und er basierte auf einer Lüge. 

Eine andere stellte die Frage, ob wir überhaupt richtig informiert würden, wieso „Gräueltaten verdeckt“ blieben. 

Ich beschwerte mich über die politische Trägheit und das allgemeine Desinteresse in diesem Land. Ich war wütend und ich entschuldigte mich dafür. Das Wort Bitterkeit, das ich in meinem Post gebrauchte, triggerte einige von Euch. Es wurde sehr schnell abgewiesen. Ihr bedauertet mich, wünschtet mir, ich käme da raus. Ich spürte in dieser Diskussion Eure, unsere Hilflosigkeit, Eure, unsere Ohnmacht. Ich spürte Eure eigene Angst davor, bitter zu werden angesichts dessen, was geschieht, angesichts der Desillusionierung aus vergangenen Kämpfen. 

Ich weiß nicht, über welches Ereignis Ihr gesprochen habt an diesem 5. April 2022. 

Seit dem 24. Februar 2022 höre ich kein Radio mehr. Fernsehen gehörte auch davor nicht zu meinen Gewohnheiten. In den ersten Tagen ohne Radio war es plötzlich still in meiner Küche. Aber in mir drinnen war Kriegsgetöse. Diesen Kontrast zwischen dem Lärm drinnen und der Stille draußen konnte ich kaum ertragen. Ich begann, den Podcast polski daily for beginners zu hören, da ich seit zwei Jahren polnisch lerne. In den Interviews erzählen Leute von ihrer Familie, vom Leben mit ihrer Katze, von den Frühstücksgewohnheiten in Italien und Polen und vieles andere Interessante, Spannende. Ich erfuhr etwas über das Leben der Schauspielerin Pola Negri. 

Es ist nicht so, dass ich völlig dicht gemacht habe. Ich informiere mich über den Krieg in der Ukraine in den sozialen Netzwerken, hauptsächlich auf Twitter. Auch auf Facebook finde ich interessante Hintergrundberichte, meist aus linken Quellen. 

In den ersten Tagen des Krieges gab es auf Twitter viele Augenzeugenberichte aus der Ukraine, manchmal mit Filmaufnahmen. Irgendwann hörte das auf, und ich musste neue Quellen finden. Bisher hatten mich lediglich Tweets zum Klimawandel und zu Rassismus und Antisemitismus interessiert. Weil ich entsprechenden Quellen folge, erfuhr ich sofort vom Tod des Holocaustüberlebenden Boris Romantschenko, von der Bombardierung der Gedenkstätte Babyn Jar und eines Holocaustdenkmals in der Nähe von Charkiv. 

Dass ich das Radio nicht einschalte, ist eine Abwehr- und Schutzreaktion. Ich will keine Frontberichte hören. Obwohl ich mir auch auf Twitter schon eine Karte angesehen habe, auf denen die Frontlinien und die Orte, an denen gekämpft wird, eingetragen sind. Eigentlich bekomme ich ohne Radio und Fernsehen eine Menge mit. Es ist eher die Art der Berichterstattung im Radio, vor der ich Angst habe, die in direkter Linie zu den Traumata meiner Kindheit führt. Die emotionslose Stimme der Nachrichtensprecher*innen, wenn sie über die Front und Details des Krieges sprechen. Das ist komplett anders als die ebenso emotionslos vorgetragenen Corona-Todesfälle. Corona war neu und fremd. Corona hatte auch mit Gewalt zu tun, mit unserer Gewalt gegen den Planeten, doch zugleich entstand mit dieser neuen Gefahr eine breite Front der Aufklärung und Vernunft, wie ich sie kaum für möglich gehalten hatte. Es gab keinen Putin, kein abstraktes Waffenarsenal, keinen roten Knopf. Stattdessen erklärte Professor Drosten das Virus, diese Lebensform, die eigentlich keine ist. Etwas zwischen Leben und Tod, gewissermaßen auch eine Waffe. Eine Waffe von Gaia. Es gab Zeiten, da liebte ich das Virus. Als die Straßen leer waren. Als die Maschine tagelang stillstand. Als klar wurde, dass es möglich ist, die Maschine zu stoppen. 

