Kathrins Notiz-Blog 12. Oktober 10

© Illustration Liane Heinze

„Ich mache mir Sorgen um dich“, sagte Jolanda. „Du klingst wie die meisten Frauen in deinem Alter. Du musst mal raus.“

Ich versuchte, das Telefon so zu halten, dass ich es nicht berührte. Meine Hände waren schmierig. Ich blickte an meinen bekleckerten Arbeitshosen hinab zu den rot-weißen Sneakers, die ich nur noch zum Renovieren trug. Es war die erste Kette, die ich aufzog. Leon war wieder einmal nicht da. Ich vertrat ihn in der Garage. Nur zwei Tage, kein Problem also. Ich hatte gerade nicht viel für die Uni zu tun, nicht soviel, dass ich nicht von Zeit zu Zeit in der Garage aushelfen konnte.

Als Jolanda aufgelegt hatte, versetzte ich dem Fahrrad einen Tritt.

An diesem Abend ging ich mit ihr, Jakob und Jakobs allein lebenden Vater in die Sophiensäle. Das Stück hieß „Barnes-Dance“ nach dem amerikanischen Verkehrsingenieur, der die Kreuzung erfunden hatte, bei der alle Fußgänger gleichzeitig über die Kreuzung laufen. Wie an der Kreuzung hinter dem Checkpoint Charlie. Auf dieser Kreuzung spielten sich immer wieder die gleichen Szenen ab. Zwei Frauen sprachen ständig dieselben Sätze, ein Schwarzer wurde angerempelt und ein Türke verlor eine Familienpackung Orangen. Einmal half ihm eine japanische Touristin, die Orangen wieder aufzusammeln. Das war eigentlich die schönste Szene des Stücks. Sörens Vater fand „Barnes-Dance“ poetisch. Ich fragte mich, was poetisch daran ist, angerempelt zu werden, Obst zu verlieren und immer das gleiche zu reden. An der Bar im Foyer betrachtete ich meine Hände. In den Rillen hockte noch immer der Schmutz von der Kette. Meine Fingernägel hatte ich auch nicht richtig sauber gekriegt. Nichts war poetisch.

In der Nacht rief Leon an und fragte, ob in der Garage alles in Ordnung sei. „Übrigens geht es mir gut“, sagte ich. „Danke der Nachfrage.“

Wenige Tage später gingen Bertram und ich ins Radialsystem, zum Musikfestival „Nordlichter“, das die ganze Nacht dauerte. Es störte mich, dass in den Konzertsälen Bier getrunken und Gulasch gegessen wurde. Bertram fand das gut. Er fand, es sei ein Fortschritt gegenüber der steifen, bürgerlichen Konzertatmosphäre. Wir stritten über die Heiligkeit der Kunst. „Wieso nimmst du das so schwer? Was ist mit dir los?“, fragte Bertram.

„Beim Sex isst man auch keinen Gulasch“, sagte ich.

„So unkreativ kenne ich dich gar nicht“, sagte Bertram. Er lachte mich aus.

Hatte es etwas mit dem Alter zu tun, dass mich Gulasch-Geruch während eines Konzerts wütend machte? War ich etwa verbittert? Wieso nervten mich die Leute auf der Barnes-Kreuzung, die doch nur taten, was alle in dieser Stadt tun?

Gegen Morgen verließ ich das Festival. Ich rief Jolanda an. „Kann ich zu dir kommen? Wir könnten zusammen frühstücken. Ich bringe Croissants mit.“

„Komm vorbei“, sagte Jolanda.

Wir hatten beide die ganze Nacht nicht geschlafen. Jolanda war mit Jakob in einem Club gewesen. Wir saßen zu zweit in der Küche und tranken Kaffee und freuten uns, mit verschmierter Schminke in die Morgensonne zu blinzeln.

