Kathrins Notiz-Blog 25. Januar 11

© Illustration Liane Heinze

Gestern habe ich Kolja im Büro besucht. Er saß allein im Lichtkegel seiner Schreibtischlampe in dem dunklen, leeren Büro. Er sprang nicht wie sonst auf, um mir aus dem Parka zu helfen. Er sagte nichts. Es musste etwas geschehen sein. „Hier!“ Er schnippte mir über seinen Schreibtisch einen Brief entgegen. „Ist heute gekommen.“ Es war ein grauer Brief. Ich brauchte ihn nicht auseinanderzufalten. Ich wusste, es war die Absage an seine Idee.

Er hatte eine Wohnhaussiedlung für sozial schwache Familien vorgeschlagen. Die Familien sollten an der Gestaltung mitwirken. Sein Entwurf sah vor, dass sich die Größe der Räume verändern ließ. Außerdem konnten die Mieter je nach Lebensart entscheiden, ob ihre Badewanne im Schlafzimmer stehen sollte, oder in der Küche oder in einem klassischen Bad. Koljas Konzept hatte auch vorgesehen, dass ich die Bewohner bei der Inneneinrichtung beriet.

„Idioten!“, sagte er. „Statt zu sagen: Los, ihr Hartz-IVler, fangt an, kommt mal raus aus eurem Kasten, schiebt die Wände hin und her und denkt sie neu. Hey, spielt doch mal wieder! Das wird euer Leben ändern. Nein! – Wie sollen wir das verwaltungstechnisch eckig in unsere kleinen Karteikästen kriegen?“ ahmte Kolja die Meckerstimme einer Bürokratin nach.

Er stand endlich auf, mich zu umarmen. Dann schob er sich eine Zigarette zwischen die Zähne und zündete sie mit einer großen Geste an. Er hielt mir die Schachtel hin. Ich bediente mich. Ich hatte schon lange nicht mehr geraucht. Kolja hockte mit hängenden Schultern auf der Ecke seines Schreibtisches, seine Schiebermütze weit aus der Stirn geschoben. Sie hatte eine Druckstelle über dem rechten Ohr hinterlassen.

„Kolja?“

„Mm.“

„Es muss sich was ändern.“

„Revolution? Kommunismus?“ Er blickte auf, grinste, die Zigarette zwischen seinen geraden Zahnreihen. Er schloss die Lippen, um daran zu ziehen und blies den Rauch dann wieder durch die Zähne.

Ich kicherte. Es gab gar nichts zu Lachen. Das heißt, es gibt immer was zu Lachen, gerade, wenn etwas trauriges passiert. Etwas sehr trauriges. Lachen ist Abwehr und Einverständnis zugleich. Im Lachen liegt das Paradoxon unserer Existenz.

Kolja ließ sich rücklings auf den Schreibtisch fallen, so dass nur sein Gesicht im Lichtkegel lag. Er gab dem Lampenschirm einen Schubs. „Haben wir doch schon“, sagte er.

„Blöde, billige Wohnungen für alle.“

„Nicht für alle.“

„Gott sei Dank nicht für alle“, sagte Kolja.

„Wie wäre es mit unseren Wohnungen für alle?“ Ich ließ mich neben ihn sinken. Da lagen wir nun in unserem harten Doppelbett und hatten beide vorerst keinen Job. Kolja drehte sich zu mir, legte seine Hand auf meinen Bauch. Ich nahm einen langen, tiefen Zug.

„Du meinst, wir könnten im Kommunismus ein Geschäft machen?“

Ich musste wieder lachen. „Sag mal, was ist in dem Zeug drin?“ Ich richtete mich auf, schaute aus dem Fenster des Heizhauses durch die kahlen Bäume auf die Sechziger-Jahre-Fassaden gegenüber. Gott, was war diese Stadt im Januar hässlich!

„Kann man mit dir überhaupt kein ordentliches Weltverbesserer-Gespräch führen?“

„Doch“, flüsterte er. „Weiter so. Die Welt wird gerade immer besser.“ Er legte seine Hand auf meinen Rücken.

Ich ließ mich wieder neben ihn fallen. Sein Gesicht war ganz nah. Ich probierte, wie es sich anfühlt, seine Lippen zu küssen, danach, wie es sich anfühlt, wenn sein unrasiertes Gesicht über meine Wange streicht. Dann sprang ich auf. Genug. „Ich muss los.“

Kolja richtete sich langsam auf, als hätte ich ihn aus einem langen Schlaf gerissen. „Du bist doch eben erst gekommen.“

„Du solltest das Projekt auf keinen Fall aufgeben.“ Ich wickelte meinen Schal ungefähr zwanzig Mal um den Hals, damit ich es mir nicht anders überlegte und mich wieder auszog.

Er begleitete mich zur Tür. „Sie ist schwanger“, sagte er.

„Das ist wunderbar. Es ist großartig“, sagte ich. „Du wirst sehen.“

Er nickte.

„Du glaubst mir nicht.“

Er legte seine Hände um meine Taille und zog mich für einen Kuss an sich. Dann riss er die schwere Eisentür vor mir auf. Als ich auf die Straße trat und hungrig nach der kalten Luft schnappte, dachte ich, dass Kolja meine Taille so verstand wie den Griff einer Einkaufstüte, als etwas Funktionales.

ein unveröffentlichtes Interview über die DDR mit Alain Lance

Ich habe Alain Lance im Oktober 2009 getroffen, nachdem er in der französischen Buchhandlung Zadig sein neues Buch „Longtemps l’Allemagne“ vorgestellt hatte, in dem er über seine Begegnung und sein Verhältnis zu Deutschland spricht. Einen großen Teil dieses Buches nimmt Lance Studienzeit in Leipzig ein, die Zeit, als er Volker Braun traf, mit dem er seither eng befreundet ist. Lance übersetze Volker Braun ins Französische, später auch Christa Wolf und Ingo Schulze. In seinem Buch „Longtemps L’Allemagne“ sagt Lance, dass er in den sechziger Jahren die DDR als „sein Deutschland“ entdeckte.