Es gibt keinen Professor Drosten des Krieges, auch wenn der NDR so tut. Drosten hat nicht länger seinen Sendeplatz, den haben jetzt Militärexpert*innen eingenommen. Wären es Friedensforscher*innen, würde ich ihnen zuhören.  

Als ich Kind war, war kein Krieg. Und doch war Krieg. Jedes Flugzeug erinnerte mich an die Bomben, die auf Dresden gefallen waren. Ich hatte es nicht selbst erlebt. Meine Mutter hatte die Bomben und die Toten gesehen als Kind. Ihr Erleben wurde mein Erleben. Ihre Angst wurde meine Angst. Krieg ist das Schlimmste. Mit dieser Überzeugung wuchs ich auf. Ich erwarb sie in der Schule. Ich verinnerlichte sie zu Hause. Meine Mutter schaltete den Fernseher aus, wenn darin Krieg war. Ich durfte keine Filme sehen, in denen Krieg war und/oder geschossen wurde. Da war ich zehn Jahre alt. Vorher hatten wir keinen Fernseher besessen. 

Ich bin zehn Jahre alt, als ich das erste Mal Fotos von Auschwitz sehe. Zufällig. Der Bildband steht in unserem Klassenzimmer, in dem in zwanzig Minuten der Deutschunterricht beginnen wird. Es ist die große Pause vor der letzten Stunde. In diesem Raum steht ein Bücherregal. Ich esse einen Apfel. Es ist warm, einer dieser Frühlingstage, an denen es morgens kalt ist und mittags heiß. Ich trage einen grünen Wollpullover mit kurzen Ärmeln und Cordhosen. Ich erinnere mich an jedes Detail des Moments, als ich dieses Buch aufschlage und die Fotos sehe. Der Moment brennt sich ein wie eine Tätowierung. Dieser Moment ändert alles. Dieser Moment ist stets gegenwärtig.

Von diesem Tag an bin ich besessen davon, herauszufinden, was geschehen war. Bis heute. Bis zu diesem Tag suche ich und forsche. 

Im Radio war immer Krieg. Im Radio und im Fernsehen standen die Kernwaffen in endlosen Reihen aufgereiht. Es war nur die Frage eines Knopfdrucks und alles wäre zu Ende. Mit dieser Zukunftsaussicht wuchs ich heran und zeugte doch ein Kind. Unter Tränen. Als ich schwanger war, wurden weitere Atomsprengköpfe in den Wäldern um Berlin stationiert. Ich weinte viel. Ich fühlte mich schuldig. Ich war sehr jung, als meine Tochter geboren wurde, und sehr depressiv. Ich begann, mich selbst zu zerstören. Denn warum sollte ich das den Bomben überlassen? Ich zerstörte mich und suchte doch nach einem Ausweg. Ich erlebte Irrtümer. Bis zu diesem Tag habe ich überlebt: meine Selbstzerstörung, meine Irrtümer, meine alles verschlingende Traurigkeit. 

Die schlimmsten Bilder meiner Kindheit sind die Fotos von Auschwitz und die Vorstellung von hilflosen, deutschen Familien, die in ihren Kellern darauf warten, dass der Krieg endlich aufhört und nichts vom Holocaust wissen. 

Wenn ich lese, dass Widerstand keinen Sinn macht, dass er die Politiker nicht interessiert, wenn ich die Klage darüber lese, nicht richtig informiert zu werden, dann ploppen meine Bilder dieser deutschen Familien in ihren Kellern auf. Dann wird mein Schmerz getriggert, der Schmerz, deutsch zu sein, der Schmerz, Kind kriegstraumatisierter Kinder zu sein und selbst ein Kind belastet zu haben mit der unendlichen Kette des Krieges und der Angst.

Meine Mutter machte den Fernseher aus. Ich schalte das Radio aus. 

