Der Ungleichgestellte

Berliner Zeitung

Der Zahnarzt Ali Al-Akla hat keine Probleme, in Berlin eine Arbeit in seinem Beruf zu finden. Aber er darf ihn nicht ausüben.

Dreizehn Jahre sind vergangen, seit der Zahnarzt Ali Al-Akla mit seiner Frau und seinen zwei Kindern aus Libyen nach Deutschland kam. Damals war er vierunddreißig Jahre alt. Die Familie hatte nicht viel Gepäck und kein Vermögen, doch Ali und Ina Al-Akla waren voller Hoffnung. Ihre gute Ausbildung würde ihnen auch in Deutschland weiter helfen. Der Zahnarzt brachte Berufserfahrungen aus einer modernen Praxis mit.

Heute ist Ali Al-Akla siebenundvierzig Jahre alt, ein Alter, in dem einige Menschen noch jung, andere schon alt sind.

Herr Al-Akla trägt das dunkle Haar kurz geschnitten. Er ist schlank. Seine Haut ist glatt.

Doch seine Stimme klingt matt und so gleichförmig wie die Linie eines erloschenen Herzens.

Er sitzt in seiner Wohnung in der Friedrichstraße, an deren glanzlosen Ende, in Kreuzberg. Auf dem Tisch und dem Sofa rings um ihn stapeln sich Papiere: Anträge und Bewerbungen. Zu- und Absagen. Zertifikate. Listen mit den Paragraphen der Aufenthaltstitel und deren Bedeutung. „Paragraph? Absatz? Satz eins oder zwei?“, fragen die Sachbearbeiter auf den Behörden, um die Al-Aklas in der richtigen Kartei ab – und stillzulegen. Dabei möchte der Zahnarzt nur eins: Endlich in seinem Beruf arbeiten.

Die Paragraphen, Absätze und Sätze haben Herrn Al-Akla müde gemacht. Es scheint, dass sein Leben in Deutschland nur um Papiere kreist.

Aus Gewohnheit kleidet er sich jeden Morgen elegant. Kaum, dass sie in Berlin angekommen waren, hat er sich auf die Suche nach einer Arbeit gemacht. Immer, wenn er an einer Zahnarztpraxis einen arabischen Namen las, ging er hinein und stellte sich vor. „Al-Akla. Ich habe am Staatlichen Medizinischen Institut Donezk in der Ukraine studiert. Danach praktizierte ich in Libyen.“

Mehrere Zahnärzte bescheinigen ihm, dass sie ihn einstellen, sobald er eine Aufenthaltsgenehmigung hat und arbeiten darf.

Das dauert. Erst im Jahr 2004 erhält die Familie nach jahrelanger „Duldung“ eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Der Zahnarzt stellt einen Antrag auf Berufserlaubnis beim Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales. Doch die Behörde lehnt ab. „Nach den Bestimmungen des Zahnheilkundegesetzes ist die Behandlung der hiesigen Bevölkerung Deutschen und Staatsangehörigen eines der übrigen Mitgliedsstaaten des Europäischen Wirtschaftsraumes vorbehalten.“

Im Gesetz steht die Staatsangehörigkeit sogar an erster Stelle vor weiteren Voraussetzungen für den Ärzteberuf.

„Warum sind Sie hierher gekommen?“, habe ihn die Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde bei einem Besuch gefragt, erzählt Al-Akla. Sie hätte die Frage nicht gestellt, weil sie an diesem Palästinenser, der statt einem Pass nur ein Reisedokument besitzt, das ihn als staatenlos auswies, sonderlich interessiert gewesen wäre.

„Weil Sie hier Geld machen wollen, nicht?“ hätte die Frau gesagt.

Und Herr Al-Akla habe geantwortet: „Ich bin gekommen, um zu arbeiten. In meinem Beruf als Zahnarzt.“

Doch das ist nur die halbe Antwort. Die Al-Aklas sind nach Deutschland gekommen, um ihr Leben zu retten.

1995 forderte die libysche Regierung alle Palästinenser auf, das Land binnen dreißig Tagen zu verlassen, eine Reaktion auf die Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern. Eine Rückkehr in den Libanon, wo Ali Al-Akla vor seinem Studium in der Sowjetunion lebte, ist nicht möglich. Der Libanon verweigert Palästinensern die Einreise. Das Ehepaar beschließt, Zuflucht in Deutschland zu suchen, weil sie hier Verwandte haben.

