Kathrins Notiz-Blog 8. April 2011

© Illustration Liane Heinze

Love4Japan hat sich für unsere Hilfsangebote bedankt. Sie haben 800 Zimmer für japanische Flüchtlinge organisiert. Aber in Japan konnten sie nur 30 Menschen überreden, das Land zu verlassen.

Im Radio reden sie von früh bis nachts über Geld. Wie sich die Katastrophe auf die Börsenkurse auswirkt, was sie für die deutsche Wirtschaft bedeutet…insbesondere für die Autoindustrie. Alles ist gar nicht schlimm, erfuhr ich heute Morgen, denn die meisten Auto-Teile kommen mittlerweile aus China. Und China, nicht Japan, ist Deutschlands Handelspartner Nummer eins. Die chinesischen Firmen beziehen die Teile allerdings manchmal auch aus Japan, weswegen es letztendlich doch zu Lieferengpässen kommen könnte. Soweit zum Stand der Katastrophe.

Gestern las ich, dass es so gut wie keine japanischen Lebensmittel in Deutschland gibt. Der grüne Tee, den ich jeden Morgen trinke, kommt aus Japan. Er ist in Papier-Tüten gepackt, die so schön sind, dass ich es seit Jahren nicht fertig bringe, sie in den Müll zu werfen. Der Teehändler in der Danziger Straße zeigte mir einmal ein Foto des Ehepaares, die den Tee anbauen. Ein schlankes Ehepaar in den Vierzigern stand zwischen Tee-Sträuchern und lächelte auf japanische Weise in die Kamera. Jeden Morgen, während ich die Nachrichten höre, trinke ich ihren Tee. Der japanische Tee ist ein wichtiges Lebensmittel für mich. Was soll die Information, dass es in Deutschland so gut wie keine japanischen Lebensmittel gibt? Soll das heißen: He Leute, seid froh, dass kein Reaktor in Kolumbien hoch gegangen ist. Dann ginge es nämlich an unsere Kaffeereserven.

Manchmal berichten Wissenschaftler über den Stand der Verseuchung. Einer der Reporter klingt dabei so fröhlich, als beschreibe er den interessanten Verlauf eines weiteren Container-Experiments, als wäre Tschernobyl Nummer zwei gar nicht wirklich, sondern nur gespielt, als ginge es nicht um das Leben von Millionen Menschen, sondern um die Testergebnisse eines Assessment-Centers. Diese gepenstische Art des öffentlichen Schweigens ist Teil des Super-Gaus. Sie macht mir mehr Angst als die Katastrophe selbst.

Ich bete für Japan. Ich flehe meine Göttin an, den Tod nicht länger ins Meer tropfen zu lassen. Ich schlage ihr ein Geschäft zur Rettung Japans vor. Ich schwöre ihr, Kolja nie wieder zu sehen und Leon treu zu bleiben, wenn sie das Desaster endlich stoppt.

Kathrins Notiz-Blog 5. April 11

© Illustration Liane Heinze

In der Nacht, schon in unsere Kissen versenkt, sahen wir im Fernsehen, wie in Japan radioaktives Wasser ins Meer tropfte. Die japanische Regierung sagte, dass es noch lange tropfen wird.

Leon hat Fieber. „Wir brauchen die Revolution“, jammerte er und drehte sich auf die Seite. „Na komm.“ Er griff mir zwischen die Beine.

Wieso wurde nicht längst eine internationale Luftbrücke eingerichtet, um die Menschen aus den verstrahlten Gebieten herauszuholen? Immerhin gibt es in Berlin eine Gruppe junger Leute, die Hilfe organisieren. Sie suchen überall Zimmer für Japaner, die sie aus dem Land holen möchten. „Ja“, hat Leon gesagt. „Ja.“ Immer wieder: „Ja.“ Und als ich fragte, welches der beiden Zimmer, sah er mich an, als könnte er Shimano nicht mehr von Campagnolo unterscheiden.
Ich habe auch Jolanda gefragt. Sie hat gezögert. Es käme doch eh niemand. Man wisse doch, dass die Japaner gar nicht weg möchten, wegen ihrer betagten Eltern und Tanten und Onkel.