Ich bin nicht bitter. Ich bin eine heillose Optimistin, eine Menschenfreundin, eine Kriegerin. Das bin ich geworden. Ich gebe nicht auf. Ich gehe auf die Straße. Ich wühle nach Antworten, auch im Dreck. 2011 war ich Teil einer weltweiten Bewegung, die so stark war, dass ich glaubte: Jetzt! Jetzt beginnt es! Die Bewegung fiel auseinander, aber lebte in ihren Bruchstücken weiter. Heute weiß ich rückblickend, dass damals tatsächlich etwas begann. Es wird Erzählungen darüber geben. Doch es geschah nicht das, was wir erwartet hatten. Mir wurde klar, dass wir nicht viel erwarten dürfen. Es ist wahr: Du kannst mit „Kerzlein und Mahnwachen“ keinen Krieg verhindern. 

Widerstand verhindert keine Kriege. Wiederstand verändert die Welt langsam, vielleicht zu langsam. Aber ich glaube daran, dass wir Menschen zu Gaia gehören und dass sie uns nicht verlieren möchte. Widerstand ist Würde und Schönheit. Dieser Schönheit fühle ich mich verpflichtet. 

Es geht um die Erzählungen für Deine Kinder. Wie hast Du Dein Leben verbracht? Was hast Du getan? Auf welcher Seite hast Du gestanden? Fühltest Du Dich der Würde und Schönheit verpflichtet? 

Es geht darum, solidarisch verbunden zu sein mit allen, die daran glauben, dass eine andere Welt möglich ist. Eine andere Welt ist möglich. Und jeder, der sich die Zeit nimmt, das auf ein Pappschild zu schreiben und es hoch zu halten, jeder, der eine Demonstration mit seinem Namen anmeldet, jeder, der eine Petition in seinem Namen ins Netz stellt, jeder, der irgendwo seine Stimme, seinen Namen erhebt oder mit seinem Körper den öffentlichen Raum besetzt, beweist das. 

Das mindeste, was wir tun können, ist, dass wir Aktivist*innen unterstützen, indem wir einfach da sind, mit ihnen, auf der Straße. Ich wünschte, der Tag hätte die doppelte Länge. Ich wünschte, ich hätte mehr Jahre voller Kraft. Ich muss entscheiden, mit wem ich auf die Straße gehe, wo und in welchem Umfang ich mich engagiere. Meine Zeit ist begrenzt. Irgendwann werden wir als Hologramm gleichzeitig an mehreren Orten anwesend sein können. Aber auch dann werden wir entscheiden müssen, wohin wir diesen einen Körper bewegen.

Liebeskummer

Illustration © Tine Schulz @tine.schulz.illustration

Was für eine maßlose Untertreibung! Kummer. Kümmerlich. Verkümmert. Nein. Dieser Schmerz ist riesig. Er ist King Kong

Jetzt hat es mich erwischt. Risikobegegnung. Ein Gespräch, länger als 15 Minuten, und dann diese beunruhigende Nähe. Immer noch, nach so vielen Jahren. 

Ich bin ins Trespassers geflüchtet. Vor mir steht der zweite Gin Tonic und meine Freundin ist immer noch nicht da. Diesmal muss sie mir zuhören. Ich werde sie nicht mit Schwärmereien langweilen und all diesen hilflosen Waswärewenns, die seit drei Wochen in meinem Kopf Karussell fahren. Ich muss mit ihr das Phänomen Liebeskummer diskutieren. Liebeskummer! Was für eine hässliche Verallgemeinerung für einen Schmerz, der jedes Mal neu und jedes Mal anders ist und deshalb von niemandem geteilt werden kann. Er gehört mir allein. Ich hatte mich fast schon danach gesehnt, die lebendige Melancholie wieder einmal zu spüren, diese schöne Traurigkeit, wie wenn du nach einem Abend mit Freunden allein und halb verlassen das schmutzige Geschirr in die Küche trägst, am nächsten Morgen, nachdem sie wieder abgereist sind. Halb verlassen, weil sie ja noch zu deiner Welt gehören. Sie kommen wieder. Und bis dahin wird es Chats und Telefonate geben. 