Die ersten Jahre lebt die Familie in einem Heim für Flüchtlinge. Sie gelten als „illegal eingereist“. Ob sie bleiben können, ist lange ungewiss.

In der Praxis von Ghassan Douedari in Friedenau brummt noch der Bohrer, obwohl die Sprechzeit seit einer Stunde vorbei ist. Das Behandlungsbesteck klappert auf den Glasplatten.

Die Patientin, ein arabisches Mädchen, spült wenig später den Mund aus, steht auf und schüttelt das lange Haar. Die Zahnarzthelferin bereitet den Platz für den nächsten Patienten vor. Eine verschleierte Praktikantin schaut ihr dabei zu, die Daumen lässig in den Taschen ihrer bauchfreien Jeans.

„So ist es jeden Tag“, sagt Ghassan Douedari. Er mag älter sein als Ali Al-Akla, doch seine Stimme klingt ruhig und fest. Er streift die Gummihandschuhe ab und fährt mit der flachen Hand über die kahle Stirn. Seine braunen Augen hinter den kleinen, runden Brillengläsern zeigen keine Spur von Müdigkeit. „Heute kamen nur unangemeldete Patienten.“ Fünfzig Prozent seiner Patienten sind Araber, dreißig Prozent Deutsche, der Rest ist gemischter Herkunft.

Ghassan Douedari würde Herrn Al-Akla sofort als Assistenzarzt einstellen. „Er spricht fließend russisch und arabisch. Das können wir in der Praxis gut gebrauchen.“ Zweitausendfünfhundert Euro würde er Herrn Al-Akla monatlich zahlen. Das hat er ihm wiederholt schriftlich bestätigt. Hätten die Al-Aklas dieses Einkommen, stünde einer dauerhaften Aufenthaltserlaubnis nichts mehr im Wege. Doch es ist umgekehrt. Erst muss die Familie ohne staatliche Hilfe für ihr Einkommen sorgen, dann dürfen sie bleiben, dann darf Herr Al-Akla vielleicht als Zahnarzt arbeiten.

Das Landesamt für Gesundheit und Soziales weiß, dass Ghassan Douedari seinen jüngeren Kollegen wegen dessen Sprachkenntnissen sofort einstellen würde, lehnt aber dennoch ab, weil „kein Patient ein Anrecht auf eine Behandlung in seiner Muttersprache hat.“

Ghassan Douedari kommt aus Syrien. Er hat in Berlin studiert und längst eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. Damit erfüllt er eine der Voraussetzungen, unter denen auch Ärzte von außerhalb der Europäischen Union in Deutschland arbeiten dürfen.

Denn während ein Arzt aus der EU einen Rechtsanspruch auf eine Berufserlaubnis in Deutschland hat, müssen Ärzte aus anderen Ländern sich darum bewerben. Dabei spielt es keine Rolle, wo sie ihre Ausbildung gemacht haben. Ein deutscher Arzt, der sein Diplom in Südamerika gemacht hat, besitzt allein aufgrund seiner Staatsangehörigkeit das Recht, hier zu arbeiten, während ein Südamerikaner, der in Deutschland studiert hat, keinen Anspruch darauf hat.

Ärzte, die an Universitäten außerhalb der EU studiert haben, müssen lediglich in einer sogenannten Gleichwertigkeitsprüfung beweisen, dass ihre Ausbildung dem europäischen Standart entspricht. Die Bundeszahnärztekammer warnt ausländische Bewerber auf ihrer Informationsseite im Internet vor der hohen Durchfallquote.

Doch bis zur Gleichwertigkeitsprüfung wird Ali Al-Akla gar nicht vorgelassen. Zuerst braucht er die Berufserlaubnis.

Georg Classen vom Flüchtlingsrat Berlin hat sich mit der Geschichte der Berufsordnungen für Ärzte beschäftigt. Er verweist auf die Reichsärzteordnung von 1935. In diesem Jahr wurde zum ersten Mal ein gesetzlicher Rahmen für die Ausübung des Ärzteberufes in Deutschland geschaffen. Verschiedene Ärztebünde hatten dies bereits in den Zwanzigerjahren immer wieder gefordert. „Anfänglich war in der Bundesrepublik, wie bereits in der Nazizeit, lediglich die deutsche Staatsbürgerschaft als Basis für den Arztberuf anerkannt“, erklärt Georg Classen. „Weil der generelle Ausschluss von Ausländern gegen EU-Recht verstieß, hat man das Recht auf Approbation später auf EU-Angehörige erweitert.“

Mittlerweile steht Paragraph im Widerspruch zu dem neu geschaffenen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, nach dem niemand aufgrund seiner Herkunft benachteiligt werden darf.

