Die Frau, die den Rechner zersägt

Berliner Zeitung

Foto: Kathrin Schrader

Datenfälschung, Kontenbetrug, Identitätsklau – die Internet-Kriminalität wächst rasant. Claudia Eckert leitet als Professorin eine Forschungsgruppe, die Gegenstrategien entwickelt, auch mit unkonventionellen Methoden

Garching. Claudia Eckert ist Informatikerin, Professorin und eine Frau von unruhigem Wesen. Man musste sich etwas einfallen lassen, sie zu halten.

Als Claudia Eckert dem Ruf der Technischen Universität München folgte, den neuen Lehrstuhl „Sicherheit in der Informationstechnologie“ einzurichten, bot ihr das Land Bayern gleich noch ein bisschen Geld zum Forschen an.

Nun baut die 50jährige Wissenschaftlerin in Garching bei München bereits die dritte Zweigstelle des Instituts auf, das sie seit 2001 leitet, das Fraunhofer Institut für Sicherheit in der Informationstechnologie (SIT). Hunderte Spezialisten kämpfen hier in Garching, im Darmstädter Stammsitz des Instituts und einer weiteren Außenstelle bei Bonn gegen Trojaner, Würmer und Viren. Geführt von Claudia Eckert suchen sie nach  Fehlern in den Immunsystemen der Rechner.

In den letzten fünf Jahren ist die Zahl der polizeilich gemeldeten Fälle auf dem Gebiet der Informations – und Kommunikationstechnik-Kriminalität um zirka 300 Prozent gestiegen. Allein in Berlin wurden im vergangenen Jahr 22 665 Internet-Betrügereien gemeldet. Die meisten Delikte drehen sich um das Online-Banking. Dabei werden Geheimnummern und Kreditkartendaten ausgespäht. Mit verschiedenen Methoden, immer unter Verwendung von sogenannter Schadsoftware, leiten die Täter Transaktionen um. Die kleinen Programme, Trojaner genannt, sind in der Lage, Empfänger und Beträge zu ändern, dem Absender auf Rückfrage aber dennoch die ursprünglichen Daten zur Bestätigung zu schicken. Immer öfter kommt es auch vor, dass im Internet bestellte und bezahlte Waren nicht geliefert werden.

Das neue Büro von Claudia Eckert befindet sich in einer halbfertigen Business-Welt im Niemandsland an der Bundesstraße von Garching nach Nürnberg. Von ihrem Fenster aus blickt die Professorin auf Baukräne, einen Kreisverkehr mit schlammigen Baggerspuren und einen künstlichen Teich mit immergrünen, rasierten Wiesen.

Sie nimmt die Hände von der Tastatur, dreht sich entspannt in ihrem Stuhl. Hohe Wangenknochen, dunkle Augen, ein natürliches, einfaches Gesicht, ungezupft, ungeschminkt. Sie trägt Bluse, Hose und Blazer, alles in schwarz. Diese Kleidung wirkt an der Wissenschaftlerin wie ein Kompromiss mit der Geschäftswelt, in deren Mitte sie das neue Büro eingerichtet hat.

Das Geld der bayerischen Regierung dient lediglich als Anschubfinanzierung. Künftig muss sich auch diese neue Zweigstelle, wie das gesamte Institut, durch Aufträge aus der Wirtschaft und öffentlich geförderte Forschungsprojekte selbst finanzieren. Professor Eckert und ihre Teams sind dabei nicht konkurrenzlos. Neben dem Fraunhofer Institut bieten private Unternehmen Sicherheits-Prüfungen. Es gibt auch einen TÜV für Netzwerksicherheit.

„Was uns unterscheidet, ist, dass wir so kreativ wie die Hacker selbst arbeiten“, erklärt Professorin Eckert. Ihre Stimme klingt fest. „Wir gucken schräg auf die Probleme, kombinieren Dinge, die zu kombinieren man normalerweise nicht auf die Idee käme. Dadurch werden wir auf viele Sicherheitslücken erst aufmerksam. Das ist ein anderer Stil, als nur formalen Schritten zu folgen, wie Behörden das tun. Wir sägen auch mal einen Computer auf, um an bestimmte Dinge ran zu kommen.“ An dieser Stelle bekommt ihre Stimme einen distanzierten Schliff, als ginge ihr Arbeitsstil eigentlich niemanden etwas an. Vielleicht fürchtet sie, der schräge Blick und die Säge im Schreibtisch könnten die Einrichtung des Instituts beschädigen, das Ansehen der jungen, hochbegabten Mitarbeiter, die in diesen schmucklosen Räumen vor ihren Monitoren tüfteln, Informatiker wie sie selbst, auch Mathematiker, Physiker, Elektrotechniker und Juristen.