„Aber die ohne Eltern und Tanten und Onkel?“ fragte ich. „Wenn morgen jemand käme? Wärst du bereit?“

„Logisch“, sagte sie.

Letzten Freitag habe ich Kolja im Büro besucht. Es war das erste Mal seit der Zeit in dem Haus, das wir uns wiedergesehen haben.

„Wir könnten das Haus zur Verfügung stellen“ hat er gesagt. „Meine Mutter kann in der Zeit bei uns wohnen.“

„Du musst vorher mit deiner Mutter sprechen.“

„Ich werde sie fragen“, hat er gesagt. „Aber du kannst das Haus schon anmelden. Ich weiß, dass sie bereit sein wird.“

Er hat mir ein Buch geschenkt, „Lob des Schattens“ von Tanizaki Jun’ichiro. Es geht darin um die Architektur und Ästhetik traditioneller, japanischer Häuser. „Weil du meine Schattenfrau bist“, hat er gesagt. Weil ich in dem Haus im Dämmerlicht gearbeitet hatte.

Kolja hat mich beobachtet, während ich in dem Buch blätterte. Er hat mich gelesen und dabei geraucht und die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Ich hatte fast schon vergessen, wie beruhigend die Wärme ist, die von ihm ausgeht.

„Schreib doch auch etwas über den Schatten“, hat er vorgeschlagen.

„Eigentlich liebe ich helle Räume. Es war nur, weil das Licht draußen im Garten so schön war.“

„Lies das Buch“, hat er gesagt. „Beobachte die Räume. Vielleicht findest du einen, dessen Schattigkeit dir angenehm ist.“

„Wie ist es in deinem Haus im Sommer?“

„Es ist nicht mein Haus“, hat er gesagt. „Es ist unser Haus.“

Ich bin erschrocken, weil ich nicht wusste, wen er meint. Unser – sind das alle, mich eingeschlossen, oder nur seine Familie? Oder meint er uns beide, ihn und mich? Ich habe mich nicht zu fragen getraut, weil ich die Antwort fürchtete.

Das Buch liegt neben den Tatamis. Leon interessiert es nicht. Er wird nicht fragen, warum ich es lese und woher es kommt. Ich kann ein Geschenk von Kolja einfach so neben mein Bett legen. Leons und Koljas Welten berühren sich nicht.

Ich schaltete den Fernseher aus und drückte mich dicht an Leon. Ich wollte keinen Spalt zwischen unseren Körpern zulassen, damit der Tod nicht zwischen uns tröpfelte. Aber das ging nicht, denn Leon hatte mir den Rücken zugewandt. Sein Rücken ragte vor mir auf wie eine Wand. Es funktioniert also nur umgekehrt, wenn ich mit dem Rücken zu ihm liege. Nur in dieser Position fühlt es sich gut an. Ich rüttelte an seiner Schulter. Ich bettelte: „Dreh dich um, bitte!“ Aber er hörte mich nicht. Ich legte mich auf den Rücken und blickte zur Decke und fühlte, wie der Tod zwischen uns tröpfelte.

Kathrins Notiz-Blog 3. März 11

© Illustration Liane Heinze

Kolja nahm mich mit zurück nach Berlin. Wir saßen im Zug, die Beine ineinander geschoben, hielten uns an den Händen und schauten uns an. Wir schauten nicht ein einziges Mal aus dem Fenster oder zu den Leuten im Zug. Koljas dunkelblaue Augen lasen in meinen Augen, unruhig, hin und her, von Zeile zu Zeile.

Er hatte meinen Körper gelesen. Wie ein Buch. Er hatte meine Seiten umgeblättert und ich hatte eine wohlige Gänsehaut bekommen, wie immer, wenn jemand in meiner Nähe liest. Nur dass ich diesmal selbst das Buch war. Er hat mich aus der Nähe gelesen. Seine Nase strich über meine Haut. Es war nicht wegen meines Duftes. Nein. Koljas Sinnesorgan sind die Augen. Er hatte mich von sich gestreckt, um mich von weiter weg zu lesen. Aber niemals, nicht eine Sekunde hat er die Augen geschlossen oder den Blick von mir gewandt. In dieser kurzen Zeit ist er nur ein paar Seiten weit gekommen, hat gerade so mein erstes Kapitel genossen.

