Für meine Facebook-Freunde im April 2022

Neulich las ich eine Eurer Diskussionen, setzte mehrmals zu einer Antwort, einem Beitrag an, doch kam ich nicht weiter. 

Ich habe mich für meine Bitterkeit entschuldigt angesichts dessen, was ich dort von Euch las. In mehreren Beiträgen wurde der Sinn politischen Engagements in Frage gestellt, er bringe ja nichts, interessiere Politiker überhaupt nicht. Was haben die „Kerzlein und Mahnwachen“ damals gebracht, als der Irakkrieg begann, schrieb eine. Er wurde dennoch geführt. Er war grausam. Und er basierte auf einer Lüge. 

Eine andere stellte die Frage, ob wir überhaupt richtig informiert würden, wieso „Gräueltaten verdeckt“ blieben. 

Ich beschwerte mich über die politische Trägheit und das allgemeine Desinteresse in diesem Land. Ich war wütend und ich entschuldigte mich dafür. Das Wort Bitterkeit, das ich in meinem Post gebrauchte, triggerte einige von Euch. Es wurde sehr schnell abgewiesen. Ihr bedauertet mich, wünschtet mir, ich käme da raus. Ich spürte in dieser Diskussion Eure, unsere Hilflosigkeit, Eure, unsere Ohnmacht. Ich spürte Eure eigene Angst davor, bitter zu werden angesichts dessen, was geschieht, angesichts der Desillusionierung aus vergangenen Kämpfen. 

Ich weiß nicht, über welches Ereignis Ihr gesprochen habt an diesem 5. April 2022. 

Seit dem 24. Februar 2022 höre ich kein Radio mehr. Fernsehen gehörte auch davor nicht zu meinen Gewohnheiten. In den ersten Tagen ohne Radio war es plötzlich still in meiner Küche. Aber in mir drinnen war Kriegsgetöse. Diesen Kontrast zwischen dem Lärm drinnen und der Stille draußen konnte ich kaum ertragen. Ich begann, den Podcast polski daily for beginners zu hören, da ich seit zwei Jahren polnisch lerne. In den Interviews erzählen Leute von ihrer Familie, vom Leben mit ihrer Katze, von den Frühstücksgewohnheiten in Italien und Polen und vieles andere Interessante, Spannende. Ich erfuhr etwas über das Leben der Schauspielerin Pola Negri. 

Es ist nicht so, dass ich völlig dicht gemacht habe. Ich informiere mich über den Krieg in der Ukraine in den sozialen Netzwerken, hauptsächlich auf Twitter. Auch auf Facebook finde ich interessante Hintergrundberichte, meist aus linken Quellen. 

In den ersten Tagen des Krieges gab es auf Twitter viele Augenzeugenberichte aus der Ukraine, manchmal mit Filmaufnahmen. Irgendwann hörte das auf, und ich musste neue Quellen finden. Bisher hatten mich lediglich Tweets zum Klimawandel und zu Rassismus und Antisemitismus interessiert. Weil ich entsprechenden Quellen folge, erfuhr ich sofort vom Tod des Holocaustüberlebenden Boris Romantschenko, von der Bombardierung der Gedenkstätte Babyn Jar und eines Holocaustdenkmals in der Nähe von Charkiv. 

Dass ich das Radio nicht einschalte, ist eine Abwehr- und Schutzreaktion. Ich will keine Frontberichte hören. Obwohl ich mir auch auf Twitter schon eine Karte angesehen habe, auf denen die Frontlinien und die Orte, an denen gekämpft wird, eingetragen sind. Eigentlich bekomme ich ohne Radio und Fernsehen eine Menge mit. Es ist eher die Art der Berichterstattung im Radio, vor der ich Angst habe, die in direkter Linie zu den Traumata meiner Kindheit führt. Die emotionslose Stimme der Nachrichtensprecher*innen, wenn sie über die Front und Details des Krieges sprechen. Das ist komplett anders als die ebenso emotionslos vorgetragenen Corona-Todesfälle. Corona war neu und fremd. Corona hatte auch mit Gewalt zu tun, mit unserer Gewalt gegen den Planeten, doch zugleich entstand mit dieser neuen Gefahr eine breite Front der Aufklärung und Vernunft, wie ich sie kaum für möglich gehalten hatte. Es gab keinen Putin, kein abstraktes Waffenarsenal, keinen roten Knopf. Stattdessen erklärte Professor Drosten das Virus, diese Lebensform, die eigentlich keine ist. Etwas zwischen Leben und Tod, gewissermaßen auch eine Waffe. Eine Waffe von Gaia. Es gab Zeiten, da liebte ich das Virus. Als die Straßen leer waren. Als die Maschine tagelang stillstand. Als klar wurde, dass es möglich ist, die Maschine zu stoppen. 

Es gibt keinen Professor Drosten des Krieges, auch wenn der NDR so tut. Drosten hat nicht länger seinen Sendeplatz, den haben jetzt Militärexpert*innen eingenommen. Wären es Friedensforscher*innen, würde ich ihnen zuhören.  

Als ich Kind war, war kein Krieg. Und doch war Krieg. Jedes Flugzeug erinnerte mich an die Bomben, die auf Dresden gefallen waren. Ich hatte es nicht selbst erlebt. Meine Mutter hatte die Bomben und die Toten gesehen als Kind. Ihr Erleben wurde mein Erleben. Ihre Angst wurde meine Angst. Krieg ist das Schlimmste. Mit dieser Überzeugung wuchs ich auf. Ich erwarb sie in der Schule. Ich verinnerlichte sie zu Hause. Meine Mutter schaltete den Fernseher aus, wenn darin Krieg war. Ich durfte keine Filme sehen, in denen Krieg war und/oder geschossen wurde. Da war ich zehn Jahre alt. Vorher hatten wir keinen Fernseher besessen. 

Ich bin zehn Jahre alt, als ich das erste Mal Fotos von Auschwitz sehe. Zufällig. Der Bildband steht in unserem Klassenzimmer, in dem in zwanzig Minuten der Deutschunterricht beginnen wird. Es ist die große Pause vor der letzten Stunde. In diesem Raum steht ein Bücherregal. Ich esse einen Apfel. Es ist warm, einer dieser Frühlingstage, an denen es morgens kalt ist und mittags heiß. Ich trage einen grünen Wollpullover mit kurzen Ärmeln und Cordhosen. Ich erinnere mich an jedes Detail des Moments, als ich dieses Buch aufschlage und die Fotos sehe. Der Moment brennt sich ein wie eine Tätowierung. Dieser Moment ändert alles. Dieser Moment ist stets gegenwärtig.