Claudia Eckert federt durch die Gänge, nickt ihren Mitarbeitern zu. Und wieder, während sie kurze Absprachen mit ihren Mitarbeitern trifft, passt der schwarze, etwas zu große Blazer nicht zu dem Knistern, das sie spürbar treibt, von Uni zu Institut, von Kongressen zu Messen und zurück, abgesehen von telefonischen Verabredungen und unzähligen Emails, die beantwortet werden müssen. Der Kalender ist voll. Sie brauche das, sagt sie. Sie müsse immer im roten Bereich rotieren. Für den Job mit der Säge bleibt keine Zeit mehr. „Lust habe ich schon, aber das ist unrealistisch, das geschieht höchstens, wenn ich mit einem meiner vielen Doktoranden mal über einem Problem knispele.“ Sie sei mehr eine Wissensmanagerin geworden.

Sie besitzt den Ruf einer hervorragenden Netzwerkerin, organisiert Plattformen, auf denen sich Wissenschaftler und Unternehmen begegnen. Sie referierte auch schon vor Krimi-Autoren. Ihr Thema: Die reale Gefahr des Cyberterrorismus. Die Bombe im Rechner. „Es braucht nur jemand einen kleinen Trojaner auf ihren Rechner pflanzen“, erklärt sie auf dem Weg zum Carl-Linde-Hörsaal der TU München. „Unauffällig, weil sie etwas leger mit ihm umgegangen sind, und schon agiert ihr Computer als Zombie-Rechner mit Millionen anderen in einem sogenannten Botnetz, um, sagen wir mal, den Reaktor eines Kernkraftwerkes zum Schmelzen zu bringen. Botnetze kann man übrigens im Internet mieten. Oder stellen sie sich vor, die Finanzstruktur bricht zusammen. Alles basiert darauf, dass die Börsen online sind, die Transaktionen müssen laufen. Wenn die ihre IT-Dinge nicht mehr abwickeln können, überleben die nicht länger als zwei Tage.“

Im ICE nach München klapperten die Tastaturen noch so leicht. Plötzlich werden die mobilen Netzwerker zu ahnungslosen Lieferanten der gut organisierten, sogenannten Underground Economy, deren Hauptziel es ist, virtuelle Identitäten zu handeln. Die Schad-Software errechnet aus den persönlichen Daten auf Facebook, Xing und Co. in Windeseile mögliche Passwörter. Glaubt man Professor Eckert, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie die richtigen Passwörter finden, extrem hoch, weil die meisten Nutzer leicht durchschaubare Varianten verwenden.

Der Hörsaal an der TU München, wo Claudia Eckert heute ihre Vorlesung hält, ist gut gefüllt. Doch die wenigsten Studenten machen sich Notizen. Einige haben ihren Laptop aufgeklappt, lesen Emails oder surfen im Netz. Ein ständiger Lärmpegel steht im Raum: Kichern und Murmeln. Die Professorin lässt sich von der undisziplinierten Atmosphäre nicht stören. Auf ihrem Tablet-PC rechnet sie Beispiele durch, kringelt Ergebnisse ein, setzt Pfeile. Am Ende der Vorlesung bekommt sie Applaus- für die Aufzählung der Themen, die sie in der Prüfung nicht abfragen wird.

Nur wenige Mädchen haben im Auditorium gesessen. Auch wenn die Frauenbewegung mehr als hundert Jahre alt ist, fragt man sich, wie Claudia Eckert es geschafft hat, in einer Männerwelt wie der Informationstechnik so weit voran zu kommen.