Ich habe Alain Lance getroffen, um mit ihm über die DDR zu sprechen. Anschließend bot ich das Interview vielen Zeitungen an. Leider vergeblich. Ich wollte, dass junge Leute, die ihr Wissen über die DDR nur aus Filmen wie „Good by, Lenin“ und „Das Leben der anderen“ haben -wie ich sie in der Diskussion nach der Lesung in der Buchhandlung Zadig erlebt hatte- sich ein differenzierteres Bild der Geschichte machen können.

Alain Lance studierte Germanistik in Paris und Leipzig. Auf seinen ersten Lyrikband im Jahr 1970 „Les gens perdus deviennent fragiles“ folgten mehrere Veröffentlichungen. 1996 erhielt Lance den Tristan-Tzara-Preis und 2001 den Apollinaire-Preis.  Oft in Zusammenarbeit mit seiner Frau Renate Lance-Otterbein übersetzte und übersetzt er zahlreiche Werke von Volker Braun, Christa Wolf und Ingo Schulze. Von 1985 bis 1994 leitete er die französischen Kulturinstitute in Frankfurt/Main und Saarbrücken. Von 1995 bis 2004 war er Direktor des Maison des écrivains (Haus der Schriftsteller) in Paris.

2009 wurde Alain Lance 70 Jahre alt.

Monsieur Lance, in Ihrem Buch „Longtemps L’Allemagne“ erzählen Sie, dass Sie nach zwei Aufenthalten in der Bunderepublik als junger Mann im Winter 1962 die DDR als „Ihr Deutschland“ entdeckten. Warum die DDR?

Alain Lance: Sie müssen sehen, dass meine Generation geprägt war von der Revolte gegen den Algerienkrieg. Als ich in Leipzig ankam, sah ich algerische Studenten, die Stipendien hatten, um in der DDR zu studieren. Einer von ihnen ist bis heute ein sehr guter Freund von mir. Dann waren da auch afrikanische Studenten und ich fand es gut, dass die DDR diesen neuen unabhängigen Ländern half.

In Frankreich hatte ich während meines Studiums angefangen, Anna Seghers und andere Emigranten zu entdecken. Diese Leute, dachte ich, die aktiv gegen den Faschismus gekämpft haben, werden in diesem Teil Deutschlands geehrt. Und das Gastspiel des Berliner Ensembles in Paris 1960 mit „Arturo Ui“ war für mich ein starkes Erlebnis gewesen. Ich sah natürlich, dass in der DDR nicht alles gut war, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt war usw., aber die unschönen Dinge betrachtete ich sozusagen als Schönheitsfehler, die man eben zeitweilig hinnehmen muss. Wie ich in meinem kleinen Buch schreibe: Wenn man jung ist, und eine frische Politisierung hat, neigt man dazu, die Welt in schwarz und weiß zu teilen.

Im November 1962 gab es in der DDR noch Karten für Butter, Fleisch und Eier. Oder sie waren 1960 oder 1961 wieder eingeführt worden. Im Frühjahr 1963 wurden sie dann nicht mehr gebraucht. Ich fühlte mich in meiner Überzeugung bestätigt, dass es eine Auswirkung der Mauer sei, dass das ökonomische Ausbluten der DDR nun zu Ende wäre. Es folgte dann ja auch ein ökonomischer Aufschwung.

Es war ja zu dieser Zeit in Frankreich nicht einfach, links zu sein, oder?

Alain Lance: Jein. Im Juli 1962 wurde Algerien unabhängig, der Kolonialkrieg war endlich vorbei, de Gaulle war an der Macht, aber die kommunistische Partei bekam mehr als 20 Prozent der Stimmen, da konnte niemand so tun, als ob sie nicht existiert. Langsam entstand die linke Union. 1965 kandidierte Mitterrand allein, mit einem Minimalprogramm, das den Konsens sowohl der Kommunisten als auch der Sozialisten fand, die ja über viele Jahre verfeindete Brüder waren. Dieser Prozess führte dann zum gemeinsamen Regierungsprogramm der Linken 1972 und zur Wahl Mitterrands ein paar Jahre später.

Hatten Sie in den Sechzigerjahren gar keinen Kontakt zu den linken Autoren in der Bundesrepublik?

Alain Lance: Ich las Mitte der Sechzigerjahre „Billard um halb zehn“ von Böll und Gedichte von Enzensberger. Ich las damals auch die Zeitschrift KONKRET und mit großem Interesse die Chronik von Peter Rühmkorf, aber ich hatte keinen Kontakt zu Gegenwartsautoren, auch nicht zu DDR-Autoren. Das kam erst, als ich die Bekanntschaft mit Volker Braun machte. Wir sind übrigens im selben Jahr geboren. Ein paar Jahre später habe ich Christa Wolf kennengelernt, und später Autoren aus der Bundesrepublik, Günter Herburger und die Autoren um die Münchner Zeitschrift „Kürbiskern“, eine linke Monatszeitschrift. Martin Walser war in dieser Gruppe. Aber das war erst Anfang der Siebzigerjahre.

Wie war Ihre erste Begegnung mit Volker Braun?

Alain Lance: Sehr einfach und sehr freundlich. Das war im November 1964. Ich habe an seine Tür geklopft. „Ich heiße Alain Lance. Ich komme aus Paris. Ich würde gern ein paar Gedichte von Ihnen übersetzen.“ Er war überrascht, bat mich herein. Seine Frau und er luden mich spontan zum Essen ein, die Zeit war knapp, weil sie ein paar Stunden später einen Zug nehmen mussten. Das ist jetzt 45 Jahre her. Wir sind dann in Kontakt geblieben und enge Freunde geworden. 1971 kam er zum ersten Mal für einige Lesungen nach Paris. Sein zweisprachiger Lyrikband war ein Jahr zuvor erschienen. Auf Deutsch hieß er „Provokation für mich“. Der französische Titel lautete „Provokation für mich und andere“. Ich hatte die Einführung geschrieben. 1977 kam ein weiterer Gedichtband von ihm „Gegen die symmetrische Welt“ 1979 wurde sein Stück „Die Kipper“ übersetzt und in Frankreich aufgeführt.