Aber das hier ist der pure Schmerz der völligen Verlassenheit für immer. So schlimm war es noch nie. Das war definitiv meine letzte Chance. Seit Jahren sind wir uns zufällig wieder über den Weg gelaufen. Einmal hatte ich ihn von weiten gesehen, auch das ist schon länger her. Er war mit seinen Kindern. Das jüngste wiegte er in beiden Armen wie die Madonna ihr Neugeborenes, aber seins war kein Baby mehr, sondern ein Kind, das genauso gut an seiner Hand hätte laufen können, in seinen Gummistiefeln. Sein Gesicht war ein bisschen verzerrt von der Anstrengung. Überhaupt hatte er sich verändert, das ist normal. Doch jetzt war er wieder derselbe Typ wie damals und ich sofort wieder verliebt. Jetzt weiß ich, dass auch er einmal in mich verliebt war. Wir waren beide zu schüchtern, es uns zu sagen. Nun haben wir uns eine Minimalaffäre gegönnt, das musste sein nach diesem Geständnis. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Es ist vorbei. Geblieben ist der Schmerz. Wieso lässt er sich nicht abschalten, wenn wir doch in der Lage sind, eine Beziehung schlagartig zu beenden? Wenn wir so von unserer Vernunft gesteuert sind, warum beherrschen wir dann nicht unsere Emotionen? 

Es ist ein absurder, sinnloser Schmerz. Er kommt zu spät. Alles ist hoffnungslos. 

Wir wurden darüber aufgeklärt, dass Gefühle gut und richtig sind. Wir haben gelernt, unsere Wut zu umarmen. Wir wissen, dass Angst davor schützt, lebensgefährlichen Aktivitäten nachzugehen. Trauer ist gesellschaftlich anerkannt. Wenn einer gestorben ist, kümmert sich die ganze Welt um die Witwe. Sie bekommt Geschenke und überall eine Krankschreibung. Sie wird eingeladen und getröstet. Aber wenn du nach Jahren durch Zufall darauf gestoßen wirst, dass du die Liebe deines Lebens verkackt hast, dann wirst du nur schief angegrinst und taugst allenfalls noch als abschreckendes Beispiel für die Nachwelt. Sie war zu schüchtern! Hahaha! Sieh sie dir an! Willst du so enden? Dann hör auf, schüchtern zu sein! Hab keine Angst dich zu blamieren! Sonst kommt die Blamage, wenn es längst zu spät ist! Wenn nichts mehr zu retten ist, treibt dich der Kummer, die peinlichsten Dinge zu tun.

Ja, du blödes Schicksal, ich hab´s kapiert. Und wo, bitte schön, ist nun der Schalter?

Noch einen Gin Tonic bitte! Evolutionär betrachtet, macht Liebeskummer erst Recht keinen Sinn. Er hindert Menschen im zeugungs- und gebärfähigen Alter wochenlang daran, sich fortzupflanzen. Liebeskummer! Was für eine maßlose Untertreibung! Kummer. Kümmerlich. Verkümmert. Nein. Dieser Schmerz ist riesig. Er ist King-Kong. Und plötzlich, während meine Freundin mich in der Kälte warten lässt und ich im Phon das dämliche Wort eingebe, um eine Erklärung zu finden für das, was mir gerade widerfährt, schreitet der Riesenaffe über den Platz auf mich zu und ich kapiere schlagartig. Wir sind von Wesen umgeben, die sich von unserem Liebeskummer ernähren. Sie sind unsichtbar. Aliens. Oder winzig wie Viren. Liebeskummer, lese ich, veraltet: Herzeleid, bezeichnet umgangssprachlich die emotionale Reaktion auf unerfüllte oder verlorene Liebe. Im Volksmund spricht man von Gebrochenem Herzen. Nach der ersten Phase des Nicht-wahr-haben-wollens, in der der oder die Verlassene oft versucht, den verlorenen Partner zurückzugewinnen, stellt sich eine Trauerphase ein, die von Monaten bis zu Jahren dauern kann. Ich kann jedes Wort bestätigen. Es dauert bis zu J A H R E N. Wie aberwitzig! Und dann -haltet euch fest- nach Monaten, vielleicht Jahren, beginnt Phase drei, in der das Leben wieder beginnt, Spaß zu machen und wir das Geschehen verarbeiten. Nach Jahren also fällt dir auf, dass der Typ, dem du nachgetrauert hast, der dich in sexuelle Inaktivität getrieben hat, als hättest du ein Gelübde abgelegt, nicht Gott war, sondern ein narzisstischer Holzkopf. Das ergibt doch keinen Sinn! 