Kathrins Notiz-Blog 23. September 10

© Illustration Liane Heinze

Leon hat mir den Rücken zugewandt. Es ist das erste Mal, dass er sich nachts von mir abwendet, statt wie gewohnt meinen Po an seinen Bauch zu ziehen und dann alle freien Stellen zwischen unseren Körpern luftdicht abzuschließen.

Ich bin aufgestanden, aber er ist davon nicht erwacht. Sonst spürte er sogar im Tiefschlaf, wenn ich versuchte, mich aus seiner Umarmung zu lösen. Er wurde unruhig, umklammerte mich, hielt sich an mir fest.

Es ist eine mondlose Nacht. Ich taste mich in die Küche, zum Fenster, schiebe mich auf dem Fensterbrett in den Rahmen, die nackten Sohlen gegen die Wand gepresst. Ich weine nicht. Ich war darauf gefasst. Aus unserer Beziehung ist endgültig die Luft raus. Leon hat mich vergessen. Er vergisst mich schon lange, beim Einkaufen. Er vergisst, mit mir zu kochen und wenn ich es allein tue, weil mein Magen weh tut und ich nicht länger warten kann, lässt er das Essen kalt werden. Er vergisst, dass ich studiere, Hausaufgaben habe, Pläne für meine Selbständigkeit mache. Er vergisst meinen Vorschlag, mal wieder in die Sauna zu gehen, jetzt, da der Sommer vorbei ist und es draußen kühler wird. Und nun hat er sogar meinen Po vergessen. Dieses Verschmelzen unserer Körper in der Dunkelheit war es, das mich bis jetzt gehalten hat. Ich will schon lange gehen, weil ich mich vergessen und verloren fühle, aber wenn ich nachts in seinen Armen daran denke, ist es, als ob mir jemand bei lebendigem Leib das Herz heraus reißt.

Ich taste mich zurück, lege mich wieder neben Leon, aber meine Gedanken werden nicht ruhig, sie wandern durch die Jahre mit ihm, suchen den Tag, an dem das Vergessen begann. Wieder stehe ich auf, schleiche zum Küchenfenster, blicke hinaus in den dunklen Garten.

Ich könnte morgen nach Jerichow fahren. Das ist schon lange mein Wunsch. Das hängt mit meinen Großeltern zusammen. Sie hießen wie die kleine Stadt in der Altmark: Jerichow. Opa und Oma Jerichow haben sich geliebt, ein ganzes Leben lang. Als ich klein war, lebten wir in einem Haus. Ruhige Tage, in denen mein Großvater pfeifend in Keller und Garten unterwegs war und die kleinen, harten Schritte meiner Großmutter, treppauf, treppab, den Rhythmus des Alltags bestimmten. Sie haben einander nie vergessen. Eines Nachts, viele Jahre nach dem Tod meines Großvaters, ich war inzwischen erwachsen, bin ich aus einem Club nach Hause gekommen und im Zimmer meiner Großmutter brannte noch Licht. Die Tür stand halb offen. Sie saß im warmen Licht der Schreibtischlampe an ihrem Sekretär und schrieb in ein kleines Buch. Von Zeit zu Zeit blickte sie auf und sprach mit jemandem. Es musste mein Großvater sein. Ich sah es an ihrem gelösten, mädchenhaften Ausdruck. Wahrscheinlich saß er auf dem Klavierhocker an seinem Flügel. Ich konnte ihn nicht sehen, weil die Tür nur halb geöffnet war. Vor zwei Jahren ist auch Großmutter ihm an den unbekannten Ort gefolgt. In ihrem Sekretär fand ich einen ganzen Stapel der kleinen Liebeschroniken aus jenen Nächten. Ich bewahre sie in meinem Kleiderschrank auf.

Meine Großeltern waren nie in Jerichow. Der Ort hat sie nicht interessiert. Aber ich denke an sie, wenn ich diesen Namen höre. Er hat einen warmen Klang und eine satte, erdige Farbe. Namen verbinden. Sie hinterlassen Spuren und wecken Erinnerungen. Ich sehne mich nach etwas Vertrautem, einem Trost.