…das Stück, das ursprünglich im Berliner Ensemble Mitte der Sechzigerjahre inszeniert werden sollte, aber erst 1972 in Leipzig aufgeführt werden durfte?

Alain Lance: Ja. Und einige Prosawerke von Volker Braun wurden dann von mir oder anderen Kollegen in Frankreich übersetzt: „Das ungezwungene Leben Kasts“ und „Unvollendete Geschichte“. 1988 erschien in Frankreich „Hinze-Kunze-Roman“, den meine Frau und ich gemeinsam übersetzt haben. Und der Pariser Kleinverlag L’Inventaire hat von 1998 bis 2008 vier Prosa-Bändchen veröffentlicht, u.a. „Bodenloser Satz“ und „Die vier Werkzeugmacher“. Für französischen Lyrikzeitschriften und Anthologien habe ich natürlich auch zahlreiche Gedichte von Volker Braun übersetzt.

Abgesehen davon, dass es Ihnen aus politischen Gründen gefiel, dass die Basis der DDR-Kultur von kommunistischen Remigranten gelegt worden war – brachte Ihre „Entdeckung“ der DDR auch neue Impulse für Ihre literarische Arbeit?

Alain Lance: Ich fand, dass in der DDR-Lyrik das literarische Erbe interessanter, dialektischer integriert wurde, bei Karl Mickel zum Beispiel, aber auch bei Volker Braun. Ich brauchte die Sicht von Leuten wie Volker Braun auf Hölderlin zum Beispiel, um einen anderen Blick auf Hölderlin zu bekommen, bei uns in Frankreich war die Rezeption von Hölderlin einseitig „pontifikal“, oder sogar ein bisschen fragwürdig mit Heidegger. Und gleichzeitig hatte ich Vorbehalte auf die Reduzierung der Kunst auf politische Agitation, wie es manchmal der Fall war bei westdeutschen linken Autoren. Das hatte auch mit dem Sektierertum der kleinen DKP zu tun, die waren katholischer als der Papst. Einige haben diese Vereinfachungen abgelehnt, Uwe Timm zum Beispiel.

Erinnern Sie sich an Gespräche mit Volker Braun über die Entwicklung der DDR?

Alain Lance: Natürlich. Durch ihn verstand ich, dass der real existierende Sozialismus nicht leicht zu leben war, dass es für die Leute in der DDR sehr schwierig oder gar nicht möglich war, Ausreisevisa zu bekommen usw. Der Einmarsch in Prag 1968 war für mich eine wichtige Zäsur.

Volker Braun war mit Rudolf Bahro befreundet. Einmal gab er mir ein Gedicht. Das hieß „Bruno“ wie Giordano Bruno, aber man konnte es auch „Bahro“ lesen. Es beginnt so: Schwieriger Umgang mit dem Abweichler, es hilft nicht, die Instrumente zu zeigen: Er hat sie beschrieben…

Volker Braun hat eine hohe Idee von der Literatur, er ist sehr anspruchsvoll, aber ohne die in der Zunft übliche Eitelkeit oder Egomanie. Wenn eines seiner Stücke nicht aufgeführt wurde oder das Erscheinen eines Buches immer und immer wieder hinaus gezögert wurde, war er nicht persönlich verletzt, sondern betrachtete das als dumme und unproduktive Haltung. Sein Schreiben war auch ein – oft provokativer – Beitrag zur Diskussion im Land. Einmal hatte er aber wirklich die Nase voll. Das war im Sommer 1984, sein neuer Lyrikband lag auf totem Gleis, der „Hinze-Kunze-Roman“, den er bereits 1981 geschrieben hatte, war immer noch nicht erschienen. Wir trafen uns in diesem Sommer in Budapest, wo er mit seiner Frau Urlaub machte. Ich war zur gleichen Zeit nach Ungarn eingeladen worden, weil ich einen ungarischen Autor übersetzen sollte, also nachdichten, nicht übersetzen. Ich spreche ja nicht Ungarisch.

Es war das einzige Mal, wo ich meinen Freund so erlebt habe. Er sagte: „Wenn ich nicht mehr gebraucht werde, wozu bleibe ich in diesem Land?“ Er hat selten oder nie mit dem Gedanken gespielt auszureisen. Es war das einzige Mal, dass ich seine Verzweiflung in diesem Maße spürte.

Es war eben die Entscheidung von Leuten wie Christoph Hein und Christa Wolf. Sie sind geblieben, weil ihre Familie, ihr Leben in der DDR war, aber sie wussten auch, dass sie eine wichtige Rolle spielten, dass sie gebraucht wurden. Ein Essaybändchen von Volker Braun wie „Es genügt nicht die einfache Wahrheit“, in einer hohen Auflage, war damals in ein paar Tagen vergriffen.

Wann sind Sie Christa Wolf zum ersten Mal begegnet?

Alain Lance: Das war im Sommer 1970. Damals wurde sie von anderen französischen Kollegen übersetzt. „Der geteilte Himmel“ erschien in Frankreich bereits 1964. Für das Erscheinen von „Christa T.“ im französischen Verlag Le Seuil kam sie in diesem Spätsommer mit ihrem Mann Gerhard nach Paris. Volker hatte ihr meine Adresse gegeben. Dann rief sie an und ich habe die beiden zu mir eingeladen. Ich hatte ein Abendessen mit Austern und anderen Meeresfrüchten vorbereitet. Das haben sie genossen! Volker Braun schrieb übrigens das Gedicht „Die Austern“, als ich ein paar Jahre später, in Berlin diesmal, einen Austernschmaus organisierte. Mit Wolfs bin ich also in Kontakt geblieben. Zu Silvester 72/73 waren meine Frau und ich bei Wolfs in Kleinmachnow eingeladen. Meine Frau Renate lernte die DDR über den Umweg nach Paris kennen. Es war das erste Mal, dass sie in die DDR fuhr. Viele Westdeutsche, auch fortschrittliche Leute, interessierten sich damals mehr für Frankreich und Italien. Insgesamt haben meine Frau und ich sieben Bücher von Christa Wolf übersetzt.