Und danach, als wir die Kissen und Decken wieder auf das Sofa schichteten: Geht es dir gut? Tut Leon dir manchmal weh? Verwünschst du ihn? Hängst du an ihm? Später im Zug: Was macht das Studium? Kommst du mit dem Geld klar? Brauchst du einen Job? Und immer lasen seine dunkelblauen Augen in meinem Gesicht, konzentriert und verzweifelt, weil ich vielleicht log.

„Ich habe mir immer einen Freund wie dich gewünscht.“

„Wie ich?“

„Weil du mich liest wie einen Roman.“

Er hatte gelacht und die vielen Lachfältchen um seine Augen waren in ihre Form gesprungen. Ein einziges Mal während dieser Zugfahrt war sein Blick von meinen Augen weg auf unsere Hände gesunken.

Aber dann lies er mich gehen, begleitete mich nicht nach Hause, schaute mir nicht einmal nach, als ich aus der S-Bahn ausstieg. Er winkte auch nicht.

Leon war schon zu Hause. Von der Straße aus sah ich, dass Licht in der Wohnung brannte. Ich erschrak. Normalerweise kam er erst freitags zurück. Noch nie war ich nach Hause gekommen und er war überraschend schon da. Er musste etwas ahnen. Ich stand auf der anderen Straßenseite und schaute hinauf zu unseren Fenstern. Nichts regte sich. Dann ging ich hinüber.

Leon kam zur Tür und küsste mich und griff wie gewöhnlich zur Begrüßung nach meinen Brüsten. „Wieso hast du nicht angerufen? Ich hätte eingekauft und etwas zu essen gemacht“, sagte ich.

„Ich wollte dich überraschen“, sagte er. Er sah frisch aus, erholt und etwas gebräunt. Er schien nicht misstrauisch zu sein. Auf dem Boden vor unserem Bett lagen die neuen Fahrradrahmen zwischen den Pappen. Wie sollte er es auch wissen? Meine Stimme am Telefon, ja, aber es gibt tausend Gründe, weshalb man am Telefon anders klingt als gewöhnlich. Leon weiß, dass ich viel zu sensibel bin, um fremd zu gehen. Er war eher gekommen, weil er es nicht erwarten konnte, das Paket zu öffnen.

„Sieh dir das an.“ Er wog einen zierlichen matt-schwarzen Rahmen in der Hand, auf dem in grüner Leuchtschrift das Wort MARIN stand. „Ist er nicht wunderschön?“

„Ja“, sagte ich.

„Und hier!“ Er zog zwischen zwei Pappen eine Gabel in dem dazu passenden Grün hervor und hielt sie an den Rahmen.

„Toll“, sagte ich.

Ich lehnte mich in den Türrahmen und schaute ihm zu. „Du warst in der Sonne“, sagte ich.

„Das Wetter war wunderschön“, sagte er verträumt. „Hier auch?“

„Ja.“

Wir unterhielten uns also über das Wetter. Er fragte nicht, wo ich war. Er schien keinen Verdacht zu schöpfen. Ich zündete nicht wie sonst, wenn ich nach Hause komme, zuerst das Licht hinter unserem Wandschirm an, um die Wasserfarben auch im Winter zum Leuchten zu bringen. Ich blieb im Türrahmen stehen. Es lagen auch viel zu viele Pappen und Teile auf der Erde, um einfach so an die Kerze hinter dem Wandschirm zu kommen. Ich wollte mich zurückziehen, aber mir fiel auf, dass es in der Wohnung keinen Platz dafür gab.