In der Morgendämmerung hole ich den karierten Wanderrucksack aus der Abstellkammer. Bald darauf erscheint Leon mit kleinen Augen. Er zerrt das T-Shirt über seinen Penis. Als hätte er vergessen, dass ich die Frau bin, die jede Nacht neben ihm liegt.

„Was ist denn los?“ fragt er.

„Ich fahre nach Jerichow“, sage ich.

„Ich komme mit“, sagt Leon. Zuerst will ich protestieren. Ich halte ihn für unwürdig, diesen Ort zu betreten. Er hat kein Recht auf Jerichow. Der Name gehört mir, meinen Großeltern, die einander nie vergessen haben. Aber dann denke ich, dass es doch schön wäre, noch eine gemeinsame Abschiedstour zu unternehmen.

Das Besondere an der Altmark ist der Horizont, eine leuchtende Linie, die über dem Land zu schweben scheint. Die Wolken hängen tief über den endlosen Wiesen. Die Elbe fließt träge und schwer in ihrem Bett. Schrebergärten, Kuhherden und Menschen schrumpfen in den Wiesen, aber alles, was sich über diesen Horizont erhebt, wirkt stark: Die Windräder und Greifvögel, eine Brücke und die Türme des still gelegten Kraftwerks. Wir wedeln auf unseren Rädern dicht hintereinander, bleiben manchmal stehen, um zu schauen und sprechen kaum. Wenn Leon mich vergisst, schreie ich gegen den starken Wind, aber kurz vor Tangermünde reicht meine Kraft zum Rufen nicht mehr aus. Die Entfernung zwischen uns wächst. Wir verlieren uns.

Ich fahre allein durch die kleinen Straßen von Tangermünde, halte Ausschau nach Leon, aber er ist nicht da. Am Marktplatz kaufe ich ein Caramel-Eis und radele weiter, bis sich vor mir wieder der Horizont ausbreitet. Die zwei spitzen Türme der romanischen Kirche von Jerichow ragen im Dunst darüber hinaus. Ich lehne mein Fahrrad an einen Feldstein und lasse mich daneben ins Gras sinken. Kurze Zeit darauf bremst Leon neben mir. Sein Gesicht ist schmutzig, als hätte er sich in Staub und Sand gewälzt. „Wo warst du?“ fragt er.

„Du warst plötzlich weg, hast mich nicht mehr gehört, dich nicht mehr nach mir umgesehen, mich einfach vergessen.“

„Quatsch! Ich habe dich überall gesucht.“ Er nimmt den Helm ab und wischt sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. „Ich bin die halbe Strecke zurückgefahren“, sagt er.

„Dann müssen wir dicht aneinander vorbei gefahren sein“, sage ich und denke, dass das typisch ist für Paare, die aneinander vorbei leben.

Leon packt das Picknick aus seinem Rucksack. Er wirft mir die kleinen Schachteln vor die Füße. Ich habe sie heute Morgen mit Sandwiches, Karotten und Gurken gefüllt. Natürlich habe ich auch kleine Süßigkeiten eingepackt, wie immer, auch Servietten und eine Thermoskanne mit starkem Kaffee. Wir hocken uns im Schneidersitz auf die Regenjacken und essen.

„Okay, wir haben uns also wiedergefunden“, sage ich. „Zuhause finden wir uns nicht wieder. Seit wann ist das so, dass du mich einfach vergisst?“

„Was?“ Leon sieht auf. Der Schweiß hat kleine Flussbetten in seinem staubigen Gesicht hinterlassen. „Wie kommst du darauf? Ich habe dich noch nie vergessen.“

„Gestern hast du dich von mir abgewandt vor dem Einschlafen.“

„Ich habe gerade den Kopf sehr voll. Es passiert so viel.“

„Und warum sprichst du nicht darüber?“, frage ich. „Früher haben wir über alles gesprochen. Ich möchte nicht, dass wir aneinander vorbei leben. Wann hast du das letzte Mal nach mir gefragt?“

„Wann hast du denn das letzte Mal nach mir gefragt?“, sagt Leon.