Ihre anfängliche Begeisterung für die Politik der DDR hatte sich zu dieser Zeit schon ziemlich abgekühlt. Und dann waren Sie unter denen, die gegen die Ausbürgerung Biermanns protestierten, wie Ihre Freunde Christa Wolf und Volker Braun.

Alain Lance: Das war eine seltsame Geschichte für mich. Im November 1976 war ich nach Karlsruhe gefahren, als Beobachter eines französischen Komitees gegen die Berufsverbote in der Bundesrepublik. Ein junger Lehrer wurde entlassen, weil er bei den Kommunalwahlen auf einer Liste der DKP kandidiert hatte. Er hat übrigens in zweiter Instanz gewonnen. Als ich am Abend in Freiburg (mit einer Schwarzwälder Kirschtorte für meine schwangere Frau) in den Zug stieg, um nach Paris zurückzufahren, sah ich eine Schlagzeile: Biermann ausgebürgert. Ich wusste, dass ich für eine gerechte Sache in Karlsruhe gewesen war. Gleichzeitig ahnte ich, dass die DKP diese Ausbürgerung rechtfertigen wird. Damals war ich im Vorstand des Französischen Schriftstellerverbandes. Das waren meist linke Leute. Vladimir Pozner, der alte große Lyriker Guillevic und ich verfassten einen Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung und sammelten rasch die Unterschriften von Dutzenden von Kollegen, darunter Aragon.

Von 1985 bis 1994 leiteten Sie französische Kulturinstitute in Frankfurt/Main und Saarbrücken. Wieso übernahmen Sie nicht die Leitung des französischen Kulturinstituts in Ostberlin in den Achtzigerjahren?

Alain Lance: Eigentlich sollte ich dieses Zentrum eröffnen und leiten. Ich kannte den Mann, der im französischen Außenministerium für die Kulturinstitute zuständig war. Eines Abends, beim Essen, fragte ich ihn nach dem neuen Kulturzentrum in Ostberlin. Ich hatte bereits davon gehört. Er sagte, es ginge vorwärts, aber die Verhandlungen seien schwierig, weil zeitgleich ein DDR-Kulturzentrum in Paris eröffnet werden sollte. Er bot mir sofort an, das neue Kulturzentrum in Ostberlin zu leiten. Das war eine ganz neue Perspektive für mich. Ich war mein Doppelleben gewöhnt. Ich war Deutschlehrer, ich tat meinen Job und wenn die Tür des Gymnasiums hinter mir zugefallen war, dichtete und übersetzte ich.

Schließlich erfuhr ich, dass der französische Botschafter in Ostberlin meiner Ernennung nicht zugestimmt hatte. Der Leiter eines Kulturinstituts wird in Paris ernannt, unter Vorbehalt der Zustimmung des Botschafters an Ort und Stelle. Indirekt war es wohl eine Abrechnung mit dem Mann, der mich ernannt hatte, der im Außenministerium auf dem Abwärtshang war. Meine politische Vergangenheit mag ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Ich hatte zu viele Beziehungen nach Ostdeutschland.

Aber zwei Jahre später bekam ich die Leitung des Kulturinstituts in Frankfurt/Main angeboten. Nach den sechs Jahren am Main bot man mir 1991 die Leitung der beiden Kulturinstitute in Ost – und Westberlin an. Aus zwei Gründen lehnte ich ab. Erstens hatte meine Frau, die in Paris arbeitete, die Nase voll von dem Hin und Her. Zweitens wusste ich, dass eine undankbare Aufgabe auf mich zukommen würde. Ich sollte die beiden Kulturzentren vereinigen. Also Mitarbeiter entlassen. Dieser Kelch ist an mir vorüber gegangen.

Haben Sie 1989 geglaubt, dass eine neue, demokratische DDR möglich ist?

Alain Lance: Ja, das habe ich kurz geglaubt, aber man sah relativ schnell, dass dieser demokratische Impuls in Bananen endet. Das war traurig, ja. (lacht)

Fehlt Ihnen die DDR?

Alain Lance: Nein. Würde ich so etwas behaupten, würde ich ein Missverständnis auslösen: Ach so, Sie wollen die Mauer und die Stasi zurück haben. Das geht nicht. Am Besten hat Volker Braun dieses widerspruchsvolle Gefühl über das Ende der DDR in seinem Gedicht „Das Eigentum“ ausgedrückt. Er schrieb das Gedicht im Sommer 1990. Es erschien fast gleichzeitig in der Zeit und im Neuen Deutschland. Das war die Zeit zwischen Währungsunion und Wiedervereinigung.

Alain Lance holt ein Buch aus dem Bücherschrank. Er liest das Gedicht.

Das Eigentum

Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.

KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN

Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.

Es wirft sich weg und seine magre Zierde.

Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.

Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.

Und unverständlich wird mein ganzer Text.

Was ich niemals besaß, wird mir entrissen.

Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.

Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.

Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.

Wann sag ich wieder mein und meine alle.

Ludwig Harig erzählte mir von einer literarischen Veranstaltung in Weimar, Anfang der Neunzigerjahre. Einige Autoren aus Ost und West haben da gelesen. Volker trug dieses Gedicht vor. Nach ein paar Sekunden, erzählte Harig, stieg aus dem Publikum ein Gemurmel, ein Summen. Dutzende Leute kannten das Gedicht auswendig und haben mitgesprochen.

Welche kritischen deutschen Autoren machen Ihnen heute Hoffnung?

Alain Lance: Daniela Dahn. Ingo Schulze.

Dann zeigt er auf den Gedichtband von Volker Braun, aus dem er soeben gelesen hat.

Alain Lance: Und Volker. Er ist heute als Direktor der Literatur-Sektion der Akademie der Künste so unbequem für die herrschende Ideologie der Finanz-Globalisierung wie er es damals gegenüber dem autoritären Staatssozialismus war.