Das Land Berlin hat eine entsprechende Bundesratsinitiative veranlasst. Man wartet nun die Stellungnahmen der Berufsverbände ab.

Ali Al-Akla arbeitet seit November 2006 tagsüber als Berater in einer Nachbarschaftshilfe. Abends erledigt er die Buchhaltung in einer Arztpraxis. Seine Frau Ina jobbt als Kindermädchen.

Die Anwältin der Familie, Veronika Arendt-Rojahn ist überzeugt, dass die Familie nun eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen wird. Dennoch sieht sie wenig Chancen für ihren Mandanten. „Es gibt in Berlin genügend Zahnärzte, auch fremdsprachige. Das reicht als Begründung, um die Berufserlaubnis auch in Zukunft zu verweigern.“

Es gibt noch einen Trick, der Herrn Al-Akla relativ flott zu einer Berufserlaubnis verhelfen könnte. Die Ehe mit einer EU-Bürgerin würde ihn rechtlich privilegieren.

„Soll ich etwa meine Frau verlassen, um arbeiten zu können?“ Er schüttelt den Kopf. Seine Frau Ina ist Ukrainerin. Sie haben sich in den Achtzigerjahren während des Studiums in der Sowjetunion kennengelernt. Ina ist Germanistin. Sie ist dreiundvierzig Jahre alt, eine attraktive Frau, groß und schlank. Das schmale Gesicht wird von den dunklen Augen dominiert.

Sie hat nicht bereut, nach Deutschland gegangen zu sein. „Für die Kinder ist es besser, in einem freien Land aufzuwachsen“, sagt sie. Sohn Rami hat im vergangenen Jahr ein Studium an der Technischen Fachhochschule begonnen. Die Tochter Anna macht gerade ihr Abitur.

Theoretisch könnte sich Ali Al-Akla von seiner ukrainischen Frau, die zwar Europäerin, aber keine EU-Bürgerin ist, trennen und eine Frau von Martinique, die zwar keine Europäerin, aber EU-Bürgerin ist, heiraten, vorausgesetzt, sie lebten beide in Berlin. Willkommen in der Absurdität!

Dabei ist es noch gut hier

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Das Magazin Juli 2006

Hauptschüler in der Provinz. Sie haben kleine Träume und große Sorgen. Mit wem können sie die teilen? Mit den Lehrern jedenfalls nicht. Ein Sittenbild aus der Kleinstadt Kreischa.

Mit dem Nachmittag kann man nichts mehr anfangen. Diese Nachmittage gleichen sich. Sie folgen aufeinander wie eine vergilbte Buchseite der anderen. Abgegriffene Zeit. Zu spät, sich unter ein Auto zu legen und zu basteln.
Hausaufgaben haben sie nicht. „Wir haben nie Hausaufgaben“, sagt Robert. Daniel sieht schon wieder auf sein Handy. Der Fahrlehrer könnte jeden Moment anrufen. Vielleicht klappt es morgen mit der Moped-Prüfung. Einmal ist er schon durchgefallen, weil er bei Gelb an einer Baustelle vorbei gebrettert ist. Da, wo er heimlich übt, im Wald und auf dem Acker, stehen keine Ampeln. Er röstet durch Schlamm und über Wurzeln, träumt sich als Moto-Crosser. „In den Sommerferien fahre ich nach Berlin“, sagt er.

Sie hocken auf den alten Tischtennisplatten vor der Bowlingbahn. Ein schöner Platz. Ein grüner Platz. Nebenan plätschert ein Bach.
Daniel rammt seine Ferse in die zerborstene Ecke der Steinplatte. Die bröckelt seit Jahren schon. Die Bänke auf dem Platz sind morsch wie der flache Holzbau der Bowlingbahn. Die Fenster mit Brettern vernagelt.

Daniel ist Sprecher der Klassenstufe 9 Hauptschule und stellvertretender Schülersprecher der Mittelschule Kreischa. Seine Mitschüler haben ihm ihr Vertrauen ausgesprochen. Daniel, der mit seiner Meinung nicht hinter den Berg hält, seinen Widerwillen gegen die Welt ausspuckt, manchmal quer wie eine Wand steht. Groß und breit. Ein Kerl wie ein Bär. Seine Hände beulen die Hosentaschen.