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Mist! Ich greife nach einem Schokoriegel. „Früher haben wir zusammen gekocht. Wir sind zusammen einkaufen gegangen oder in die Sauna. Jetzt habe ich gar keine Gelegenheit mehr, nach dir zu fragen. Wenn du nach Hause kommst, verkriechst du dich sofort in der Garage.“

„ Weil ich sehe, dass du in der Küche sitzt und lernst oder Modelle bastelst. Ich will dich nicht stören“, sagt er.

„Du lügst“, sage ich. „Du schaust nicht in die Küche. So weit kommst du gar nicht. Du gehst sofort in die Garage. Du siehst nicht einmal, ob ich Kuchen gekauft oder etwas zu essen gemacht habe. Es interessiert dich nicht. Du bist gar nicht da. Wo bist du eigentlich? In den belgischen Fahrradläden?“

„Ich bin nirgendwo“, sagt Leon. Er blickt irgendwie dramatisch. Ich greife nach dem nächsten Schokoriegel. „Ich bin ein Umherirrender“, sagt er.

„Was soll das heißen?“

„Ich weiß nicht, wohin ich gehöre.“

„Was?“

„Es stimmt, ich gehe nicht in die Küche, weil du mir am Telefon bereits gesagt hast, dass du lernst, arbeitest, Modelle baust, eine Prüfung vorbereitest oder einen Wettbewerb….“

„Das ist nicht wahr“, sage ich. „Du übertreibst maßlos. Du versuchst mir die Schuld an zuhängen. Das ist eine ganz fiese Nummer.“

„Dieses Hin und Her zwischen Belgien und Berlin, das hat viel ausgelöst in mir. Ich habe begonnen, über mich nachzudenken. Mir wird gerade vieles klar. Über mich.“

„Das sind doch nicht deine Worte“, sage ich. „Ich kenne dich. Das sind die Worte einer Frau. Oder machst du etwa eine Therapie?“

Leon springt auf. „Ich brauche doch keinen Therapeuten.“ Er trabt in den Stoppeln auf und ab.

„Mit wem sprichst du denn über dich?“ frage ich.

„Mit niemandem.“ Er pappt sich die Locken in die Stirn. „Ist noch Schokolade da?“

„Nein, alles weg.“

„So“, sagt er.

„Übrigens werde ich mich von dir trennen. Ich sage es dir lieber gleich. Ich habe jemanden kennen gelernt.“

„Spinnst du?“ Leons Gesicht ist plötzlich gefroren, seine vorstehenden Augen klein und starr. Auf seinen Lippen hockt ein verächtliches Wort. Er spricht es aus, leise. Das Wort zischt wie ein halb geöffnetes Ventil. Er läuft durch die Stoppeln, hin und her. Ich fange an zu weinen. Ich kann ihn nicht verletzen, ohne mir selbst weh zu tun. Ich heule wie ein Gespenst, klemme meinen Kopf zwischen die Knie. Ich will diesen Schmerz nicht mehr, diese absolute Nähe, diesen luftdichten Verschluss zwischen uns.

„Warum kehrst du mir den Rücken zu?“ schreie ich. Keine Antwort. Es ist ganz still. Ich springe auf. Leon ist noch da. Er steht im Feld und starrt rüber nach Jerichow.