Meine Freundin kommt. Sie wickelt sich eine Decke um die Hüften, zündet sich einen Glimmstängel an und lässt sich neben mir auf die Bank fallen. Hast du jemals darüber nachgedacht, wieso immer mehr Singles in den Großstädten leben, frage ich sie. So sichern die Liebeskummer-Aliens sich ihr Futter. Sie manipulieren uns. Sie sind überall. Sie haben das Internet besetzt. Ist doch logisch! Denk nach! Nur so können sie uns permanent in neue Beziehungen drängen, die wir bald darauf kummervoll beenden müssen. 

Meine Worte dampfen stoßweise in die Winternacht. Meine Freundin kichert und fragt, was ich getrunken habe. Sie bestellt Kamillentee. Hast du dich entgegen aller guten Vorsätze doch wieder im Netz auf die Suche begeben? 

Ich war auf der Straße, zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich rede auch gar nicht von mir, ich meine generell. Liebeskummer passt nicht in eine Welt, in der alles irgendeinem Zweck dient. 

Geht vorbei, sagt sie. 

Wie ich das hasse, wenn jemand sagt: Geht vorbei! Ja klar, auch das Leben geht vorbei. Alles ist irgendwann vorbei. 

Sie sagt: Wird Zeit, dass wir mal wieder tanzen gehen! 

Tanzen gehen! Ha! Ein Lösungsweg, der bis auf unabsehbare Zeit verbarrikadiert ist. Danke!

Bleib entspannt, sagt meine Freundin und sieht mich an, als wolle ich ihr den Liebeskummer-King-Kong auf den Hals hetzen. Du solltest mal in den Süden fliegen. Du hast doch am Ende des Winters immer irgendwas: Depressionen, Schwächeanfälle, Spuren von Wahnsinn…

Ich ärgere mich über sie und stelle mir vor, in den Süden zu fahren. Was wäre denn anders, wenn ich mich am Meeresstrand entlang schleppen würde oder durch die Straßen einer fremden Stadt? Alles nähme ich mit, meine Sehnsucht und den Schmerz. Mein Herz würde vor Einsamkeit und Angst hart pochen. 

Und doch mache ich es. Ich reise in den Süden, laufe allein am leeren Strand entlang, vorbei an einer Ferienstadt, deren Fenster mit Läden verrammelt sind, wie mein Glück verrammelt ist. Ein Ort, so verlassen wie mein Herz. 

Eine Stunde hinter der Stadt schieben Felsen ihre spitzen Scharten in den Sand. Es ist kühl, aber heller als bei uns im Norden. Das Licht ist warm. Die Felsen leuchten rötlich. Ich möchte diese Bilder mit jemanden teilen. Nicht mit irgendwem. Ich möchte sie einem Menschen schicken, der begierig darauf ist, von mir zu hören. Diesen Menschen gibt es nicht. Ich denke darüber nach, hinter dem nächsten Felsvorsprung für immer aus der Welt zu verschwinden. Würde mich jemand vermissen? Würde jemand länger als zwei Wochen um mich trauern? Ich habe eine Tochter, aber sie ist erwachsen und lebt längst ihr eigenes Leben. Welche Erinnerungen an mich würde sie behalten? Würde ich meinen Freundinnen im Trespassers fehlen? Bin ich wirklich eine gute Zuhörerin? Ich setze mich auf einen Stein und blicke über das Meer, das in kleinen Wellen gegen den Sand gluckst und ebenso rötlich schimmert wie die Felsen. 