Von diesem Tag an bin ich besessen davon, herauszufinden, was geschehen war. Bis heute. Bis zu diesem Tag suche ich und forsche. 

Im Radio war immer Krieg. Im Radio und im Fernsehen standen die Kernwaffen in endlosen Reihen aufgereiht. Es war nur die Frage eines Knopfdrucks und alles wäre zu Ende. Mit dieser Zukunftsaussicht wuchs ich heran und zeugte doch ein Kind. Unter Tränen. Als ich schwanger war, wurden weitere Atomsprengköpfe in den Wäldern um Berlin stationiert. Ich weinte viel. Ich fühlte mich schuldig. Ich war sehr jung, als meine Tochter geboren wurde, und sehr depressiv. Ich begann, mich selbst zu zerstören. Denn warum sollte ich das den Bomben überlassen? Ich zerstörte mich und suchte doch nach einem Ausweg. Ich erlebte Irrtümer. Bis zu diesem Tag habe ich überlebt: meine Selbstzerstörung, meine Irrtümer, meine alles verschlingende Traurigkeit. 

Die schlimmsten Bilder meiner Kindheit sind die Fotos von Auschwitz und die Vorstellung von hilflosen, deutschen Familien, die in ihren Kellern darauf warten, dass der Krieg endlich aufhört und nichts vom Holocaust wissen. 

Wenn ich lese, dass Widerstand keinen Sinn macht, dass er die Politiker nicht interessiert, wenn ich die Klage darüber lese, nicht richtig informiert zu werden, dann ploppen meine Bilder dieser deutschen Familien in ihren Kellern auf. Dann wird mein Schmerz getriggert, der Schmerz, deutsch zu sein, der Schmerz, Kind kriegstraumatisierter Kinder zu sein und selbst ein Kind belastet zu haben mit der unendlichen Kette des Krieges und der Angst.

Meine Mutter machte den Fernseher aus. Ich schalte das Radio aus. 

Ich bin nicht bitter. Ich bin eine heillose Optimistin, eine Menschenfreundin, eine Kriegerin. Das bin ich geworden. Ich gebe nicht auf. Ich gehe auf die Straße. Ich wühle nach Antworten, auch im Dreck. 2011 war ich Teil einer weltweiten Bewegung, die so stark war, dass ich glaubte: Jetzt! Jetzt beginnt es! Die Bewegung fiel auseinander, aber lebte in ihren Bruchstücken weiter. Heute weiß ich rückblickend, dass damals tatsächlich etwas begann. Es wird Erzählungen darüber geben. Doch es geschah nicht das, was wir erwartet hatten. Mir wurde klar, dass wir nicht viel erwarten dürfen. Es ist wahr: Du kannst mit „Kerzlein und Mahnwachen“ keinen Krieg verhindern. 

Widerstand verhindert keine Kriege. Wiederstand verändert die Welt langsam, vielleicht zu langsam. Aber ich glaube daran, dass wir Menschen zu Gaia gehören und dass sie uns nicht verlieren möchte. Widerstand ist Würde und Schönheit. Dieser Schönheit fühle ich mich verpflichtet. 

Es geht um die Erzählungen für Deine Kinder. Wie hast Du Dein Leben verbracht? Was hast Du getan? Auf welcher Seite hast Du gestanden? Fühltest Du Dich der Würde und Schönheit verpflichtet? 

Es geht darum, solidarisch verbunden zu sein mit allen, die daran glauben, dass eine andere Welt möglich ist. Eine andere Welt ist möglich. Und jeder, der sich die Zeit nimmt, das auf ein Pappschild zu schreiben und es hoch zu halten, jeder, der eine Demonstration mit seinem Namen anmeldet, jeder, der eine Petition in seinem Namen ins Netz stellt, jeder, der irgendwo seine Stimme, seinen Namen erhebt oder mit seinem Körper den öffentlichen Raum besetzt, beweist das. 

Das mindeste, was wir tun können, ist, dass wir Aktivist*innen unterstützen, indem wir einfach da sind, mit ihnen, auf der Straße. Ich wünschte, der Tag hätte die doppelte Länge. Ich wünschte, ich hätte mehr Jahre voller Kraft. Ich muss entscheiden, mit wem ich auf die Straße gehe, wo und in welchem Umfang ich mich engagiere. Meine Zeit ist begrenzt. Irgendwann werden wir als Hologramm gleichzeitig an mehreren Orten anwesend sein können. Aber auch dann werden wir entscheiden müssen, wohin wir diesen einen Körper bewegen.

Liebeskummer

Illustration © Tine Schulz @tine.schulz.illustration

Was für eine maßlose Untertreibung! Kummer. Kümmerlich. Verkümmert. Nein. Dieser Schmerz ist riesig. Er ist King Kong

Jetzt hat es mich erwischt. Risikobegegnung. Ein Gespräch, länger als 15 Minuten, und dann diese beunruhigende Nähe. Immer noch, nach so vielen Jahren. 

Ich bin ins Trespassers geflüchtet. Vor mir steht der zweite Gin Tonic und meine Freundin ist immer noch nicht da. Diesmal muss sie mir zuhören. Ich werde sie nicht mit Schwärmereien langweilen und all diesen hilflosen Waswärewenns, die seit drei Wochen in meinem Kopf Karussell fahren. Ich muss mit ihr das Phänomen Liebeskummer diskutieren. Liebeskummer! Was für eine hässliche Verallgemeinerung für einen Schmerz, der jedes Mal neu und jedes Mal anders ist und deshalb von niemandem geteilt werden kann. Er gehört mir allein. Ich hatte mich fast schon danach gesehnt, die lebendige Melancholie wieder einmal zu spüren, diese schöne Traurigkeit, wie wenn du nach einem Abend mit Freunden allein und halb verlassen das schmutzige Geschirr in die Küche trägst, am nächsten Morgen, nachdem sie wieder abgereist sind. Halb verlassen, weil sie ja noch zu deiner Welt gehören. Sie kommen wieder. Und bis dahin wird es Chats und Telefonate geben. 