Kathrins Notiz-Blog 1. Januar 2011

© Illustration Liane Heinze

Am ersten Tag des Jahres fühle ich mich wie auf einem Sprungbrett. Unter mir liegt das Jahr wie eine unbekannte Landschaft ausgebreitet. Das Feiern ist zu Ende. Ich wünsche mir eine Verlängerung des kuscheligen Weihnachtsgefühls, nur ein Stück Stollen noch und einen Glühwein, aber nein: Nach dem ersten Januar brennen die Kerzen am Weihnachtsbaum schneller runter als an den Feiertagen und die Gedanken formieren sich bereits für dieses unbekannte Land, das es ab Montag einzunehmen gilt. Wir müssen uns stellen. Springen. Zu der Ernüchterung passt es, dass die stille, glitzernde Schneedecke im Hof seit gestern schmilzt und mit dem Silvestermüll eine katergraue, dickflüssige Lache bildet.

In den vergangenen Wochen saß ich über dem Entwurf eines Fleischerladens, der zu einem Kieztheater umgestaltet werden soll. Ich habe oft eine Pause bei Leon eingelegt. Mit einem Glühwein, die Füße auf dem kleinen, elektrischen Heizkörper, saß ich in seiner Garage auf der Werkbank und schaute zu, wie er Fahrradteile wie kleine Kostbarkeiten aus den Paketen nahm und betrachtete, als hätte er sie nur bestellt, um sich an ihrem Anblick zu ergötzen. Ich beneide Leon darum, dass er so mühelos mit seiner Arbeit verschmilzt, dass Zeit und Kälte unbemerkt an ihm vorüber streichen. Der Ausdruck „alles im Fluss“ geht mir durch den Sinn. Ich hingegen hatte Angst vor meinem Entwurf. Sobald ich mich daran mache, gerate ich ins Schwitzen und entwickele aller zwei Stunden ein anderes Gelüst: Schokolade, Kaffee, Obst, einen Song von Abba, einen Song von Sting, ein bisschen Renaissance, dann wieder Barock. Unzufriedenheit wird mich quälen bis sich die Überzeugung einstellt, dass endlich alles stimmt. Doch ob und wann dieser Moment kommen wird, ist unvorhersehbar.

Die Weihnachtszeit bedeutet Leon nichts. Er mag es nicht, irgendeinen Tag mit Jahr mit Bedeutung zu füllen und mit Erwartung zu überfrachten. Das führt zu Enttäuschung, sagt er. Entweder du fühlst dich gerade gut mit deinem Leben oder nicht. Du kannst nicht sagen: Heute ist Weihnachten, da bin ich fröhlich.

Bei mir ist das anders. Ich freue mich schon auf Weihnachten, wenn im Spätsommer die ersten Paletten mit Spekulatius im Supermarkt auftauchen. Ich kann das nicht erklären. Es ist ein Naturgesetz. Wie die Bäume zu dieser Zeit aufhören, Chlorophyll zu produzieren, gewinnt eine feierliche Melancholie in meinen Gliedern die Oberhand. Spätestens im Oktober singe ich beim Duschen die ersten Weihnachtslieder. Schon vor dem ersten Advent kaufe ich einen Weihnachtsbaum.

Es ist der Baum, sagte ich, um Leon zu erklären, womit ich das schwindende Chlorophyll draußen in mir kompensiere. Er versteht etwas von Bäumen. Vielleicht ist das sogar einer der wenigen gemeinsamen Nenner unserer Seelen: Die Bäume.

Ich ehre die Bäume das ganze Jahr lang, sagte Leon.  Ich brauche kein Weihnachten dafür.

Der Baum und das Kind, sagte ich. Darum geht es. Deshalb auch die Geschenke. Weil die Bäume wachsen und Früchte geben.

Es fällt mir schwer, Leon nichts zu schenken, aber ich halte mich an die Abmachung. Es stört mich nicht, wenn er in der Heiligen Nacht gegen zehn mit ölverschmierten Fingern aus der Garage kommt. Ich habe schließlich auch immer zu tun. Nach den Feiertagen bringt er plötzlich kleine Pakete an. Und dann kann auch ich mich nicht mehr zurückhalten und hole das Parfüm hervor, das ich im Advent für ihn ausgewählt habe.

Grazy

Shirat Isaak kam nach Berlin, um den Weg ins Internationale Musikgeschäft zu finden


© Foto Stephan Pramme

Shirat Isaak läuft den Kurfürstendamm hinauf. Sie ist auf dem Weg nach Hause. Ihr Gang wirkt trotz des sperrigen Gitarrenkoffers leicht. Der kühle Wind bläst das Haar aus ihrem Gesicht, so dass es noch schmaler wirkt. Es ist ein Gesicht, das die Blicke auf sich zieht, obwohl die junge Israelin eine zurückhaltende Erscheinung ist, ungeschminkt und so einfach wie die Musik, die sie schreibt: eingängige Songs zwischen Folk und Rock. Aber ihre unbedingte Natürlichkeit fällt auf, weil sie so verletzlich scheint.

Als die dreißigjährige Künstlerin von ihren Plänen spricht, wird klar, dass diese Natürlichkeit nichts ist, was ihr durch ein behütetes Leben bis heute erhalten blieb, sondern ein Charakterzug, den sie zu schützen und zu verteidigen weiß.

Vor vier Monaten ist sie von Tel Aviv nach Berlin gezogen. Sie hatte gehört, dass Berlin die europäische Stadt ist, die jungen Künstlern auf dem Sprung in eine internationale Karriere die besten Bedingungen bietet: noch offene Strukturen, bezahlbare Lebens – und Arbeitsräume und die Präsenz großer und kleiner Musikunternehmen, die sich in den letzten zehn Jahren in der Stadt an der Spree ansiedelten. Nach einer Testphase von zwei Monaten steht für die Künstlerin fest, dass sie bleiben wird. „Ich habe in dieser kurzen Zeit viel mehr Leute getroffen, die sich für das, was ich mache, interessieren, als in Israel in mehreren Jahren.“ Ihre Auftritte im Café Bialik in Tel Aviv waren beliebt, aber sie genügten ihr nicht mehr. Die abgestoßenen Ecken des schwarzen Gitarrenkoffers erzählen von Auftritten an wechselnden Orten, von engen Clubs mit rauen Fußböden, voll gepackten Kofferräumen, vom Hin und Her des Künstlerlebens, von lange geprobten und spontanen Konzerten.

