Neulich las ich eine Eurer Diskussionen, setzte mehrmals zu einer Antwort, einem Beitrag an, doch kam ich nicht weiter.
Ich habe mich für meine Bitterkeit entschuldigt angesichts dessen, was ich dort von Euch las. In mehreren Beiträgen wurde der Sinn politischen Engagements in Frage gestellt, er bringe ja nichts, interessiere Politiker überhaupt nicht. Was haben die „Kerzlein und Mahnwachen“ damals gebracht, als der Irakkrieg begann, schrieb eine. Er wurde dennoch geführt. Er war grausam. Und er basierte auf einer Lüge.
Eine andere stellte die Frage, ob wir überhaupt richtig informiert würden, wieso „Gräueltaten verdeckt“ blieben.
Ich beschwerte mich über die politische Trägheit und das allgemeine Desinteresse in diesem Land. Ich war wütend und ich entschuldigte mich dafür. Das Wort Bitterkeit, das ich in meinem Post gebrauchte, triggerte einige von Euch. Es wurde sehr schnell abgewiesen. Ihr bedauertet mich, wünschtet mir, ich käme da raus. Ich spürte in dieser Diskussion Eure, unsere Hilflosigkeit, Eure, unsere Ohnmacht. Ich spürte Eure eigene Angst davor, bitter zu werden angesichts dessen, was geschieht, angesichts der Desillusionierung aus vergangenen Kämpfen.
Ich weiß nicht, über welches Ereignis Ihr gesprochen habt an diesem 5. April 2022.
Seit dem 24. Februar 2022 höre ich kein Radio mehr. Fernsehen gehörte auch davor nicht zu meinen Gewohnheiten. In den ersten Tagen ohne Radio war es plötzlich still in meiner Küche. Aber in mir drinnen war Kriegsgetöse. Diesen Kontrast zwischen dem Lärm drinnen und der Stille draußen konnte ich kaum ertragen. Ich begann, den Podcast polski daily for beginners zu hören, da ich seit zwei Jahren polnisch lerne. In den Interviews erzählen Leute von ihrer Familie, vom Leben mit ihrer Katze, von den Frühstücksgewohnheiten in Italien und Polen und vieles andere Interessante, Spannende. Ich erfuhr etwas über das Leben der Schauspielerin Pola Negri.
Es ist nicht so, dass ich völlig dicht gemacht habe. Ich informiere mich über den Krieg in der Ukraine in den sozialen Netzwerken, hauptsächlich auf Twitter. Auch auf Facebook finde ich interessante Hintergrundberichte, meist aus linken Quellen.
In den ersten Tagen des Krieges gab es auf Twitter viele Augenzeugenberichte aus der Ukraine, manchmal mit Filmaufnahmen. Irgendwann hörte das auf, und ich musste neue Quellen finden. Bisher hatten mich lediglich Tweets zum Klimawandel und zu Rassismus und Antisemitismus interessiert. Weil ich entsprechenden Quellen folge, erfuhr ich sofort vom Tod des Holocaustüberlebenden Boris Romantschenko, von der Bombardierung der Gedenkstätte Babyn Jar und eines Holocaustdenkmals in der Nähe von Charkiv.
Dass ich das Radio nicht einschalte, ist eine Abwehr- und Schutzreaktion. Ich will keine Frontberichte hören. Obwohl ich mir auch auf Twitter schon eine Karte angesehen habe, auf denen die Frontlinien und die Orte, an denen gekämpft wird, eingetragen sind. Eigentlich bekomme ich ohne Radio und Fernsehen eine Menge mit. Es ist eher die Art der Berichterstattung im Radio, vor der ich Angst habe, die in direkter Linie zu den Traumata meiner Kindheit führt. Die emotionslose Stimme der Nachrichtensprecher*innen, wenn sie über die Front und Details des Krieges sprechen. Das ist komplett anders als die ebenso emotionslos vorgetragenen Corona-Todesfälle. Corona war neu und fremd. Corona hatte auch mit Gewalt zu tun, mit unserer Gewalt gegen den Planeten, doch zugleich entstand mit dieser neuen Gefahr eine breite Front der Aufklärung und Vernunft, wie ich sie kaum für möglich gehalten hatte. Es gab keinen Putin, kein abstraktes Waffenarsenal, keinen roten Knopf. Stattdessen erklärte Professor Drosten das Virus, diese Lebensform, die eigentlich keine ist. Etwas zwischen Leben und Tod, gewissermaßen auch eine Waffe. Eine Waffe von Gaia. Es gab Zeiten, da liebte ich das Virus. Als die Straßen leer waren. Als die Maschine tagelang stillstand. Als klar wurde, dass es möglich ist, die Maschine zu stoppen.
Es gibt keinen Professor Drosten des Krieges, auch wenn der NDR so tut. Drosten hat nicht länger seinen Sendeplatz, den haben jetzt Militärexpert*innen eingenommen. Wären es Friedensforscher*innen, würde ich ihnen zuhören.
Als ich Kind war, war kein Krieg. Und doch war Krieg. Jedes Flugzeug erinnerte mich an die Bomben, die auf Dresden gefallen waren. Ich hatte es nicht selbst erlebt. Meine Mutter hatte die Bomben und die Toten gesehen als Kind. Ihr Erleben wurde mein Erleben. Ihre Angst wurde meine Angst. Krieg ist das Schlimmste. Mit dieser Überzeugung wuchs ich auf. Ich erwarb sie in der Schule. Ich verinnerlichte sie zu Hause. Meine Mutter schaltete den Fernseher aus, wenn darin Krieg war. Ich durfte keine Filme sehen, in denen Krieg war und/oder geschossen wurde. Da war ich zehn Jahre alt. Vorher hatten wir keinen Fernseher besessen.