Ich springe ihn fast an, wie eine Katze. Wie in Zeitlupe legt er seine Arme um mich. Ich küsse sein staubiges Gesicht. „Es gibt niemanden. Es ist gar nichts. Ich bin nur mal mit jemandem ausgegangen letzte Woche. Ich wollte es dir schon die ganze Zeit erzählen. Ich will kein Geheimnis vor dir haben, aber es gab keine einzige Gelegenheit zu reden.“

Wir halten uns umklammert wie Schiffbrüchige. „Ich bleibe bei dir“, sage ich. Zwischen unseren Wangen sammeln sich staubige Tränen. Es ist das erste Mal, dass ich ihn verführen muss, ihm zuvorkomme, ihn dringend brauche und ich einen Platz für uns suche. Auf den Regenjacken in den Stoppeln. „Ich bin so froh“, sage ich schließlich. Wir liegen nackt in der Sonne neben dem Feldstein, Bauch an Bauch. „Du siehst, auch ich kann mal den Anfang machen“, sage ich.

„Du kannst immer anfangen“, sagt Leon.

„Das wird nichts, du kommst mir eh wieder zuvor.“

„Ich meine, du kannst auch anfangen zu reden“, sagt er. „Du kannst alles anfangen, was du willst.“

Ich lasse mich neben Leon rollen und blicke in den Himmel. Seltsam. Das war mir gar nicht klar, dass ich alles beginnen kann, wenn ich möchte.

Wir ziehen uns langsam an. Es ist Nachmittag geworden. Wir beschließen, nicht mehr nach Jerichow zu fahren. Es ist zu weit. Wir sind zu erschöpft. Wir steigen auf die Räder und wedeln langsam zurück nach Tangermünde.

Nach Jerichow kann ich immer noch fahren, mit Leon oder allein.

 

Berliner Notiz – Blog 4. September 2010

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Berlin. Oranienstraße 25.

Schwer zu sagen, wie alt sie ist. Sie trägt ein braun gestreiftes Kopftuch und über die ausladenden Hüften einen schwarzen Mantel, der bis zu den Knöcheln reicht.

Sie drängelt mit einem Plastiksack voller Fladenbrote zwischen den tanzenden Frauen und der Tafel hindurch und verteilt das Brot zwischen den Käseplatten und den Schälchen mit Humus, Tomatensalat und Oliven. Ihre Hände sehen jung aus, fast kindlich.

Ich bin ihr im Weg. „Was schreibst du?“ Ein neugieriger, zugleich skeptischer Blick fällt auf mein Notizbuch. „Ich schreibe über das Frühstück“, sage ich und mache ihr Platz. Sie stößt den Brotsack weiter. Sie macht einen Witz über meine Gummistiefel. Die älteren Frauen auf der anderen Seite der Tafel schauen grinsend herüber.

Ich bin zu Gast beim Frauenfrühstück des Vereins AKARSU in Berlin-Kreuzberg. AKARSU kümmert sich um Frauen und Mädchen aus sozial benachteiligten Familien. Fast alle Frauen an der Tafel tragen das Kopftuch. Auch die Anwältin, die eingeladen wurde, um in rechtlichen Fragen weiterzuhelfen. Die Probleme, in denen sie die Frauen am Tisch berät, drehen sich um Familienprobleme und Ärger mit dem Jobcenter.

Die Angestellten des Vereins, typische Kreuzberger Akademikerinnen, zeigen ihr Haar: glatt oder gelockt, meist bis zur Schulter oder länger. Sie tragen Jeans, Pullover und Brille. Auf den ersten Blick kann ich zwischen türkischen und deutschen Frauen nicht unterscheiden. Eine Sozialarbeiterin erzählt, sie sei mit der Rechtsanwältin zur Schule gegangen und erstaunt, dass sie jetzt ein Kopftuch trägt.

Ayla Yilmaz, die Vorstands-Vorsitzende, kommt später. Sie trägt ein buntes Sommerkleid und ein herzliches Lachen. An ihren Ohren glitzern Steine im rötlichen Ton ihres welligen Haares. Ich habe die Geschäftsfrau in einem Salon getroffen. Ich mochte sofort ihre herzliche, offene Art und wie sie sofort meine zwanzigjährige Tochter Selma umarmte, weil sie einen türkischen Namen trägt. Aber Selma ist auch ein jüdischer Name. Wir nannten unsere Tochter nach einer ihrer jüdischen Tanten aus Amerika. Ich glaube, dass Ayla und Selma sich sofort umarmten und den ganzen Abend lang unterhielten, lag an ihrem ähnlichen Temperament. Selma wird auf Grund ihres Namens und ihres Aussehens in Berlin oft für eine türkische Frau gehalten. Sie ist nicht sehr groß und etwas rundlich, hat volles, gelocktes Haar und ausdrucksvolle, hellbraune Augen.