In dieser Nacht hätte ich gern warm und eng an Leon gelegen, ohne Sex, einfach so, weil wir zusammen gehören. Aber Leon war hungrig. Er verschlang mich ohne Gebet, ohne mir etwas Süßes zuzuflüstern wie sonst. Er wartete nicht auf mich. Er hat es also doch gespürt. Er weiß alles.

Es schien kein Mond in dieser Nacht. Ich lief in der kühlen Wohnung umher. Ich nahm mir einen Keks und setzte mich in das Küchenfenster. Ich hatte eine brennende Lust, Leon von dem Haus zu erzählen und von den Sternen. Also liebte ich ihn doch?

Kathrins Notiz-Blog 2. März 11

© Illustration Liane Heinze

Ich bin danach noch in dem Haus geblieben. Kolja fuhr zurück nach Berlin, zu seiner Frau.

Ich glaubte, dass Leon an meiner Stimme hört, dass etwas geschehen ist. Ich stand im Garten und blickte in einen Sternenhimmel, der so dicht und nah war, dass ich fürchtete, hineinzustürzen. Unmöglich, unter diesem Himmel zu stehen und ihm nicht von den Sternen zu erzählen. Ich ging ins Haus und schloss die Terrassentür.

Leon erkundigte sich nach der Post, nach Anrufen. Er fragte, ob ich das Paket geöffnet habe. Er erzählte von dem Fahrradhändler in der kleinen, belgischen Stadt, bei dem er schon vor einem halben Jahr so viele Dinge entdeckt hätte, und dass er wieder in dem extrem hellhörigen Hotel wohnte. Er sagte, ich müsse mir die Stadt unbedingt anschauen. Sie sei arm, aber viel lebendiger und temperamentvoller als Berlin. Und wärmer, besonders nachts. Er redete und redete. Er erzählte viel mehr als sonst. Wollte er verhindern, dass ich zu Wort kam, weil meine Stimme ihn beunruhigte? Ich würde ihn niemals im Stich lassen. Sein Kindheitshaus aus Pappe war zerstampft worden, während Kolja mir das Haus seiner Kindheit einfach so überlassen konnte, für zwei Tage, komplett, mit Kamin und Büchern und Wiese und Sternen. Es war eine große Ungerechtigkeit.

„Ich liebe dich“, sagte ich. „Wann kommst du?“ Er antwortete nicht.

Kathrins Notiz-Blog 21. Februar 11

© Illustration Liane Heinze

Zuerst fiel mir Kolja ein. Ich brauchte sofort Hilfe und ich wusste, dass nur Kolja alles aufbieten würde, um sofort eine Lösung zu finden. Also rief ich ihn an.

Die Postverkäuferin hatte den Karton hinter dem Tresen hervor in den überfüllten Kundenraum geschoben. Ich hielt das Monster brav fest. Es durfte nicht auf die Seite kippen. Die Fahrradrahmen darinnen waren mehrere tausend Euro Wert. Das hatte Leon mir morgens am Telefon eingeschärft. Aber er hatte keinen Gedanken darauf verwendet, wie ich das Ding nach Hause transportieren sollte. Ich war nicht in der Lage es anzuheben. Wie hatte er das Paket in Belgien überhaupt zur Post geschleift? Ich wusste an diesem Morgen nicht, wen ich mehr verachtete: Leon, der leichtfüßig durch die Welt tänzelte oder mich, die ich mich mit seinem Mist abrackerte?

Zwanzig Minuten später erstürmte Kolja wie eine Terror-Spezialeinheit die Post. Er trug irgendwelches Zeug mit orange fluoreszierenden Streifen an Armen und Beinen. Er musste das von der BSR geklaut haben. Er sah wütend aus und doppelt so breit wie gewöhnlich. In der Schlange vor den Schaltern öffnete sich wie von Geisterhand ein Durchgang für ihn. Kolja nahm diesen unsäglich schweren Karton auf und trug ihn, ohne dabei lächerlich auszusehen, nach draußen. Er hob ihn in einen kleinen, weißen Lieferwagen, der dort bereit stand. Er gehörte einem Freund von ihm, einem Kunstschmied aus Bernau, der an diesem Tag zufällig in Berlin unterwegs war. Die beiden Männer schleppten die Fahrradrahmen in unsere Wohnung im dritten Stock. Der Schmied verabschiedete sich und ich war mit Kolja allein.