Ich bin zehn Jahre alt, als ich das erste Mal Fotos von Auschwitz sehe. Zufällig. Der Bildband steht in unserem Klassenzimmer, in dem in zwanzig Minuten der Deutschunterricht beginnen wird. Es ist die große Pause vor der letzten Stunde. In diesem Raum steht ein Bücherregal. Ich esse einen Apfel. Es ist warm, einer dieser Frühlingstage, an denen es morgens kalt ist und mittags heiß. Ich trage einen grünen Wollpullover mit kurzen Ärmeln und Cordhosen. Ich erinnere mich an jedes Detail des Moments, als ich dieses Buch aufschlage und die Fotos sehe. Der Moment brennt sich ein wie eine Tätowierung. Dieser Moment ändert alles. Dieser Moment ist stets gegenwärtig.
Von diesem Tag an bin ich besessen davon, herauszufinden, was geschehen war. Bis heute. Bis zu diesem Tag suche ich und forsche.
Im Radio war immer Krieg. Im Radio und im Fernsehen standen die Kernwaffen in endlosen Reihen aufgereiht. Es war nur die Frage eines Knopfdrucks und alles wäre zu Ende. Mit dieser Zukunftsaussicht wuchs ich heran und zeugte doch ein Kind. Unter Tränen. Als ich schwanger war, wurden weitere Atomsprengköpfe in den Wäldern um Berlin stationiert. Ich weinte viel. Ich fühlte mich schuldig. Ich war sehr jung, als meine Tochter geboren wurde, und sehr depressiv. Ich begann, mich selbst zu zerstören. Denn warum sollte ich das den Bomben überlassen? Ich zerstörte mich und suchte doch nach einem Ausweg. Ich erlebte Irrtümer. Bis zu diesem Tag habe ich überlebt: meine Selbstzerstörung, meine Irrtümer, meine alles verschlingende Traurigkeit.
Die schlimmsten Bilder meiner Kindheit sind die Fotos von Auschwitz und die Vorstellung von hilflosen, deutschen Familien, die in ihren Kellern darauf warten, dass der Krieg endlich aufhört und nichts vom Holocaust wissen.
Wenn ich lese, dass Widerstand keinen Sinn macht, dass er die Politiker nicht interessiert, wenn ich die Klage darüber lese, nicht richtig informiert zu werden, dann ploppen meine Bilder dieser deutschen Familien in ihren Kellern auf. Dann wird mein Schmerz getriggert, der Schmerz, deutsch zu sein, der Schmerz, Kind kriegstraumatisierter Kinder zu sein und selbst ein Kind belastet zu haben mit der unendlichen Kette des Krieges und der Angst.
Meine Mutter machte den Fernseher aus. Ich schalte das Radio aus.
Ich bin nicht bitter. Ich bin eine heillose Optimistin, eine Menschenfreundin, eine Kriegerin. Das bin ich geworden. Ich gebe nicht auf. Ich gehe auf die Straße. Ich wühle nach Antworten, auch im Dreck. 2011 war ich Teil einer weltweiten Bewegung, die so stark war, dass ich glaubte: Jetzt! Jetzt beginnt es! Die Bewegung fiel auseinander, aber lebte in ihren Bruchstücken weiter. Heute weiß ich rückblickend, dass damals tatsächlich etwas begann. Es wird Erzählungen darüber geben. Doch es geschah nicht das, was wir erwartet hatten. Mir wurde klar, dass wir nicht viel erwarten dürfen. Es ist wahr: Du kannst mit „Kerzlein und Mahnwachen“ keinen Krieg verhindern.
Widerstand verhindert keine Kriege. Wiederstand verändert die Welt langsam, vielleicht zu langsam. Aber ich glaube daran, dass wir Menschen zu Gaia gehören und dass sie uns nicht verlieren möchte. Widerstand ist Würde und Schönheit. Dieser Schönheit fühle ich mich verpflichtet.
Es geht um die Erzählungen für Deine Kinder. Wie hast Du Dein Leben verbracht? Was hast Du getan? Auf welcher Seite hast Du gestanden? Fühltest Du Dich der Würde und Schönheit verpflichtet?
Es geht darum, solidarisch verbunden zu sein mit allen, die daran glauben, dass eine andere Welt möglich ist. Eine andere Welt ist möglich. Und jeder, der sich die Zeit nimmt, das auf ein Pappschild zu schreiben und es hoch zu halten, jeder, der eine Demonstration mit seinem Namen anmeldet, jeder, der eine Petition in seinem Namen ins Netz stellt, jeder, der irgendwo seine Stimme, seinen Namen erhebt oder mit seinem Körper den öffentlichen Raum besetzt, beweist das.
Das mindeste, was wir tun können, ist, dass wir Aktivist*innen unterstützen, indem wir einfach da sind, mit ihnen, auf der Straße. Ich wünschte, der Tag hätte die doppelte Länge. Ich wünschte, ich hätte mehr Jahre voller Kraft. Ich muss entscheiden, mit wem ich auf die Straße gehe, wo und in welchem Umfang ich mich engagiere. Meine Zeit ist begrenzt. Irgendwann werden wir als Hologramm gleichzeitig an mehreren Orten anwesend sein können. Aber auch dann werden wir entscheiden müssen, wohin wir diesen einen Körper bewegen.