Aber das hier ist der pure Schmerz der völligen Verlassenheit für immer. So schlimm war es noch nie. Das war definitiv meine letzte Chance. Seit Jahren sind wir uns zufällig wieder über den Weg gelaufen. Einmal hatte ich ihn von weiten gesehen, auch das ist schon länger her. Er war mit seinen Kindern. Das jüngste wiegte er in beiden Armen wie die Madonna ihr Neugeborenes, aber seins war kein Baby mehr, sondern ein Kind, das genauso gut an seiner Hand hätte laufen können, in seinen Gummistiefeln. Sein Gesicht war ein bisschen verzerrt von der Anstrengung. Überhaupt hatte er sich verändert, das ist normal. Doch jetzt war er wieder derselbe Typ wie damals und ich sofort wieder verliebt. Jetzt weiß ich, dass auch er einmal in mich verliebt war. Wir waren beide zu schüchtern, es uns zu sagen. Nun haben wir uns eine Minimalaffäre gegönnt, das musste sein nach diesem Geständnis. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Es ist vorbei. Geblieben ist der Schmerz. Wieso lässt er sich nicht abschalten, wenn wir doch in der Lage sind, eine Beziehung schlagartig zu beenden? Wenn wir so von unserer Vernunft gesteuert sind, warum beherrschen wir dann nicht unsere Emotionen? 

Es ist ein absurder, sinnloser Schmerz. Er kommt zu spät. Alles ist hoffnungslos. 

Wir wurden darüber aufgeklärt, dass Gefühle gut und richtig sind. Wir haben gelernt, unsere Wut zu umarmen. Wir wissen, dass Angst davor schützt, lebensgefährlichen Aktivitäten nachzugehen. Trauer ist gesellschaftlich anerkannt. Wenn einer gestorben ist, kümmert sich die ganze Welt um die Witwe. Sie bekommt Geschenke und überall eine Krankschreibung. Sie wird eingeladen und getröstet. Aber wenn du nach Jahren durch Zufall darauf gestoßen wirst, dass du die Liebe deines Lebens verkackt hast, dann wirst du nur schief angegrinst und taugst allenfalls noch als abschreckendes Beispiel für die Nachwelt. Sie war zu schüchtern! Hahaha! Sieh sie dir an! Willst du so enden? Dann hör auf, schüchtern zu sein! Hab keine Angst dich zu blamieren! Sonst kommt die Blamage, wenn es längst zu spät ist! Wenn nichts mehr zu retten ist, treibt dich der Kummer, die peinlichsten Dinge zu tun.

Ja, du blödes Schicksal, ich hab´s kapiert. Und wo, bitte schön, ist nun der Schalter?

Noch einen Gin Tonic bitte! Evolutionär betrachtet, macht Liebeskummer erst Recht keinen Sinn. Er hindert Menschen im zeugungs- und gebärfähigen Alter wochenlang daran, sich fortzupflanzen. Liebeskummer! Was für eine maßlose Untertreibung! Kummer. Kümmerlich. Verkümmert. Nein. Dieser Schmerz ist riesig. Er ist King-Kong. Und plötzlich, während meine Freundin mich in der Kälte warten lässt und ich im Phon das dämliche Wort eingebe, um eine Erklärung zu finden für das, was mir gerade widerfährt, schreitet der Riesenaffe über den Platz auf mich zu und ich kapiere schlagartig. Wir sind von Wesen umgeben, die sich von unserem Liebeskummer ernähren. Sie sind unsichtbar. Aliens. Oder winzig wie Viren. Liebeskummer, lese ich, veraltet: Herzeleid, bezeichnet umgangssprachlich die emotionale Reaktion auf unerfüllte oder verlorene Liebe. Im Volksmund spricht man von Gebrochenem Herzen. Nach der ersten Phase des Nicht-wahr-haben-wollens, in der der oder die Verlassene oft versucht, den verlorenen Partner zurückzugewinnen, stellt sich eine Trauerphase ein, die von Monaten bis zu Jahren dauern kann. Ich kann jedes Wort bestätigen. Es dauert bis zu J A H R E N. Wie aberwitzig! Und dann -haltet euch fest- nach Monaten, vielleicht Jahren, beginnt Phase drei, in der das Leben wieder beginnt, Spaß zu machen und wir das Geschehen verarbeiten. Nach Jahren also fällt dir auf, dass der Typ, dem du nachgetrauert hast, der dich in sexuelle Inaktivität getrieben hat, als hättest du ein Gelübde abgelegt, nicht Gott war, sondern ein narzisstischer Holzkopf. Das ergibt doch keinen Sinn! 

Meine Freundin kommt. Sie wickelt sich eine Decke um die Hüften, zündet sich einen Glimmstängel an und lässt sich neben mir auf die Bank fallen. Hast du jemals darüber nachgedacht, wieso immer mehr Singles in den Großstädten leben, frage ich sie. So sichern die Liebeskummer-Aliens sich ihr Futter. Sie manipulieren uns. Sie sind überall. Sie haben das Internet besetzt. Ist doch logisch! Denk nach! Nur so können sie uns permanent in neue Beziehungen drängen, die wir bald darauf kummervoll beenden müssen. 

Meine Worte dampfen stoßweise in die Winternacht. Meine Freundin kichert und fragt, was ich getrunken habe. Sie bestellt Kamillentee. Hast du dich entgegen aller guten Vorsätze doch wieder im Netz auf die Suche begeben? 

Ich war auf der Straße, zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich rede auch gar nicht von mir, ich meine generell. Liebeskummer passt nicht in eine Welt, in der alles irgendeinem Zweck dient. 

Geht vorbei, sagt sie. 

Wie ich das hasse, wenn jemand sagt: Geht vorbei! Ja klar, auch das Leben geht vorbei. Alles ist irgendwann vorbei. 

Sie sagt: Wird Zeit, dass wir mal wieder tanzen gehen! 

Tanzen gehen! Ha! Ein Lösungsweg, der bis auf unabsehbare Zeit verbarrikadiert ist. Danke!