Robert spricht wenig. Der Schulbus nach Maxen, seinem Heimatort, ist längst abgefahren. Er hat es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Er muss erst am Abend in Maxen sein, wenn das Training bei der Freiwilligen Feuerwehr beginnt.

Die Schule steht drüben am Hang. Sie thront über dem Ort. Sonnenlicht flutet durch die Korridore, bleicht Bilder, Landkarten und Wandzeitungen, auf denen in diesem Monat das Römische Reich erklärt wird. Es ist eine saubere Schule. Der Blick aus dem Lehrerzimmer gleitet über den Ort, über Pferdekoppeln und die gelben Häuser der Bavaria-Klinik.
Fachwerk. Trockenblumen und Getöpfertes. Da drüben, der kühne Glasgiebel, wurde mit einer Gardine verhängt. Kreuzworträtsel und Häkelmuster knautschen in den Sesselritzen.
Nach Kreischa ziehen sich Menschen zurück, denen es in Dresden zu laut wird. Die Großstadt mit ihren Theatern, Konzertsälen und Edel-Boutiquen ist dennoch nicht weit.

Die Schülervertreter sind mal auf das Schulamt nach Dresden gefahren. Wegen diesem Lehrer, dem Grabscher, der den Mädchen an den Hintern geht und dabei Dinge sagt wie: „Geiler Arsch.“
Man hat sie wieder nach Hause geschickt. „Wir müssen mindestens fünf Zeugen bringen“, sagt Daniel. „Sie wollen klare Beweise.“ An mehr könne er sich jetzt nicht erinnern. Sei schließlich schon ein halbes Jahr her. Und er sei da auch nur mitgefahren. Habe weiter hinten gestanden, dritte Reihe ungefähr und nicht alles mitbekommen.

Die Hände beulen die Hosentaschen. Daniel, der plötzlich nicht weiß, wohin mit diesen Armen und Beinen, diesem großen Körper und seiner Wut.
„Die aus der Zehnten“, erzählt er. „Die sind mal alle zu dem hin, alle Jungs. Da sind solche Kerle dabei.“ Daniel streckt den Arm bis zur löchrigen Dachrinne der Bowlingbahn. „Sie haben dem gesagt, dass sie zum Schulamt gehen oder zu seiner Frau, wenn es nochmal passiert. Seitdem lässt er die Mädchen aus der Zehnten in Ruhe. Wir sind gerade mal acht Jungen. Die in der Zehnten sind sechzehn.“ Daniel sackt zusammen. Er blickt zu Robert, der neben ihm lehnt, klein, die Schultern noch schmal. Fünfzehn Jahre. Daniel ist zwei Jahre älter.
„Sitzen geblieben.“ Robert grinst. „Quatsch“, sagt Daniel. „Ich habe zwei Klassen wiederholt.“
Daniel legt sein Handy jetzt immer auf die Schulbank. Für das Beweisfoto. „Der schmeißt auch einen Stapel Papier runter und fordert ein Mädchen auf, ihn aufzuheben, um ihr in den Ausschnitt zu schauen“, sagt Robert.

Der Bus nach Maxen, Roberts Heimatort, fährt durch Apfelplantagen und Wiesen, vorbei an einem Gestüt. Robert zeigt den Weg zur Naturbühne, das beste Restaurant des Ortes und erzählt von der neu gebauten Moschee. Er weiß, was Gäste interessiert, die nach Maxen kommen.
Die Mädchen hätten jetzt vor den Prüfungen Angst zu sprechen, sagt er. „Wenn der uns reinlegt, ist alles verloren.“
Hilfe von den anderen Lehrern könne man vergessen.
„Dreckfressen“ hätte mal eine geschrien. Und dass sie den qualifizierten Hauptschulabschluss sowieso nicht schaffen. Sie hätten fast alle schon Ohrfeigen einstecken müssen. Manchmal würden sie im Klassenraum eingeschlossen.
Eine Lehrerin sei aber ganz in Ordnung, sagt Robert. Ihr hätten sie sich anvertraut und der netten Dame von der AOK Freital, die das Bewerbertraining mit ihnen gemacht hat.

Robert erzählt von Dynamo Dresden, seiner Lieblingsmannschaft und dass er kein einziges Heimspiel versäumt, dass sein Vater, nicht sein richtiger Vater, deswegen sauer sei, dabei sei er es doch gewesen, der ihn als Kind mit auf den Fußballplatz nach Dresden geschleppt hat.