Das Mädchen aus der kleinen Siedlung Karnei Shomron im Westjordanland, Tochter orthodoxer Juden, brachte sich das Gitarrespielen selbst bei, brach ihr Architekturstudium mit 22 Jahren ab und finanzierte ihr Leben als Musikerin fortan mit Jobs in Musikgeschäften und – Verlagen, Agenturen und Radiostationen. Sie traf dabei auf erfahrene Kollegen, die ihr rieten, nicht aufzugeben. Der Umzug nach Berlin ist der vorläufige Höhepunkte dieses Weges. Ihre Eltern unterstützen die Entscheidung.

Ein Freund hat ihr die kleine Neubauwohnung am oberen Ende des Kurfürstendamms für den Beginn des Berlin-Experiments zur Verfügung gestellt. Der Raum ist wie ein Hotelzimmer mit dem nötigsten ausgestattet. Die Gitarre bekommt einen Platz neben dem Bett. Shirat Isaak klappt den Laptop auf. In Berlin ist sie zunächst eine von vielen jungen Künstlern, die auffallen möchten. Sie hat ein ganzes Debütalbum im Gepäck, das sie endlich produzieren will. Sie schaut sich nach neuen Musikern um, mit denen sie in Zukunft zusammen arbeiten kann. In Tel Aviv hatte sie eine sechsköpfige Band. „In Israel ist der Markt sehr klein. Du musst schon ein Star sein, bevor sich ein Label überhaupt für dich interessiert. Du musst ein großer Schauspieler sein, eine große Sängerin und ein Model obendrein. Aber ich will mich auf meine Musik konzentrieren.“ Ihre musikalischen Vorbilder sind John Frusciante, Bernard Butler und Amy McDonald.

Den Eindruck von Introvertiertheit bestätigt das Video zu dem Song „Grazy“, das auf Youtube zu sehen ist. Er stammt aus der Feder ihres Freundes David Swirsky. Das Lied scheint wie für sie gemacht. Begleitet von einem satten Gitarrensound singt Shirat Isaak mit warmer, voller Stimme von Trennung und der „Verrücktheit“, aus dem gewohnten Leben auszubrechen und einen neuen Weg zu finden. „Evrything looks different from the other side“, heißt es darin. Wie hat der Sprung nach Berlin ihren Blick verändert? Sie sei mit der europäischen Kultur durch ihr Elternhaus sehr verbunden, sagt Shirat Isaak. Als Kind habe sie sogar einige Jahre in Schweden gelebt. Ihr Vater hatte eine Zeitlang dort gearbeitet. Er vermittelt Gastspiele israelischer Künstler in jüdische Gemeinden in Europa und bringt europäische Künstler nach Israel. Shirat Isaak war zehn Jahre alt, als die Familie nach Skandinavien ging, zugleich die Heimat ihres Vaters. Er ist Anfang der Fünfzigerjahre in Dänemark geboren worden, wohin seine Eltern vor den Nazis in Deutschland geflüchtet waren. „In Israel haben mich viele gefragt: ‚Wie kannst du nach Deutschland gehen? Hast du vergessen, was geschehen ist?’ Auch meine Eltern. Auch sie sind vom Holocaust betroffen. Ich habe die Geschichte nicht vergessen, aber ich weiß, dass Deutschland sich verändert hat. Es gibt andere Dinge, die mich interessieren, zum Beispiel, dass Berlin eine wichtige Stadt für Musiker aus aller Welt geworden ist.“

Viele Leute erzählen Shirat Isaak, dass sie Bescheid wissen, dass sie in der Schule alles über den Holocaust gelernt haben. „Ich habe das Gefühl, sie warten darauf, zu hören, dass ich ihnen verzeihe“, sagt sie. „Aber ich bin nicht deswegen nach Berlin gekommen. Wenn ich erzähle, dass ich Musik mache, dann kommen wir ganz schnell zurück in die Gegenwart und zu anderen Themen.“ Nach der zweimonatigen Berliner Probezeit ist sie noch einmal nach Hause, nach Israel gereist. Sie kam als Gast, als jemand, der seine Heimat bereits von der anderen Seite aus betrachtet. „Es hat mir sogar Spaß gemacht, über das Wetter zu reden. Ich sagte: Bei uns in Berlin ist es viel angenehmer als hier, nicht so heiß.“

Shirat Isaak sucht jetzt Arbeit, was nicht einfach ist, da sie noch kein Deutsch spricht. Die Arbeitssuche beansprucht einen großen Teil ihrer Zeit. Sie sucht im Internet und auf ihren Stadtspaziergängen. Warten und Schauen, so könnte man ihre jetzige Beschäftigung beschreiben. Ihr Debütalbum hat sie verschiedenen Labels vorgestellt. Einige signalisierten Interesse, aber noch ist nichts geschehen. Die kurze Zeit in Berlin wirkt sich aber schon belangvoll auf ihre Arbeit aus. Sie hat neue Songs geschrieben und an ihrem Stil gearbeitet. „Ich möchte das Folk-Element stärker betonen und insgesamt nachdenklicher und zurückhaltender im Ausdruck werden.“ Klingt, als hätte sie ein Stück mehr zu sich selbst gefunden.

Ich lebe auf einer Insel

Der Schriftsteller Artur Becker, geboren in Polen, lebt seit 25 Jahren in Deutschland, ist immer noch hin – und hergerissen und hat den Plural für Zuhause erfunden: Zuhäuser

Es ist ein Montagmorgen. Der Schriftsteller Artur Becker steht in seiner Küche vor der Espresso-Maschine und schaut zu, wie der Kaffee in die Tasse tröpfelt. Seine Frau ist zur Arbeit gegangen. Der sechzehnjährige Sohn hat sich auf sein Zimmer zurückgezogen. »Sieht nicht so aus, als würde ›Der Lippenstift‹ ein Bestseller werden«, sagt Becker. »Der Lippenstift meiner Mutter«, sein neuester Roman, ist in diesem Herbst erschienen. Artur Becker erzählt darin von seiner Kindheit in dem ostpolnischen Städtchen Bartoszyce, das im Buch den Namen Dolina Roz trägt.