„Was ist Leon eigentlich für ein Mensch? Hat er dich mal angeschaut?“ Kolja strich in seinem Müllfahrer-Kostüm durch unsere Wohnung wie eine depressive Raubkatze. Seine Wut wärmte mir das Herz.

„Er denkt, dass ich irgendwie zurechtkomme. Und er hat Recht. Ich komme irgendwie zurecht.“

Kolja betrachtete Leons Einkäufe aus Luxemburg und Belgien, die seit einem halben Jahr kreuz und quer in der Wohnung herum standen. „Und das ist also eure gemeinsame Wohnung?“

„Du hast nicht das Recht, so penetrant hier herum zu schleichen“, sagte ich. Er stoppte, knurrte. „Es ist offensichtlich, dass du in Leons Leben nicht viel Platz hast.“

Ich saß wie gelähmt auf dem Fahrradpaket. „Du weißt gar nichts“, sagte ich.

Kolja ließ sich neben mir in die Hocke sinken. Er nahm meine Hand und küsste sie. „Entschuldige.“ Ich konnte mich nicht rühren. Auch in mir drinnen rührte sich nichts. „Ich weiß nicht, warum mich das alles so wütend macht“, sagte er. „Wahrscheinlich bist du mir nicht gleichgültig.“ Er sprach leise und zärtlich. Er senkte seinen Kopf vor mir. Er hielt mir seinen Kopf hin wie Katzen das tun, wenn sie gestreichelt werden möchten. „Du weißt es und deshalb hast du mich angerufen“, sagte er.  „Ja“, sagte ich. Ich strich ihm übers Haar. Es war eine gekünstelte Zärtlichkeit. Ich war nicht frei.

Es gibt in dieser Wohnung so gut wie keinen Ort, an dem Leon und ich uns nicht geliebt haben. Jeder Sessel, jeder Stuhl, jedes Gerät, jede Tür ist von ihm markiert. Kolja witterte das. Es nervte ihn.

„Lass uns gehen“, sagte ich.

Wohin?“

„Ins Museum?“, schlug ich vor.

Kolja begann wieder, auf und ab zu laufen. Vor dem Fenster blieb er stehen. „Ich möchte dir etwas zeigen, einen Ort. Jetzt. Du hast doch heute keinen Termin mehr?“

Ich hatte keinen Termin. Auf meinem Schreibtisch lag eine Hausarbeit, die ich Mitte nächster Woche abgeben musste.

Es war ein sonniger Tag. Es war der Februartag, an dem draußen das Licht wieder angeknipst wird. Als ich Leons Wohnung hinter Kolja und mir abschloss, war es zu spät. Vorher hätte ich mich mit meiner Hausarbeit raus reden können, mit dem Zeitdruck an der Uni. Ich hätte mich von Kolja verabschiedet und aufgeatmet und wäre da geblieben, wo ich war: In der Wohnung, in der meine Seele in den letzten Wochen eingestaubt war. Kolja nickte. Er wusste, welche Entscheidung ich gerade getroffen hatte. Meine Angst konnte er nicht nehmen. Wohin würde er mich bringen? Er nahm meine Hand. Seine Hände sind schmaler und weicher als Leons Hände. Mit Leon ist es nicht möglich, Hand in Hand zu gehen. Ich habe es schon einige Male versucht, aber er versteht nicht, dass dieses öffentliche Bekenntnis unmittelbarer und wahrhaftiger ist als ein Ehering. Er hat mich jedes Mal verlegen angeschaut und meine Hand bald wieder los gelassen. Er kann es nicht ertragen, dass jemand ihn festhält.

Wir liefen zur S-Bahn. Kolja hatte offenbar keine Angst, Hand in Hand mit mir durch die Straßen zu laufen, dabei hatte er Freunde in dem Viertel und wohnte selbst nicht weit. Am Ostkreuz stiegen wir um und fuhren weiter zum Bahnhof Lichtenberg.