Bleib entspannt, sagt meine Freundin und sieht mich an, als wolle ich ihr den Liebeskummer-King-Kong auf den Hals hetzen. Du solltest mal in den Süden fliegen. Du hast doch am Ende des Winters immer irgendwas: Depressionen, Schwächeanfälle, Spuren von Wahnsinn…

Ich ärgere mich über sie und stelle mir vor, in den Süden zu fahren. Was wäre denn anders, wenn ich mich am Meeresstrand entlang schleppen würde oder durch die Straßen einer fremden Stadt? Alles nähme ich mit, meine Sehnsucht und den Schmerz. Mein Herz würde vor Einsamkeit und Angst hart pochen. 

Und doch mache ich es. Ich reise in den Süden, laufe allein am leeren Strand entlang, vorbei an einer Ferienstadt, deren Fenster mit Läden verrammelt sind, wie mein Glück verrammelt ist. Ein Ort, so verlassen wie mein Herz. 

Eine Stunde hinter der Stadt schieben Felsen ihre spitzen Scharten in den Sand. Es ist kühl, aber heller als bei uns im Norden. Das Licht ist warm. Die Felsen leuchten rötlich. Ich möchte diese Bilder mit jemanden teilen. Nicht mit irgendwem. Ich möchte sie einem Menschen schicken, der begierig darauf ist, von mir zu hören. Diesen Menschen gibt es nicht. Ich denke darüber nach, hinter dem nächsten Felsvorsprung für immer aus der Welt zu verschwinden. Würde mich jemand vermissen? Würde jemand länger als zwei Wochen um mich trauern? Ich habe eine Tochter, aber sie ist erwachsen und lebt längst ihr eigenes Leben. Welche Erinnerungen an mich würde sie behalten? Würde ich meinen Freundinnen im Trespassers fehlen? Bin ich wirklich eine gute Zuhörerin? Ich setze mich auf einen Stein und blicke über das Meer, das in kleinen Wellen gegen den Sand gluckst und ebenso rötlich schimmert wie die Felsen. 

Ich sollte anfangen, mich darum zu kümmern, am Ende von jemandem vermisst zu werden. Ich sollte meine Freunde häufiger anrufen, mich mehr für sie interessieren. Ich wühle das Telefon aus der Tasche und schreibe meinen Freundinnen aus dem Trespassers, wie sehr ich sie vermisse. Meiner Tochter beschreibe ich das rötliche Licht im Süden und den Unterschied zwischen diesem Meer und der Ostsee, wo wir mal zusammen Ferien gemacht haben. Es wird eine lange Nachricht. Ich schreibe, dass ich sie gern wieder einmal zum Essen einladen und mit ihr reden würde, über ihr Leben. Ich schreibe, dass ich ihre Sommersprossen küsse und ihr Haar streichele. Ich schreibe, dass ich immer an sie denke, besonders, wenn ich etwas Schönes erlebe. Meiner Dienstags-Freundin schicke ich zusätzlich Dankeschön-Herzen für den Rat, mal wieder in den Süden zu fahren.

Mir fällt auf, dass ich grinse, während ich das alles tippe, dass ich meinen Körper in die Worte lege. Wie eine Pianistin sich über die Klavier-Tasten körperlich in ihre Musik begibt, gehe ich mit meinen Nachrichten in das kleine Phon. Ich atme sehr tief, als ich das bemerke. Ich mache eine Pause und lausche dem Meer und dann geschieht etwas Seltsames: Eine Welle von Glück flutet mich. Mein Herz pocht nicht mehr. Es pulsiert. Ich laufe zurück und kaufe in dem einzigen Kiosk, der am Rand der verlassenen Ferienstadt eine Flagge gehisst hat, Ansichtskarten. Sie sind wellig und klamm von der Winternässe in diesem Bungalow, der heute wahrscheinlich das erste Mal nach dem Winter wieder geöffnet ist. Ich schäme mich nicht für mein schlechtes Französisch, als ich sie kaufe und dazu einen kleinen, schwarzen Kaffee bestelle, wie ihn die Einheimischen hier trinken. Ich bin die einzige Fremde. Eben dachte ich noch, dass es typisch für mich ist, in der falschen Saison umher zu irren. Aber jetzt denke ich, wie toll es ist, die einzige Urlauberin in dem einzigen geöffneten Haus dieser Stadt zu sein. So, als wäre dieser einzige Tag herausgeschnitten aus der Zeit, als schwebten der Kiosk und wir losgelöst über dem Meer. Der frische Wind hat alles Davor und alles Drumherum unter uns weg gepustet, ins Landesinnere, über das hinweg ich später nach Hause fliegen werde. 

Kiesel Sand Modder

Performance für einen Pfuhl

Makiko Nishikaze – Klangskulptur | malatsion – Skulptur aus organischem Material und Aktion

4. September 2021, 15 Uhr

Ort: Karutschenpfuhl im Garten der Leo-Borchard-Musikschule in 12169 Steglitz, Grabertstraße 4, 6 Minuten Fußweg ab S-Bahn-Station Südende. Der Eintritt ist frei. Bitte anmelden unter eklat.berlin@posteo.de

Teil IV – ein grausiger Ort

Teich in Brandenburg

Wahrscheinlich habt ihr es in den Nachrichten gehört. Der Deutsche Umweltpreis 2021 geht an Katrin Böhning-Gaese und Hans Joosten. Böhning-Gaese habe einen „herausragenden Beitrag zur Bedeutung der biologischen Vielfalt für Planet und Menschen“ geleistet und Hans Joosten „bahnbrechende Forschung zum enormen Stellenwert der Moore beim Klimaschutz“. 

Hans Joosten und sein Greifswald Moor Centrum waren mir ein Begriff, seit ich mich einmal mit dem Thema beschäftigt habe. 

Im Sommer vor zwei Jahren bin ich wieder einmal durch das Georgenfelder Hochmoor im Erzgebirge gelaufen. Es befindet sich in der Nähe von Zinnwald. Zuletzt war ich dort als Kind. Meine Eltern machten oft mit uns Kindern im Erzgebirge Urlaub, nicht nur zum Skilaufen im Winter, sondern auch im Sommer. Wir wanderten viel, badeten in den Galgenteichen und liefen auf den Bohlen durch das geheimnisvolle Moor. 

Das Moor hat sich verändert. Die feuchtnassen Wiesen mit ihrer sehr eigenen Vegetation sind kaum noch zu sehen. Sie sind ausgetrocknet. Nicht nur Moore, die für landwirtschaftliche Nutzflächen zerstört werden, sind eine Klimakatastrophe. Auch vertrocknende Moore setzen Unmengen an CO2 frei. Das Wichtigste an einem Moor ist, dass es nass bleibt. Nur dann funktioniert es als Kohlenstoffspeicher.