Der Lehrer schlendert über den sonnigen Gang. Das Linoleum glänzt. Er schwenkt sein Schlüsselbund. Er lächelt. Er sagt zu dem dünnen Mädchen mit den rosa Haaren: „Hallo. Wie geht’s?“ Sie antwortet nicht, federt die Treppe hinab, blickt sich nicht um, weil sie weiß, dass er am Geländer steht und ihr nachschaut.
„Ich habe von dieser Sache gehört“, sagt die Lehrerin mit den großen, wachen Augen. „Man kann nichts machen, solange es keine Beweise gibt.“

Daniel hat einen Ausbildungsplatz. Nicht weit von Kreischa, in einem Restaurant, wird er Koch lernen. Seit einiger Zeit jobbt er hin und wieder im Hotel „Kreischaer Hof“. Er mache dort alles. „Na, alles eben.“ Er zuckt die Schultern, verwundert über die Frage. Was gibt es da zu erzählen? Ist es für irgendwen interessant, ob er den Geschirrspüler einräumt, Gurken schält oder die Tische eindeckt? Man müsse eben bereit sein, alles zu machen und wer arbeiten will, der findet auch eine Arbeit. Es sei doch kein Wunder, dass der Staat pleite ist, wenn so viele Leute nicht arbeiten wollen. „Die schlafen bis elf und saufen schon am Vormittag.“ Er kenne die. Habe selber jemanden in der Nachbarschaft, der auf Hartz IV mache.

Robert ist still. Selbst, wenn er anderer Meinung wäre als Daniel, würde er den Mund halten, sich nicht mit diesem Brocken anlegen, der mit dem Mundwerk allen voraus ist. Also denken sie über alles gleich. Ist einfacher so. Über Hip-Hopper: „Sieht doch bescheuert aus, wenn die Hosen bis in die Knie hängen.“ Über Ausländer: „Nichts dagegen, wenn die arbeiten.“ Schwule: „Pervers.“ Was das Wort bedeutet, weiß Daniel nicht. „Ich meine doch nur, dass es eklig ist, wenn die vor mir knutschen, während ich gerade esse.“

Robert ist noch auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Er möchte später ein eigenes Restaurant führen.
Am nächsten Tag bringt sie ein Bus übers Land. Schulexkursion. Sie sollen sich Betriebe anschauen, in denen Metall verarbeitet wird.
Nach dem ersten Betriebsrundgang weist der Geschäftsführer darauf hin, dass er nur Abiturienten und Realschüler ausbildet. „Wir können arbeiten“, ruft einer der Hauptschüler. Der Geschäftsführer zerrt an seinem Kragen unter der Krawatte. Sein Gesicht ist rot. Er entscheide nach Noten. Eine andere Wahl habe er nicht. Vierzig Bewerber, aus denen er einen auswählt. Sie könnten aber ein Betriebspraktikum machen. In der zweiten Firma empfängt sie eine ältere Frau. Sie hält die Hände vor dem tonnenförmigen Leib gefaltet, während sie erklärt, dass sie keine Mädchen ausbildet, weil Mädchen Kinder bekommen und dann nicht mehr am Abend und in der Nacht arbeiten könnten. Das rechne sich nicht. Die Maschinen müssten Tag und Nacht laufen. Mit den Hauptschülern, da müsse man sehen. Sie hätte auch Arbeiter mit Hauptschulabschluss.
Die Fußböden der Fabrikhalle schwitzen ölig. Aus einem Abfall-Container quellen rötlich und weiß glänzende Spiralen aus Edelstahl. Zwei Mädchen bleiben stehen und suchen die schönsten aus. Wie die Lockenpracht eines Fauns, dessen Kopf man nach der Enthauptung in diesen Behälter gequetscht hat.

„Man muss vorsichtig sein mit dem, was die Hauptschüler manchmal erzählen“, sagt die junge Lehrerin. „Sie reagieren so sensibel. Die bilden sich auch schnell mal etwas ein. Sie neigen zu Übertreibungen.“
In den letzten Jahren sei es immer schwieriger geworden, sie zu unterrichten. Inhalte könne sie kaum noch vermitteln. Hausaufgaben gibt sie schon lange keine mehr auf. Die Auseinandersetzung zu Beginn der Stunde, wer wieder nichts gemacht hat, raube zuviel Zeit und Kraft. „Manchmal, wenn ich in die Klasse komme und nicht lächele, werde ich von der Seite angemacht: ‚Schlechte Laune heute?“