Ayla zog zwei Visitenkarten aus ihrer Tasche, die ihrer eigenen Firma –sie arbeitet als Steuerberaterin- und die des Vereins Türkischer Unternehmer und Handwerker Berlins, den sie mit ihrem Mann Hüseyin gegründet hat. Hüseyin Yilmaz ist auch der Geschäftsführer von AKARSU. Die Yilmaz sind jetzt in den Fünfzigern. Sie haben sich beim Studium in Deutschland kennengelernt. Ihre Töchter sind inzwischen erwachsen.

Als ich Ayla und Hüseyin gegenüber sitze, mit einem süßen, dunklen Tee, dann stelle ich mir vor, dass es früher in Berlin viele solcher engagierten jüdischen Paare gegeben hat. Sie haben die Atmosphäre der Stadt, ihre Dynamik und ihren Witz, nachhaltig geprägt.

Sie habe nichts gegen das Kopftuch, wenn es aus religiösen Gründen getragen werde, sagt Ayla. Auch ihre Mutter habe immer ein Kopftuch getragen. Aber in den letzten Jahren bekomme es immer stärker eine politische Bedeutung, in der Türkei zum Beispiel, wo die konservative AKP regiert und Frauen sich berufliche Vorteile vom Kopftuch versprächen.

Die kleine Frau mit dem Brotsack möchte nicht, dass ich ihren Namen in mein Notizbuch schreibe, aber sie verrät mir ihr Alter: Vierunddreißig. Sie ist geschieden. Ihre Tochter ist zehn Jahre alt. Einen Beruf hat sie nicht gelernt. Sie putzt morgens in einem Café. Sie macht eine wegwerfende Geste. „Was möchtest du gern machen?“ frage ich. „Zu Hause bleiben und schlafen“, antwortet sie. Sie kichert. „Witz“, sagt sie.

Sie sagt, ihre Religion verlange, dass sie das Kopftuch trägt. „Aber es sind religiöse Frauen hier, die kein Kopftuch tragen“, sage ich. Sie zieht die Schultern hoch. „Warum du?“, bohre ich weiter. Sie weist mit der Hand in die Runde der Frauen, als delegiere sie meine Frage weiter. „Muss“, sagt sie. Unter dem Kopftuch sehe ich den lockigen Haaransatz über ihren kleinen Ohren. Sie kommt mir plötzlich bekannt vor, als wäre ich ihr schon einmal begegnet, ohne Kopftuch, beim Fußballgucken in dem Café in meiner Straße, mit einer glitzernden Spange im Haar. Ich meine nicht, dass sie es war. Ich meine, dass ich eine Frau gesehen habe, die genauso schaute, sprach und kicherte wie sie.

Kathrins Notiz-Blog 25. August 2010

© Illustration Liane Heinze

Kolja hat mich nach der Arbeit zu einem Cocktail eingeladen. Mit Kolja fällt das Reden leicht. Unsere Gespräche sind wie ein Bach, der über Kiesel springt. Die Themen finden kein Ende und werden niemals schwer. Vor dem Gorki-Park saß ein Cello-Spieler auf dem Bürgersteig. Wir hörten ihm eine Zeitlang zu. Es ging gegen zehn. Der Vollmond knallte und erleuchtete den Himmel sommerlich türkis. Ich dachte an unseren Wandschirm hinter dem Bett und wie Leon mich morgens in den Wasserlichtern mit seinem Penis aufweckt. Ich dachte an die drahtigen Locken, die ich als erstes spüre, wenn ich morgens verschlafen nach dem Tier suche. Kleine Tornados. Es macht mir Spaß, sie lang zu ziehen und wieder in ihre Form zurück schnippen zu lassen. Unvorstellbar grausam der Gedanke, dass eine andere Frau ihm so nahe kommen könnte.