Ein Moor ist ein stiller, geheimnisvoll anmutender Ort, unter natürlichen Bedingungen nicht begehbar. In unserem kulturellen Gedächtnis ist das Moor ein Ort der Irrlichter, der Geister und des Todes. Der Zustand des Planeten zwingt uns endlich zum Umdenken. Er führt uns vor Augen, dass die stillen, dunklen Biotope, die scheinbar nutzlos im Land liegen und sich nicht „verwerten“ lassen, der Kommerzialisierung also untauglich sind, eine essentielle Bedeutung für die Lebensbedingungen auf dem Blauen Planeten haben. 

Mit KIESEL SAND MODDER möchten wir diese feine Balance zwischen Wasser und Boden feiern, die gerade sehr gefährdet ist. Regelmäßig geflutete Auen sind ebenso wichtig wie die Moore und feuchten Waldböden und die Schilfgürtel um Seen, Teiche und Pfühle, die mit ihren Rhizomen feste Zwischenwelten knüpfen auf der Grenze zwischen Land und Wasser. 

Wir können nicht zurück zu unberührten Landschaften. Die Menschheit ist enorm gewachsen. Wir brauchen Land, um Gemüse und Getreide anzubauen und unsere Häuser darauf zu stellen. Doch wir sind noch nicht zu viele, auch wenn wir uns in den überfüllten Verkehrsmitteln und bei der Jagd nach einem Arbeitsplatz häufig so fühlen. Die Schubladen liegen voller spannender Ideen und Pläne zur Klima- und Menschenrettung. Es gibt fantastische Ideen zur Gestaltung der Innenstädte, mit Mini-Wäldern beispielsweise, die luftreinigend und -befeuchtend wirken. Es mangelt am politischen Willen, diese Ideen umzusetzen. Stattdessen führen die Lobbyisten der industriellen Landwirtschaft mit ihren Gen- und Giftkonzernen und die der Autoindustrie die Politiker an der Nase herum. 

Als ich im Sommer 2019 das erste Mal seit langer Zeit wieder im Erzgebirge war, fiel mir auf, dass viele Waldwege, auf denen wir früher wanderten, völlig zugewachsen und unpassierbar geworden sind. Dasselbe beobachte ich in den Wäldern von Brandenburg. Offenbar liefen früher mehr Leute durch den Wald als heute. Auf unseren Radtouren fällt meinem Freund Philippe und mir eine merkwürdige Konzentration aller Menschen auf wenige Orte auf. In den Ostsee-Bädern laufen und fahren alle Urlauber durch eine Straße. Es ist die Straße, in der sich die Restaurants und Läden aneinanderreihen. Es entsteht der Eindruck, der Ort sei wahnsinnig überlaufen. Doch wenn wir in eine Nebenstraße abbiegen, begegnet uns kein Mensch mehr. Die Wander- und Radwege der Region sind leer. Viele Dörfer liegen völlig marginalisiert und verlassen. Neulich fragten wir eine junge Frau, die den Rasen ihres Gartens mähte, nach einem bestimmten Waldweg, den wir suchten. Sie sah uns erstaunt an. „Wollen Sie dort mit den Rädern lang fahren?“ Wir sehen nicht gerade unsportlich aus und fahren Mountainbikes. „Viel Glück!“ sagte sie spöttisch, nachdem sie uns den Weg gezeigt hatte. Es war ein ganz normaler, breiter, gut zu befahrender Weg. Aber es war eben kein asphaltierter Radweg. Zu Beginn des Weges wuchs Gras zwischen den sandigen Fahrspuren. Offenbar finden immer mehr Menschen Wege wie diesen unkomfortabel. 

Wir sind nicht zu viele. Noch lange nicht. Wenn die Mechanismen des Neoliberalismus, dessen Wirtschaftssystem Billiglöhne und Effizienz diktiert, endlich heiß gelaufen ist und die Maschine explodiert, werden wir Menschen die Großstädte und Ballungsgebiete wieder verlassen. Wir werden uns übers Land verteilen und in den Orten, in denen wir leben, auch arbeiten. Wir werden dort ins Theater und in Galerien gehen. Wir werden auch reisen und uns andere Orte ansehen. Wir werden miteinander vernetzt bleiben, aber nicht mehr in dieser Konzentration leben. Schon heute verlegen Menschen, die es sich leisten können und ein gutes Auto haben, ihren Lebensmittelpunkt aufs Land. Dort entstehen kulturelle Orte, Öko-Initiativen für Flüsse und Biotope und alternative Mehr-Generationen-Wohnprojekte, oft mit Biogärten und/oder -Ländereien.  Unsere Bedürfnisse nach Individualität, einem Sinn und Selbstbestimmung sind so stark wie die kleine Wildblume, die sich durch den Schotter zwischen den Bahnschienen drängt, über die jede Stunde ein Zug donnert. 

Im Vorfeld von KIESEL SAND MODDER habe ich nach einer Expert*in für Moore in Berlin gesucht und Professor Jutta Zeitz gefunden. Sie hat viele Programme zur Renaturierung von Mooren in Berlin und Brandenburg geleitet. 

Ich habe Jutta Zeitz gefragt, was erforderlich ist, um ein Feuchtgebiet oder Moor zu renaturieren, und ihre Antwort war ganz einfach: 

WASSER. 

Sonst nichts. 

Bis 2050 müssten die 1,7 Millionen Hektar Moore in Deutschland wieder vernässt werden, um die klimapolitischen Ziele zu erreichen, die die Staaten in Paris beschlossen haben. Uns Laien geht ja immer alles zu langsam, wir haben manchmal den Eindruck, die Politiker hätten den Klimawandel noch gar nicht bemerkt, aber so ist es nicht. Im Gespräch mit Jutta Zeitz ist mir klargeworden, wie schwierig es ist, auch das kleinste Naturschutzprogramm umzusetzen. Da sind nicht nur die Landwirte, die Anbaugebiete und Weideflächen durch die Wiedervernässung verlieren, sondern auch die an die entwässerten Bedingungen angepassten Tierarten, die ihren angestammten Lebensraum verlieren, sobald sich etwas in der Landschaft verändert. Das alles muss von Experten verhandelt werden. Das erste, was benötigt wird, um ein Moor oder Feuchtgebiet zu renaturieren, ist also: 

KOMMUNIKATION. 