Der Bus bringt die Schüler nach der Exkursion zurück nach Kreischa. Vorbei am Bäcker, am Döner-Laden, dem über hundertjährigen Textilhaus Schauer und der Drogerie am Buswendeplatz. Im Schaufenster der Drogerie bröseln verblichene Heilpflanzen. Drinnen lehnt die Drogistin an der hohen Eichenwand und blickt durch die Kunden hindurch zur Tür hinaus, die Hände zwischen Rücken und Wand, als stützten sie sich gegenseitig. Seit man denken kann, lehnt sie dort. Ihr Haar ist staubig geworden im Laufe der Zeit. Aber ihr Blick ist unverändert, egal, ob die Schüler Brausepulver oder Kondome kaufen. Sie könnten nach Cyankali oder radioaktiven Uran fragen, sie würde mit der gleichen Miene antworten: „Tut mir leid.“

„Was hält uns hier?“ fragt Daniel trotzig. Sie sitzen im Bäckerladen neben dem Supermarkt. Die Frage klingt nicht nach Aufbruch, nicht einmal nach einer kleinen Radtour ins nahe Dresden, wo die Clubs, die sie hier vermissen, zahlreich sind. Die Frage ist als Vorwurf gemeint und als Ausrede, sitzen zu bleiben.

Draußen auf dem Parkplatz werden Autos abgefüllt, mit Dingen zu essen und Getränkestiegen, mit Dingen für das Haus und Dingen für den Garten. Behäbig röhren sie die Auffahrt zur Landstraße hinauf. Wenn er den Führerschein schon hätte, sein Moped, Daniel würde das Vorderrad in die Höhe reißen und an ihnen allen vorbei jagen. Der Fahrlehrer hat wieder nicht angerufen.

Bei der Freiwilligen Feuerwehr gibt es keinen Unterschied zwischen Haupt – und Realschülern. Da können sie zeigen, was in ihnen steckt. Wie damals, 2002, als die Flut kam. Sie waren als Helfer unterwegs. Robert in Mühlbach, Schlamm aus den Kellern schaufeln und Trümmer beseitigen, Daniel in Freital, in dem Supermarkt, in dem seine Mutter als Kassiererin arbeitet. Er hat die Kunden einzeln mit der Taschenlampe zu den Regalen geführt, bis es wieder Strom gab.

Einen Vater hat Daniel nicht. „Den brauche ich nicht mehr“, sagt er. Der Vater hat die Mutter geschlagen und ist abgehauen, zu Weihnachten war das, vor einigen Jahren. Daniel will ihn nicht mehr sehen.
Robert hat einen Vater, aber es ist nicht sein eigener. Seinen eigenen Vater, das hat die Mutter entschieden, soll Robert nicht treffen. „Meine Oma ist auch strikt dagegen“, sagt er. „Ich habe ihn mal im Internet gesucht, aber nicht gefunden.“

Die junge Lehrerin sagt, dass sie die Probleme manchmal mit nach Hause nimmt und dass ihr Mann das alles gar nicht mehr hören kann. „Dabei ist es noch gut hier in Kreischa. Es ist eine kleine Schule. Wir Lehrer verstehen uns. Wir helfen uns.“
Sie erzählt von dem Zirkus-Projekt, wieviel Spaß es den Kindern gemacht hat, in der Manege zu stehen und kleine Kunststücke vorzuführen. Sie stützt den Kopf auf, das lange Haar fällt über den Handrücken. Sie blickt aus dem Fenster, dahin, wo im letzten Sommer für einige Wochen das Zirkuszelt auf der Wiese stand.
Sie wisse, dass Eltern in der Schule waren wegen der Vorfälle mit dem Lehrer. Dass sie ihn zur Rede gestellt hätten.
Der Vater eines Mädchens aus ihrer Klasse sei mal in die Schule gekommen, sagt Robert. „Ein Kerl wie ein Baum. Ein Rocker. Überall tätowiert. Und der Lehrer hat den ausgelacht. Hat gesagt, dass seine Tochter lügt. Der sagt, die Mädchen bilden sich das nur ein. Er sagt, sie übertreiben.“
Und wenn wieder etwas ist, sollten sie sofort zu ihr kommen, habe die junge Lehrerin gesagt. Ihr Klassenlehrer auch. Sie waren bei beiden. Passiert ist nichts.
Der Schülerrat, die Elternvertreter, alle wissen es. Der ganze Ort weiß es. Alle, die früher hier zur Schule gingen. Er ist schon lange hier, dieser Lehrer. Vielleicht erinnert sich sogar die Drogistin.

Aber nichts ist jemals geschehen.