Der Himmel funkelte und sprenkelte, als käme dieses Türkis nicht von den Sternen, sondern von weiter her, aus der pulsenden Mitte des Universums.

„Ich möchte mich mal wieder verlieben“, sagte Kolja. „Ich mag dieses Gefühl.“

„Ich auch.“

Einmal hatte ich Leon gefragt, was ein Mann fühlt, wenn er eine Frau liebt. Er hatte gesagt: „Vertrauen.“

„Ach komm, Vertrauen, das fühlt man auch zu guten Freunden.“

Er: „Lass mich in Ruhe, ich kann es dir trommeln, aber Worte habe ich dafür nicht.“

„Sie möchte ein Kind“, sagte Kolja. „Nächstes Jahr. Ehrlich gesagt, habe ich Angst davor.“

Wir schleppten uns den Weinbergsweg hinauf. Kolja sprach vom Älterwerden und seinem besten Freund, der mit Mitte Zwanzig schon Vater geworden war. Wie er sich schlagartig verändert hatte. Eben waren sie noch um die Häuser gezogen. Und nun machte er auf Familie. „Ich will ausgehen, tanzen, einen drauf machen. Hin und wieder brauche ich das. Verstehst du?“

„Hm.“

„Das ist vielleicht die letzte Sommernacht“, sagte Kolja. Er sah übrigens hinreißend aus. Seine blonden Haare sind zwar schon ziemlich dünn geworden, aber Kolja besitzt die Ausstrahlung eines gewieften Dorfjungen, der genau weiß, wo man die besten Pferde stiehlt. Unwiderstehlich. Man rechnet immer damit, dass er einen Frosch aus seiner locker sitzenden Hose hervor zieht, oder mindestens einen Popel. Ich vermute, dass er je älter, umso verwegener aussehen wird.

„Ist Leon nicht eifersüchtig?“

„Er weiß ja nicht, dass ich mit dir ausgehe.“

„Er lässt dich tagelang allein. Glaubt er, du sitzt zu Hause und strickst?“

„Das glaubt er wohl.“

Kolja blieb stehen und musterte mich mit zusammen gekniffenen Augen.

„Früher war ich höllisch eifersüchtig. Ich bin verrückt geworden, wenn meine Freundin allein mit einem anderen Mann war oder bei einem Freund übernachtet hat.“

„Jetzt nicht mehr?“

„Ich habe eine Therapie gemacht. Ich komme damit klar.“ Es klang, als spräche er von seiner Kastration. Er wühlte in der Hosentasche. Laubfrosch? Popel? Nein, eine verschrumpelte Zigarette.

Wir gingen ins Zaza. Ein Windlicht flackerte zwischen uns. Kolja hielt es an die Zigarette und paffte. Sie war offensichtlich feucht.

„Einmal hatte ich Angst, dass Leon sich in eine andere Frau verliebt hat.“

„Und?“ Kolja hielt inne und kniff mich in seine Augenzange, die kalte Zigarette zwischen den Zähnen.

„Ich habe ihn gefragt. Nichts. Ich hatte mich geirrt.“

„Männer lügen. Was glaubst du, wie oft ich meine Freundin schon belügen musste.“

Und Frauen durchschauen die Lügen, wollte ich sagen, sprach es aber nicht aus. Ich fand es reizvoll, dass Leons Lüge an diesem Abend eine Möglichkeit blieb.

„Es muss sich lohnen“, sagte Kolja. Er hatte seine Zigarette endlich in Gang gebracht und lehnte sich zurück.