Die Medien spielen in diesem Verhandlungsprozess eine eher nicht so gute Rolle. Für sie gilt: only bad news are good news. Sie brauchen ihre Katastrophenmeldungen. Da die einzelnen Interessengruppen (Landwirte, Naturschützer, Klimaschützer, Verkehrsplaner) ihre Katastrophenszenarien auch aufbauschen, um gehört zu werden, ist es für Medienmacher ganz einfach, reihenweise schlechte Nachrichten zu produzieren. 

Frau Professor Zeitz sagt: DIE WAHRHEIT LIEGT IRGENDWO IN DER MITTE. 

Wir wissen nicht genau, wie viele Reserven die Erde hat. Vielleicht sind wir noch nicht verloren. Vielleicht will die Erde uns nicht verlieren. Wir sind immerhin die einzige Spezies, die staunen, lachen und weinen kann. Vielleicht ist das Corona-Virus Teil ihres Abwehrmechanismus, ein Zeichen, uns zu sagen: Hej, jetzt kommt mal klar! 

Wir wissen noch viel zu wenig über den Boden, auf dem wir gehen. Wir wissen noch zu wenig über „die eigentlichen Zauberer“ (Jutta Zeitz), die Mikroorganismen und kleinen Tierchen, die organisches Material zu Humus zerlegen. 

Sommerregen

Lesetipps von Jutta Zeitz: 

Anita Idel „Die Kuh ist kein Klima-Killer! Wie die Agrarindustrie die Erde verwüstet und was wir dagegen tun können“

Tanja Busse „Die Wegwerfkuh: Wie unsere Landwirtschaft Tiere verheizt, Bauern ruiniert, Ressourcen verschwendet und was wir dagegen tun können.“

Rutger Bregman „Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen“ 

Kiesel Sand Modder

Performance für einen Pfuhl

Makiko Nishikaze – Klangskulptur | malatsion – Skulptur aus organischem Material und Aktion

4. September 2021, 15 Uhr

Ort: Karutschenpfuhl im Garten der Leo-Borchard-Musikschule in 12169 Steglitz, Grabertstraße 4, 6 Minuten Fußweg ab S-Bahn-Station Südende. Der Eintritt ist frei. Bitte anmelden unter eklat.berlin@posteo.de

Teil III – Die Künstlerinnen

Schaukeln zwischen Land und Fluss – an der Elbe in Dresden

Wenn ich Makiko beim Arbeiten zusehe, werde ich daran erinnert, dass Hören Erleben ist. Unsere Ohren liegen dicht am Kopf, in Nachbarschaft der Augen. Sie sind weiche, seltsam, aber logisch geformte Trichter, hinter denen Geräusche auf die feinen Knöchelchen treffen. Makiko führt mich direkt in meine Ohren, in diesen wundersamen Raum, während ich beobachte, wie sie gerade etwas erforscht, manchmal mit Händen und Füßen, ein Klavier oder einen Tannenzapfen. 

http://www.makiko-nishikaze.de

Malatsions Arbeiten bin ich zum ersten Mal in der INSELGALERIE Berlin begegnet. Unter dem Titel „Genesis of my hybridization. Implants“, zeigte sie drei in Wasser schwebende Plastiken aus farbigem Silikon, die an Korallen erinnerten, aber auch als Teile von Organen hätten gelesen werden können. Die Figuren ähnelten etwas Lebendigen, gleichzeitig war es unmöglich, sie klar zuzuordnen, so dass ihr Anblick trotz der großen Ästhetik Unbehagen auslöste, eine Mischung aus Verwirrung, Furcht und Faszination. Wenn sich eine Unklarheit einstellt, kann sich der Blick kaum lösen. Er forscht nach einer Botschaft, einem Sinn. Ich dachte an mein Misstrauen und meine Furcht angesichts bestimmter wissenschaftlicher Forschungen, gerade in der Gentechnik. 

https://malatsion.de

Die Corona-Pandemie hat uns kollektiv in eine unklare Situation geführt. Das ist schwer auszuhalten, da wir immer nach einer Erklärung suchen. Wir suchen nach Zusammenhängen. In dieser Zeit wurde mir klar, dass wir lernen müssen, unklare Situationen auszuhalten. Schnelle Antworten sind meist falsch, zumindest sind sie ungenau. Wissenschaftler kennen das. Aber wir sind gewohnt, dass sich ein Politiker breitbeinig auf einer Bühne aufbaut und behauptet, die Lage sei unter Kontrolle. Das fiel zu Beginn der Pandemie aus. Und das war gut so. Offen gestanden, hat mir die Gesellschaft der Nichtwissenden mein Vertrauen in die Politik zurückgegeben. Dieser Moment war ehrlich. Doch sehr viele hatten die größten Schwierigkeiten mit der Abwesenheit einer beruhigenden, allwissenden Autorität. Sie forderten Erklärungen. Und als sie nicht kamen, schufen sie sich ihre eigene Schein-Klarheit.

Edouard Glissant, ein Kulturtheoretiker, der auf Martinique geboren wurde, in New York lehrte und lebte und zuletzt in Paris das Institut du tout-monde gründete, hatte analysiert, dass der Wunsch nach Klarheit ein typisch westlicher sei. Er sagte, die Entwicklung der Gesellschaft erfordere, dass wir als Gemeinschaft zusammen leben müssen, auch wenn wir uns manchmal nicht verstehen. Er forderte das Menschenrecht auf Opazität, das Recht jedes Menschen darauf, unverstanden zu bleiben. Er sprach nicht von der Situation einer Pandemie, sondern vom engen Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen. Einem anderen Menschen das Recht auf unverstanden-sein einzuräumen, klingt einfach, scheint aber schwierig, zumindest, wenn unser Zusammenleben eine gewisse Qualität haben soll. Unsere Empathie gehört denen, die wir verstehen. Deshalb drücken wir unsere Verbundenheit aus, indem wir sagen: Ich verstehe dich. Die Aussage: Ich verstehe dich nicht, bedeutet Abwendung und Ausschluss.