„Wir nehmen den Zug? Nach Kostrzyn?“

Er nickte und lud mich zu einem Kaffee ein, weil wir noch Zeit hatten. „Du entführst mich hoffentlich nicht in euer Sommerhäuschen?“

„Psst.“ Er legte mir einen Finger auf die Lippen. Das ärgerte mich. Panik wehte mich an. Ich kämpfte gegen einen Fluchtimpuls. „Ich möchte euer Sommerhäuschen nicht sehen.“ Ich beruhigte mich damit, dass ich immer noch fliehen konnte, auch später, jederzeit. Ich war frei, zu tun und zu lassen was ich wollte.

„Keine Angst.“ Kolja streichelte meine Finger. „Ich bringe dich an einen neutralen Ort.“ Das klang, als sei ich ein Flüchtling und er mein Schlepper. Ein passendes Bild, denn ich war wieder einmal eine Migrantin des Herzens, eine Suchende und eine Getriebene…

„Ein neutraler Ort…das klingt schön“, sagte ich.

Im Zug saßen wir zwischen Polen und Deutschen, Menschen mit Büchern und Zeitungen und Einkaufstüten, Pendler und Händler. Es war eine friedliche, eine bürgerliche Atmosphäre. Oder lag das an der kleinen, sauberen Eisenbahn? Ich war oft mit Leon in diesem Zug in die Märkische Schweiz gefahren.

Ich stellte mir die Aufregung vor, die ich haben würde, wenn sich die Beziehung zwischen Kolja und mir weiter entwickeln und ich Leon verlassen müsste. Dann wäre ich die Geliebte eines Familienvaters. Später, nachdem man uns erwischt hätte, würde er immer sagen: Es war nur eine Affäre. Kolja saß mir gegenüber. Er lehnte sich zu mir und hielt meine Hände in seinen Händen und sah dem Fluss meiner Gedanken zu.

In Müncheberg stiegen wir aus. Ich kenne das Bahnhofsgelände auswendig, den Schienenstrang, der schnurgerade durch den knorrigen Sumpfwald in Richtung Osten führt. Im Winter war ich noch niemals hier gewesen. Ich kenne die Bäume nur mit ihrem dichten, hellgrünen Blattwerk, durch das immer ein Wind streicht. Ich kenne die Schienen und den Schotter heiß von der Sommersonne, auch noch am Abend, wenn wir, müde vom Schwimmen und der Sonne, in einer kleinen Familie von Ausflüglern auf den Zug nach Berlin warten. Unwillkürlich hatte ich Lust, Leon anzurufen und ihm zu erzählen, dass ich hier war.

Das kleine Holzhaus liegt abseits des Weges, mitten in den Wiesen. Bis zum See sind es noch einige hundert Meter. Der Garten hält noch Winterschlaf. Hinter der Terrasse waren die Plastikstühle unter einem Vordach übereinander gestellt und mit einer Plane verdeckt. Daneben waren Holzscheite aufgestapelt.

Kolja schloss die Tür auf. Wir standen in einem winzigen Flur, von dem aus man direkt in die Küche und in das Wohnzimmer schauen kann. Das Wohnzimmer ist gemütlich, ausgetreten, ausgelebt. An der einzigen, fensterlosen Wand ein mit Kissen und Decken dekoriertes Sofa unter einem überladenen Bücherbord, dünn gewordene und verblichene Kelim auf den Dielen, die großen Scheiben zum Garten und zur Terrasse, der Kamin – es war ein neutraler Ort, wie Kolja versprochen hatte. Es war jemandes Zuhause. Seit vielen Jahren.

„Gefällt es dir?“, fragte Kolja.

Meine Zustimmung kam wohlig wie ein Schnurren. Das erschreckte mich. Am meisten erschrecke ich wohl selber über meine Sinnlichkeit. Kolja erzählte, dass er in diesem Haus aufgewachsen sei, dass seine Mutter hier noch lebte, allein. Sein Vater sei vor einigen Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Jetzt sei seine Mutter für ein paar Tage verreist, bis zum Wochenende.