„Was?“

„Das Verlieben. Es muss eine interessante Frau sein. Sie muss so sein, dass ich meine Freundin für sie verlassen würde.” Ich traute mich nicht, Kolja anzuschauen. Ich wünschte mir, diese Frau zu sein, hielt aber für ausgeschlossen, dass er mich meinte. „Meistens ist es umgekehrt“, sprach er weiter. „Die Leute gehen fremd, aber sie haben Angst, ihre langjährige Beziehung zu gefährden. Ich möchte aber nicht nur Sex. Ich möchte verliebt sein. Emotionales Bungee-Jumping.“
In diesem Moment dachte ich, es später darauf ankommen zu lassen. Beim Abschiedskuss ein Stück abrutschen und dabei seine Lippen berühren. Es waren nur ein paar Millimeter, dann würde das Bungee-Seil mit uns in den Abgrund stürzen.

„Sieh mal, die Farben!“ Ich hielt meinen rosa Watermelon-Man neben seinen gelben Ladykiller. Wir schwiegen und saugten. Dann versuchte ich das Gespräch noch einmal auf meine Entwürfe für den Optiker zu lenken, aber Kolja hatte keine Lust, darüber zu sprechen. Wir hatten uns schließlich den ganzen Nachmittag damit beschäftigt.

„In Helsinki hast du die Tür zu deinem Zimmer in der Nacht offen stehen lassen“, sagte Kolja. Meinte er mich doch? Ich hackte mit dem Strohhalm auf die Eiswürfel ein.

„Ich bin klaustrophob“, sagte ich.

„Du hast ziemlich viele Ängste.“

„Du auch.“

„Stimmt. Sagt mein Therapeut auch. Man merkt es mir aber nicht an.“

„Mir auch nicht“, sagte ich.

„Doch“, sagte Kolja. „Ich habe es sofort gesehen, als du die Bürotür geöffnet hast, wie du dich blitzschnell orientiert und keinen Schritt weiter getraut hast.“

„Du spinnst.”

„Es ist wahr. Ich musste aufstehen und dir entgegenkommen.”

„Ich bin ein höflicher Mensch.”

„Warst du als Kind mal eingesperrt oder warum fürchtest du geschlossene Türen?“

„Glaub nicht. Es wird schlimmer mit den Jahren. Ist wohl eher die Angst vor dem Sargdeckel.“

Kolja grinste. „Du bist melancholisch. Wie ich.“ Sein Cocktailglas war leer. Er schlürfte die letzten Tropfen zwischen den Eiswürfeln weg. Eine Kehrmaschine zog träge und laut durch den Rinnstein.

„Was ist Melancholie?“, fragte ich.

„Es gab mal eine Ausstellung“, sagte Kolja. „Da wurde es erklärt.“

Ich erinnerte mich an die Ausstellung. Es war ziemlich lange her. Mir fiel ein, dass ich schon lange keine Galerie, keine Ausstellung mehr besucht hatte. Wir redeten über Gestirne, das Mittelalter, schwarze Galle und Depressionen. Kolja gähnte. Es ging langsam auf drei. Es war kalt. Die Eiswürfel schmolzen nicht mehr.

Kathrins Notiz-Blog 23. August 10

© Illustration Liane Heinze

Leon war hier, jedoch nicht vollständig. Er hat Fahrradteile auf dem Fußboden verteilt, meine Skizzen auf dem Küchentisch aufgewirbelt und ist dann in seiner Garage verschwunden. Er könne nicht mehr schlafen, sagte er, als ich kurz vor Mitternacht in die Garage ging, um nach ihm zu schauen. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Seine Augen schienen ein Stück weiter aus dem Gesicht in Richtung der Ohren gerutscht zu sein. Seine Locken standen in staubigen Bündeln vom Kopf ab. Er war unrasiert.

Ich nahm seinen Kopf in meine Hände und drückte ihn an meinen Bauch. Er blickte mich von unten an, aus einer großen Entfernung. Später versuchte ich zu schlafen, allein vor unserem Wandschirm, auf den das Mondlicht fiel, aber ich fand keine Ruhe.