Interessanterweise sind es dieselben Personengruppen, die verhindern wollen, dass Menschen anderer Kulturen in unserer Nachbarschaft leben, die größte Schwierigkeiten mit der unklaren Pandemie-Situation hatten und nach schnellen Erklärungen suchten, und sich in der Folge in wüste Theorien verstiegen haben.

Opazität. Unklarheit. Dunkles, schlammiges Wasser. Diese Zuständen können kreative, fruchtbare Situationen kreieren. In der tiefsten Nacht des Jahres bilden sich die Blattknospen der Pflanzen. In unserer Kultur der binären Gegensatzpaare gehören Dunkelheit und Nacht zur Erde, zum Weiblichen und zum Verbrechen, zum Schmutz. Demgegenüber stehen die glitzernden Sterne an einem klaren Himmel als Zeichen des Göttlichen. In den vorchristlichen Weltbildern spiegelt der Himmel die irdische Situation. Er existiert nicht getrennt von der Erde, sondern als ein Teil von ihr. Ki

Kiesel Sand Modder zelebriert den unklaren Zustand des Wassers, die Mischung von Stoffen in der Grenzsituation des Ufers. Dort werden manchmal giftige Bestandteile abgelagert. Dort entsteht aber auch Neues. Pflanzen wachsen im Schlamm. Kleine Tiere siedeln sich an. Ein Biotop weitet sich aus. Es ist ein Vorgang, der sich unserer Kontrolle entzieht. Er ist unklar.

Kiesel Sand Modder

Performance für einen Pfuhl

Makiko Nishikaze – Klangskulptur | malatsion – Skulptur aus organischem Material und Aktion

4. September 2021, 15 Uhr

Ort: Karutschenpfuhl im Garten der Leo-Borchard-Musikschule in 12169 Steglitz, Grabertstraße 4, 6 Minuten Fußweg ab S-Bahn-Station Südende. Der Eintritt ist frei. Bitte anmelden unter eklat.berlin@posteo.de

Teil II – Auf dem Weg zu einem Ort

Usedom-Radweg, Vorpommern

Im August 2020 fuhr ich mit meinem Freund Philippe auf dem Usedom-Radweg. Es waren heiße, sonnige Tage. Auf dem ganzen Radweg begegnete uns kaum ein Mensch. Hinter Prenzlau fuhren wir durch mehrere verlassen wirkende Dörfer. Es gab weder Cafés noch Restaurants, auch keine Läden. Die Häuser sahen ärmlich aus. Die Straßen waren notdürftig geflickt. Nirgendwo eine Bewohner*in in ihrem Garten oder auf der Dorfstraße. Ödnis. Das Gefühl, an der Bruchkante einer Gesellschaft angekommen zu sein. Und so müssen sich die letzten verbliebenen Bewohner*innen dieser Dörfer fühlen.

Hier und da war ein hübsches Bauernhaus zu erblicken, mit Keramiken in den geputzten Fenstern, renoviert von Leuten aus der Stadt, die ihr Leben aufs Land verlegen wollen.

In einem der Dörfer fuhren wir an diesem Schild vorbei: UNSER DORFTEICH SO LEER WIE EURE VERSPRECHEN. Dieses Schild, direkt am Usedom-Radweg aufgestellt, gegenüber des vertrocknenden Tümpels, rührte mich. Ich fühlte mich direkt angesprochen. Natürlich war ich nicht gemeint, denn ich hatte den Bewohnern ja keine LEEREN VERSPRECHEN gemacht, aber ich fühlte mich aufgerufen, etwas zu tun. Wir können doch nicht zusehen, wie ein Dorfteich vertrocknet! Am liebsten hätte ich eine längere Station eingelegt. Es gab unweit so etwas wie eine Pension, allerdings ausgebucht. Obwohl ich vielen dieser kleinen Pensionen am Usedom-Radweg, die alle behaupteten, ausgebucht zu sein, nicht glaube. Wer, bitte schön, wohnt dort? Es ist kein Mensch auf der Straße, kaum ein Radfahrer. Die Ödnis der Strecke hat sich herumgesprochen. Der gewöhnliche deutsche Ökotourist bevorzugt Idyllen. Vermutlich haben die Betreiber der Pensionen einfach keine Lust mehr. Oder keine Zeit. Wahrscheinlich fahren sie täglich hunderte Kilometer zu ihrem Arbeitsort und wieder zurück. 

Ich dachte wieder an die Plastiken von malatsion. Ich dachte, dass wir das Begräbnis-Ritual hier an diesem Ort durchführen sollten, für dieses sterbende kleine Biotop an der Bruchkante der Gesellschaft. Ich dachte an ein radikal ökologisches Kunstprojekt. Wer kommt, um es zu sehen, soll sich auf das Fahrrad setzen oder in den Zug. Die nächste Bahnstation ist nicht weit. Wir könnten gemeinsam mit den Dorfbewohner*innen einen Shuttle-Service einrichten. Auch die Presse fordern wir auf, das Rad zu nehmen. Okay, wir können niemanden zwingen. Wir können nur appellieren. Es ist wie mit der Impfung. Ich bin strikt gegen Zwänge. Ich bin für Bildung und Aufklärung. Gestern hat die Bundesregierung beschlossen, dass es für Ungeimpfte keine kostenlosen Tests mehr geben soll. Ich finde das schlimm. Das ist einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft unwürdig. Wir müssen Menschen tragen, die sich vor dieser Impfung fürchten. Es gibt tausend Gründe, sich vor dieser Impfung zu fürchten. Das müssen wir respektieren. By the way: Ich bin geimpft und froh darüber. Ich bin glücklich, in einem Land zu leben, in dem kostenlose Tests und kostenlose Impfungen für alle bereitstehen. Und letztendlich wurde diese Mammutaufgabe fantastisch bewältigt. Aber ich hasse die Verlogenheit, zu sagen, bei uns sei alles frei und freiwillig, es gäbe hier keine Zwänge, jeder würde respektiert, so wie er ist, dann aber Regeln zu schaffen, die Menschen ausschließen, nur weil sie ein bisschen anders ticken. Anders ticken muss erlaubt sein! 

Ich schweife ab. Aber alles hängt nun einmal mit allem zusammen. In diesem Jahr 2020 habe ich viele sehr gute Bücher entdeckt, die mich prägten, weil die Autor*innen den Zustand der Natur, den Zustand der Gesellschaft und den Zustand der Regierungen zusammen denken. „Das terrestrische Manifest“ von Bruno Latour beispielsweise. Oder: „Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen“, von Raj Patel und Jason W. Moore. 