Vorhin hat er im Internet einen schmalen Verriss seines Romans in einer großen Tageszeitung gelesen. Der Kritiker schreibt, Beckers Romane seien Kitsch. »Wissen Sie, ich habe seit Jahren das Gefühl, ich lebe auf einer Insel«, sagt er. Der Schriftsteller Artur Becker wurde 1968 in Polen geboren. Seit fünfundzwanzig Jahren lebt er in Deutschland, in Verden an der Aller, einer kleinen Stadt in der Nähe von Bremen.

»Der Eskapismus«, sagt er. »Es ist richtig. Ich fliehe in meinen Büchern vor der Wirklichkeit. Das hat mit dem Verlust der sogenannten Heimat, der Kindheit und Jugend zu tun. So kommen meine Bücher zustande, und doch glaube ich wie Isaac B. Singer, Welten retten zu müssen, die es nicht mehr gibt.«

Im letzten Jahr erhielt Becker den Adelbert-von-Chamisso-Preis, mit dem Autoren geehrt werden, die auf Deutsch schreiben, obwohl das nicht ihre Muttersprache ist. Deutsch zu schreiben war eine schwierige, eine existentielle Entscheidung für Artur Becker. Er traf sie nur vier Jahre nach seiner Einreise. Er hatte bereits in Polen Gedichte und Essays veröffentlicht. Aber als er 1985 sechzehnjährig nach Deutschland ging, war er noch zu jung und unbekannt, um daran anknüpfen zu können.

Erzählen musste er. So blieb ihm nur, sich in der deutschen Literaturszene zu etablieren. »Ich wollte ein polnischer Dichter werden«, sagt er. »Ich wollte nicht nach Deutschland. Ich habe mich dagegen gewehrt. Ich war wütend auf die Verhältnisse in Bartoszyce, auf den hässlichen Sowjetismus und den  primitiven Katholizismus in der Provinz. Ich fühlte mich als Rebell, als Rockstar und war gleichzeitig sehr glücklich. Mein Mädchen lebte in Poznan.« Das Mädchen aus Poznan, Magdalena, folgte Becker einige Jahre später nach Verden an der Aller und ist heute seine Frau. Sie arbeitet als Pädagogin für behinderte Kinder. Immer wieder wird Becker gefragt, warum er nicht in ein literarisches Zentrum Deutschlands geht, nach Berlin oder nach Frankfurt. Doch er will hier nicht weg. »Ich bin so viel unterwegs«, sagt er. Da ist es praktisch, dass er in Verden gleich am Bahnhof wohnt. Seine Eltern leben auch hier. Seine Mutter gab an der Volkshochschule Polnischunterricht. Sein Vater arbeitete in der Firma seiner deutschen Verwandten. Hier und im nahen Bremen, wo Becker Slawistik und Germanistik studierte, wuchs er in die literarische Szene, hielt er seine ersten Lesungen. Der Bremer STINT-Verlag gab Gedichtbände und seinen ersten Roman »Dadajsee« heraus, der prompt den Preis des Deutschen Schriftstellerverbandes gewann. Mit seinem ersten Lektor Bernd Gosau aus dem STINT-Verlag verbindet ihn bis heute eine enge Freundschaft. Die Band »Les Rabiates« hat seine Lyrik vertont.

Becker spricht längst nicht mehr über den Schmerz, den ihm die deutsche Sprache anfangs bereitet hat. 1998 schrieb er im Gedicht »Jesus und Marx von der ESSO-Tankstelle«: »Weil ich in dieser gottverfluchten Sprache schreiben muß / In dieser scheiß Sprache gottverdammten Sprache … In dieser Frikadellen Pommes Bratwurstbudensprache / In dieser Wörter Wörterbuchsprache / Dich ich so hasse hasse hasse …«

Artur Becker ist inzwischen angekommen im Literaturbetrieb der Deutschen und kann als »Pole vom Dienst« über Nacht Essays liefern. Wenn der seltene Fall eintritt, dass die Tagesschau über das Nachbarland Polen berichtet, sind die Kommentare von Artur Becker in den Medien gefragt. Er äußert sich zu Polen und Erika Steinbach, zu Polen und der deutschen Regierung, zu Polen vor den Wahlen und zum Flugzeugabsturz von Smolensk. Kürzlich diskutierte er im ZDF-Nachtstudio mit anderen Gästen über die kulturelle Entwicklung Osteuropas.

»Es ist bestimmt so, dass ich eine Rolle angenommen habe und spiele«, sagt er heute. »Manchmal ist es, als ob ich ein T-Shirt mit dem polnischen Adler trage und damit durch die Gegend laufe, ein anderes Mal halte ich mich für einen guten Repräsentanten der Bundesrepublik, der für diese moderne, kunterbunte Gesellschaft steht.«  Mit Handkuss und Anreden wie »Verehrteste« spielt er den großbürgerlich-liberalen Polen. Von wegen T-Shirt: Becker ist einer der letzten Intellektuellen, der in der deutschen Öffentlichkeit mit Krawatte zu besichtigen ist. An der rechten Hand trägt er einen silbernen Siegelring mit dem polnischen Adler. Seine Frau hat ihn als kleinen Provinzler beschimpft deswegen, der sich mit diesem Kitsch groß tun müsse. »In der Ukraine kam ein junger Mann nach einer Lesung und warnte mich, ich könne auf dem Heimweg verprügelt werden. Und einmal hat mich eine Frau in einem Café gefragt, ob ich adliger Abstammung bin.« Er streckt seine Hand aus, blickt auf den Ring. »Übrigens würde ich Ihnen empfehlen, Silber immer in Polen zu kaufen. Es ist dort billiger als in Deutschland und, wie ich finde, besser verarbeitet.«