Ich sollte anfangen, mich darum zu kümmern, am Ende von jemandem vermisst zu werden. Ich sollte meine Freunde häufiger anrufen, mich mehr für sie interessieren. Ich wühle das Telefon aus der Tasche und schreibe meinen Freundinnen aus dem Trespassers, wie sehr ich sie vermisse. Meiner Tochter beschreibe ich das rötliche Licht im Süden und den Unterschied zwischen diesem Meer und der Ostsee, wo wir mal zusammen Ferien gemacht haben. Es wird eine lange Nachricht. Ich schreibe, dass ich sie gern wieder einmal zum Essen einladen und mit ihr reden würde, über ihr Leben. Ich schreibe, dass ich ihre Sommersprossen küsse und ihr Haar streichele. Ich schreibe, dass ich immer an sie denke, besonders, wenn ich etwas Schönes erlebe. Meiner Dienstags-Freundin schicke ich zusätzlich Dankeschön-Herzen für den Rat, mal wieder in den Süden zu fahren.

Mir fällt auf, dass ich grinse, während ich das alles tippe, dass ich meinen Körper in die Worte lege. Wie eine Pianistin sich über die Klavier-Tasten körperlich in ihre Musik begibt, gehe ich mit meinen Nachrichten in das kleine Phon. Ich atme sehr tief, als ich das bemerke. Ich mache eine Pause und lausche dem Meer und dann geschieht etwas Seltsames: Eine Welle von Glück flutet mich. Mein Herz pocht nicht mehr. Es pulsiert. Ich laufe zurück und kaufe in dem einzigen Kiosk, der am Rand der verlassenen Ferienstadt eine Flagge gehisst hat, Ansichtskarten. Sie sind wellig und klamm von der Winternässe in diesem Bungalow, der heute wahrscheinlich das erste Mal nach dem Winter wieder geöffnet ist. Ich schäme mich nicht für mein schlechtes Französisch, als ich sie kaufe und dazu einen kleinen, schwarzen Kaffee bestelle, wie ihn die Einheimischen hier trinken. Ich bin die einzige Fremde. Eben dachte ich noch, dass es typisch für mich ist, in der falschen Saison umher zu irren. Aber jetzt denke ich, wie toll es ist, die einzige Urlauberin in dem einzigen geöffneten Haus dieser Stadt zu sein. So, als wäre dieser einzige Tag herausgeschnitten aus der Zeit, als schwebten der Kiosk und wir losgelöst über dem Meer. Der frische Wind hat alles Davor und alles Drumherum unter uns weg gepustet, ins Landesinnere, über das hinweg ich später nach Hause fliegen werde. 

Podcast

Ateliergespräch No. 2

„Ich möchte sie gar nicht missen, meine komischen Einstiegsjahre…“

Gespräch mit Kerstin Seltmann in ihrem Haus in Kemlitz bei Baruth am 26. Januar 2021. Die Künstlerin erzählt, wie sie in den letzten Jahren der DDR eine akademische Ausbildung erhielt, ohne an einer Hochschule eingeschrieben zu sein.

https://atelier.podigee.io/5-kerstin-seltmann

Blick in Skizzenbücher von Kerstin Seltmann, in ihrem Atelier im Januar 2021

Podcast

Ateliergespräch No 1

„Meine Augen sehen dann weniger als meine Hände“

Gespräch mit der Bildhauerin Anna Franziska Schwarzbach am 18. November 2020 in ihrem Haus in Berlin-Weißensee …

… über ihre Annäherung an Alexander Puschkin, Mstislaw Rostropowitsch, Albert Einstein und Mileva Marić.  

https://atelier.podigee.io/4-franziska-schwarzbach

Anna Franziska Schwarzbachs Bildnis der Bauhauskünstlerin Maria Brandt. Eisen. Foto © Kathrin Schrader

https://www.franziska-schwarzbach.de

Podcast

Im Corona-Shutdown telefoniere ich aus dem Homeoffice in meiner Küche mit Künstlerinnen. Achtung! Die Tonqualität ist den Umständen entsprechend schlecht.

Episode 17: Ein Telefon-Gespräch mit Marianne Pitzen

https://inselgalerie.podigee.io/17-wie-geht-es-dir-marianne

Das Cover-Bild dieser Episode zeigt Marianne Pitzen in ihrer Installation „Matronales Gremium“ 2000/2020 work in progress. Installation mit sechs Figuren und Schalen. Rotes Papier und Leim.

https://www.frauenmuseum.de

https://www.inselgalerie-berlin.de