Sowohl Latour als auch Patel und Moore schreiben, dass es bei jeder politischen Entscheidung, bei jedem Krieg und jedem Börsenkurs und auch in der Entwicklung von Regionen bzw. deren Nichtentwicklung um den Boden geht, auf dem wir stehen und gehen. 

Das klingt ein bisschen nach „Blut und Boden“. Gruselig. Und genau das ist das Problem. Latour schreibt: „Um zu beruhigen, müsste man zu zwei komplementären, durch die Herausforderung der Modernisierung, aber widersprüchlich gewordenen Regungen fähig sein: sich einerseits an einen bestimmten Boden zu binden und andererseits weltbezogen zu werden. Bislang galt dieses Unterfangen in der Tat als undurchführbar. Zwischen beiden, so war zu hören, muss gewählt werden. Es kann sein, dass die gegenwärtige Geschichte diesem scheinbaren Widerspruch ein Ende setzt.“ 

Und weiter schreibt Latour: „Es gibt im Gegenteil nichts Innovativeres, nichts, das stärker präsent, subtiler, technischer, künstlicher (im besten Wortsinn) und weniger rustikal und bäuerlich-ländlich wäre, nichts, das schöpferischer wäre und der gegenwärtigen Zeit mehr entsprechen würde, als darüber zu verhandeln, wie und wo wieder Bodenhaftung erzielt werden könnte.“  

Zuvor führt Latour aus, dass die sogenannte Globalisierung von der Vielheit weg zu einer vereinheitlichten Sicht auf die Welt führte. Globalisierung wurde für einige wenige Menschen kreiert, die davon profitierten, während die Masse verarmte und alles verlor, sogar ihre Zuhäuser und ihre Identität. 

Meine Idee war, alle Dorfbewohner*innen Teil der künstlerischen Performance werden zu lassen, indem wir sie in den Prozess einbeziehen. Indem wir sie bitten, Quartiere für die Gäste zu stellen und mit ihren Wagen einen Shuttle-Service zur nächsten Bahnstation zu organisieren, indem wir mit ihnen sprechen, indem wir uns ihre Geschichten erzählen lassen und diese aufschreiben. 

Ich weiß, dass es schwer zu realisieren wäre. Denn für die Dörfler*innen bleiben wir intellektuelle Städter*innen, die keine Ahnung davon haben, was es heißt, an der Bruchkante der Gesellschaft zu leben. Womit sie Recht haben. Wir kommen vorbei, bringen kurz Aufruhr und Presse und verschwinden wieder. Und für den Dorfteich ändert sich nichts. Vielleicht ist es ein Vorurteil. Vielleicht sind wir doch eines Tages dort an dem vertrocknenden Dorfteich und schreiben eine neue Geschichte…

Am Ende des Sommers wieder zu Hause, bekam ich Post von malatsion. Sie hatte ihre Skulpturen inzwischen produziert. In einem Garten im Münsterland hatte sie bereits eine künstlerische Performance gemacht, mit dem gARTstipendium bei ARTLOCH Prod., Borken/Westf. Sie hatte ihre nach Pflanzensamen und Pollenkörnern geformten Plastiken in einem Begräbnisritual dem Boden übergeben. Die Lokalpresse hatte darüber berichtet. Das Foto in der Zeitung zeigt die Künstlerin in einem weißen Arbeits-Overall beim Ausheben der Löcher. Daneben stehen ihre dunklen Plastiken aufgereiht. 

Wir beschlossen, eine ähnliche Performance für Berlin zu entwickeln und hier eine Geldgeber*in zu suchen. Außerdem wollten wir eine weitere Künstler*in gewinnen, mit uns zu arbeiten, um malatsions Idee einer Performance zu erweitern. 

Ich hatte die Klangkünstlerin Makiko Nishikaze bei der Vernissage von Christine Düwel gesehen. In makokon arbeitet sich Makiko minutenlang – wie ein Insekt aus seinem Kokon – aus einem Papierberg vorsichtig hinaus in den Lärm der Stadt. 

Makiko sagte zu, mit uns zu arbeiten. 

Nachdem das Kulturamt Steglitz-Zehlendorf uns die Finanzierung des Projekts KIESEL SAND MODDER gewährt hatte, erhielten wir vom Tiefbauamt eine Absage für unsere Idee, eine Performance für die Bäke im Bäke-Park zu machen. Begründet wurde die Absage damit, dass die öffentlichen Parkanlagen im Coronajahr 2020 sehr frequentiert waren und nun jede größere Menschenansammlung in den Parks vermieden werden soll. 

Aber die Leute im Grünflächenamt halfen uns, einen neuen Ort zu finden. Dieser Ort ist eine Wiese am Karutschenpfuhl im Garten der Leo-Borchard-Musikschule in Steglitz. Der Pfuhl befindet sich in einem bedauernswerten Zustand. Sein Wasserspiegel ist soweit gesunken, dass er vom Ufer nicht mehr zu erreichen ist. Die Reste eines Stegs modern im dunklen, stehenden Gewässer, das mehr einer Jauchegrube ähnelt als einem Teich. Der Teich ist völlig unbeachtet im hinteren Teil des Gartens. Verschwindet er, weil ihn niemand mehr anschaut? 

Wissen die Musikschüler, die in der schönen, alten, weißen Villa ein- und ausgehen, dass hinter der Schule ein Teich ist? Ein Teich, auf dem vor nicht allzu langer Zeit Boot gefahren, in dem gebadet wurde. 

„[Zwischen Karutschenpfuhl] und Hambuttenpfuhl bestand ein Teichverbund mit Wasserläufen und Brücken. Das Gelände diente dem überregionalen Ausflugsbetrieb mit Badeanstalt, Gartenlokalen und Bootsbetrieb. Die Pfühle sollen 7 Quellen gehabt haben. Insgesamt macht der Karutschenpfuhl [heute] den Eindruck eines gestörten Ökosystems.“ (Quelle: Bestandsaufnahme Stehende Gewässer II. Ordnung im Bezirk Steglitz-Zehlendorf, vorgelegt im Dezember 2004) 

malatsion und Makiko bei der Besichtigung des Gartens, Juni 2020

https://malatsion.de

http://www.makiko-nishikaze.de