Der deutsche Dichter mit dem polnischen Adler auf der Hand – wo ist er zu Hause? Was ist seine Identität? Er fühle sich ganz klar als Pole, sagt er. Durch und durch. Mit seiner Frau und Sohn Philip spricht Becker polnisch. Deutsch, findet er, taugt weder für das Schlafzimmer noch für die Küche. Es ist seine Dienstsprache. Von seinem Schreibtisch in der Diaspora aus treibt Becker Wurzeln in die polnische Literaturgeschichte, zu Czeslaw Milosz, Bruno Schulz und Isaac B. Singer. Dort, in der Landschaft der Masuren und in den Armen von Magdalena ist er zu Hause. Der Schreibtisch steht nach wie vor im Exil. Becker besteht auf dem Wort Exil, da es die politischen Verhältnisse gewesen seien, die seinen Eltern das Leben in Polen unerträglich machten. Nach jeder Deutschlandreise sei der Vater vom Geheimdienst verhört worden. Auch die Mutter, die in Danzig studierte und Freunde unter den polnischen Dissidenten gehabt habe, hätte mehr und mehr unter Druck gestanden, so dass der Weg nach Deutschland, wo der Vater Verwandte hatte, schließlich unausweichlich geblieben sei.

Wie geht das: polnisch fühlen und deutsch schreiben? »Das geht eigentlich nicht«, sagt Becker, als würde es ihm heute Morgen in der Küche zum ersten Mal klar. »Das geht überhaupt nicht. Aber so ist unsere Zeit. Unsere Zuhäuser …« Er blickt kurz fragend auf. »Sagt man so?« Ist es im 10. Jahr des 21. Jahrhunderts nicht an der Zeit, dass ein Exilant den Plural des Wortes »Zuhause« erfindet? »Unsere Zuhäuser sind so fragil geworden. Selbst wenn jemand nach 1989 in Plauen geblieben ist oder in Cottbus, ist er mit einer neuen Identität und Wirklichkeit konfrontiert. Er hat eine doppelte Staatsbürgerschaft. Natürlich ist mein Zuhause in Deutschland. Aber ich habe auch ein Zuhause in Masuren.« Immer wieder taucht in Beckers Romanen der Pole aus Masuren auf, der nach Deutschland ging, nach Bremen.

Der Erzähler Artur Becker lässt die Gesellschaft an seiner Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und Identitätssuche teilhaben. Er bedient sich fiktiver Figuren, um seine existentiellen Fragen zu behandeln. Immer wieder stellt er die Frage: Was ist ein Pole? Was ist ein Pole heute in Deutschland, in Europa? Wer bin ich? Seinen letzten Studienaufenthalt in Venedig nutzte er, um zu lesen, was berühmte Italiener über die Polen gesagt haben und zitiert jetzt gern Casanova. »Er hat sehr richtig festgestellt, dass die Polen talentierte, gebildete Menschen sind, aber Schwierigkeiten haben, eine gemeinsame Linie zu finden, wenn es um wichtige Dinge geht.«

In seinem siebten Roman nun also, »Der Lippenstift meiner Mutter«, zeigt Becker die sonderbaren Bewohner des Städtchens Dolina Róż aus der Sicht des fünfzehnjährigen Bartek, der dort aufwächst. Damit nicht wieder alle wie bei den vorangegangenen Romanen fragen, wie autobiografisch das Ganze nun sei, erklärt Becker gleich zu Beginn des Buches, dass dies kein autobiografischer Roman sei, obwohl man lebende und verstorbene Personen aus der Umgebung des Dichters wiedererkennen mag. Trotzdem haben wieder alle gefragt. Denn Becker verheimlicht nicht, dass ihm seine Heimat, das ostpolnische Städtchen Bartoszyce, als literarische Vorlage diente.

Vor seiner Lesung im Deutschen Theater in Berlin sagt Becker: »Als ich anfing, über Masuren zu schreiben, entdeckte ich immer mehr, von Haus zu Haus, von Familie zu Familie, immer neue Geschichten und dachte: Das alles muss noch erzählt werden. Wer erzählt es sonst?« Die Handlung des Romans bleibt jedoch  auf den unspektakulären Provinzalltag beschränkt. Obwohl die Geschichte Polens in Dolina Róż immer präsent ist, bleiben die aufregenden Entwicklungen der Achtzigerjahre, in denen »Der Lippenstift meiner Mutter« spielt, leider bedeutungslos, selbst für die Jugendlichen.

»Sicher ist meine Sprache ganz anders als die von zeitgenössischen Muttersprachlern.« Becker hält inne. Angesichts seiner Literatur ist nicht ganz klar, in welche Richtung dieser Satz zielt. »Wobei immer wieder gesagt wird, was für ein geschliffenes Deutsch ich spreche …«Selbst nach dem Chamisso-Preis bleibt eine Spur Verunsicherung. „Sie meinen: Sehr eigensinnig, das Ganze. Absurd vielleicht im Sinne der polnischen Erzähltradition von Mickiewicz, Gombrowicz und so weiter?“

Kein geschliffenes Deutsch ist es, dass Becker spricht. Er redet schnell und gewandt, mit einem polnischen Akzent, der nach Genuss und Spiel klingt. Er liest mit rundem Rücken und rundem Bauch, die welligen Haare aus dem runden Gesicht gestrichen. Nur seine starken Brauen sind nicht rund. Sie zucken wie spitze Zirkumflexe in die Stirn, wenn er über sein Lieblingsthema, die polnische Geschichte, referiert. Es ist Deutsch in Öl.

»Ich bin auf jeden Fall mustergültig integriert.« Er sagt das ganz im Ernst, obwohl man es für Zynismus halten könnte, wenn ein Intellektueller, der täglich die deutsche und polnische Presse liest, ein Slawist und Deutschland-Kenner, ein Germanist und Polen-Kenner, also ein Glücksfall für dieses Land, eine Phrase auf sich bezieht, mit der andere sich anmaßen, Gemüsehändler und Taxifahrer zu bewerten.