„Wir haben alles für uns allein“, sagte er. Er suchte etwas in der Küche. „Möchtest du Tee?“

„Ja, bitte.“

Kolja setzte einen altertümlichen Teekessel auf, dann lief er nach draußen. Er suchte nach Kohleanzündern für den Kamin. Ich schaute durch das Terrassenfenster auf die sanft gewölbten Wiesen und dachte an das Haus aus Pappe, in dem Leon aufgewachsen und das inzwischen platt gewalzt worden war. Auch das Haus aus Pappe habe mitten in einer Wiese gestanden, hatte Leon erzählt. Es war sehr still. Im Sommer muss es großartig sein. Der Teekessel begann zu pfeifen. In einer Schublade fand ich einige Beutel Earl Grey. Koljas Mutter schien keine Teeliebhaberin zu sein.

„Vielleicht sind sie auf der Toilette“, rief ich in den Garten.

„Hinter der Küche“, rief Kolja zurück.

Auf der Toilette lagen die Feueranzünder neben den Putzsachen aufgestapelt.

Ich präsentierte Kolja lässig ein Paket. „Du hast deine Mutter schon lange nicht mehr besucht, nicht?“

Er schnaufte. „Ich fahre mindestens einmal pro Woche hier raus“, sagte er. „Aber jemand anderes kauft ihr die Feueranzünder. Sie hat mehrere Gehilfen. Du musst wissen, dass sie eine Diva ist.“

Wir füllten den freien Raum vor dem Kamin mit den Decken und Kissen vom Sofa und tranken den Tee. Er schmeckte ein bisschen nach Stroh. Ich ließ ein Stück Zucker hinein fallen. „Sie würde dir gefallen“, sagte Kolja. „Möchtest du ein Foto sehen?“ Er lief zum Bücherbord.

In diesem Moment verschmolz ich mit dem Universum. Mit dem Universum verschmelzen heißt, sich gegen nichts mehr wehren zu müssen. Das letzte Mal habe ich das bei einem Spaziergang am Meer erlebt, in den Ferien. Und nun erlebte ich es hier. Es begann, als Kolja auf Strümpfen hinüber zum Bücherbord lief. Als ob alle Dinge im Raum, auch der Tee, der nach Stroh schmeckte, die Sonne auf der Terrasse, der Schmutz auf den Scheiben und das Feuer im Kamin eine Bestätigung meines Wesens bildeten: Da bist du ja. Du bist doch richtig.

Das Foto zeigte eine zirka siebzig Jahre alte Dame mit hohen Wangenknochen, wie Kolja sie hatte, einer feinen Nase und vollen Lippen. Sie saß auf dem Sofa unter den Büchern. Sie trug eine schlichte Bluse und darüber eine lange Kette. Das Haar hatte sie nach hinten gekämmt und hoch gesteckt.

„Sie ist schön“, sagte ich.

„Sag ich doch: Sie würde dir gefallen.“ Wir schauten beide hinaus. „Dieser Ort ist der schönste, den ich dir anbieten kann“, sagte Kolja.

Er küsste mit geschlossenen Augen, aber ich beobachtete ihn. Während wir unsere Sachen abstreiften und uns weiter küssten, seufzte er. Es war ein helles Geräusch, aber es neigte zu einem Stöhnen, in dem sich Lust und Erleichterung, Sehnsucht und Ankommen ausdrückten. Eine langsame, sinnliche Hingabe. Er ist viel leichter als Leon. Ich folgte dem Spiel, natürlich und unaufgeregt, wie die Landschaft draußen. Das war kein Fremdgehen. Es war die Folge meines Anrufes heute Morgen, die Folge von Koljas Auftritt in der Post und unserer Fahrt hierher, die Folge der Suche nach dem Feueranzünder, die Folge des schlecht gelagerten Tees. Es war wie eine Reihe von Spielsteinen, die nacheinander umgefallen waren. Klack! Klack! Klack!

Nichts an diesem Nachmittag war fremd.