Keine privilegierte Herkunft. Der Vater arbeitete als Vermessungsingenieur in der Stadtplanung, unruhig auch er, begierig darauf, sich auszuprobieren. Die Familie lebte im Ruhrgebiet, in der Schweiz, dann wieder in Deutschland. Die Mutter, eine gelernte Apothekenhelferin, war Hausfrau. Immer hätten die Eltern ihre Begabung unterstützt, sagt Claudia Eckert. Sie und ihre Schwester seien nie klassisch wie Mädchen erzogen worden.

In den Siebzigerjahren hörte die Abiturientin Claudia ihrem Vater gespannt zu, wenn er von seiner Arbeit mit den ersten IBM-Großrechnern berichtete. Sie folgte seinem Rat, nicht Mathematik, ihr Lieblingsfach, zu studieren, sondern Informatik. 1980, während der Promotion, richtete sie an der Seite ihres Professors den Lehrstuhl Informatik in Oldenburg mit ein. Gleich nach der Promotion bekam sie eine Habilitationsstelle in München, übernahm erste Vertretungsprofessuren in anderen Städten.

An diesem Abend fährt sie mit dem Zug nach Darmstadt. Morgen wird sie am Hauptsitz des Instituts eine Aufsichtsratsitzung leiten. „Ich habe niemals eine Zurückweisung erfahren, weil ich eine Frau bin“, sagt sie. „Ab einer gewissen Position versucht immer jemand, ihnen ein Beinchen zu stellen. Das hat nichts damit zu tun, dass ich eine Frau bin. Aber dass ich anfangs extrem unterschätzt worden bin, das hat damit zu tun, dass ich eine Frau bin.“

Sie ärgert sich, dass das Bild der Informatik in der Gesellschaft negativ besetzt ist, noch immer dominiere der Pizza mampfende Freak, der abseits der Welt, in seinem Keller bastele. „Dabei ist die Informatik eine kommunikative Wissenschaft. Man muss häufig mit anderen Menschen arbeiten, man muss sie verstehen, die Lösung so bauen, dass sie damit umgehen können. Man arbeitet immer im Team. Da liegt eigentlich eine Stärke von Frauen, diese Bindegliedfunktion zu haben, und dann trotzdem das technische Verständnis mitzubringen, das Analytische.

Die Zahl der weiblichen Informatik-Studenten nimmt gerade wieder ab. Nach einem Höchststand von zirka zwanzig Prozent vor einigen Jahren ist die Zahl jetzt auf unter zehn Prozent gefallen.

Claudia Eckert kennt Theorien, die das Phänomen zu erklären suchen, dass sich Mädchen weniger für Computertechnik interessieren als Jungen. Unter anderem läge es am Unterricht in den Schulen. Mädchen hätten andere Herangehensweisen an Probleme als Jungen. Während Jungen im Computerkabinett einfach loslegten und ausprobierten, versuchten Mädchen zuerst, das Problem zu durchdringen, zu analysieren und stolperten dann noch bei den ersten Schritten herum während die Jungen schon weiter sind. So kämen die Mädchen leicht zu dem Schluss, dass sie mit Computern nichts anfangen können.

Ihre Karriere kommentiert sie einfach: „Ich hatte Glück.“ Sie erwähnt nicht den guten Studienabschluss, die überzeugende Doktorarbeit, ihre Bereitschaft, für eine Vertretungsprofessur durch das ganze Land zu fahren, viele Jahre, bevor die ICEs zu ihrem bevorzugten Arbeitsort wurden. Sie ist eben gern unterwegs. Und sie verdankt ihre Karriere letztlich auch dem Boom, den ihr Wissenschaftszweig in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Inzwischen ist jeder Mensch auf dieser Welt von funktionierenden Netzwerken abhängig. Die Datensicherheit ist eines der dringendsten Probleme der modernen Gesellschaft geworden.

Auf dem Bahnhof bleibt noch Zeit für eine Tasse Kaffee im Stehen. Die Wissensmanagerin ist längst weiter, in der Zukunft, im Internet der Dinge. „Dieser Kaffeebecher zum Beispiel.“ Sie hebt ihn von dem Bistrotisch hoch, blickt auf den Boden der Tasse, an die Stelle, an der dieser Becher zukünftig mit dem Internet der Dinge verbunden sein wird. „Sie gehen damit zum Automaten. Der Betrag wird gleich von ihrem Konto abgebucht. Diese Daten, die dabei ausgetauscht werden, stellen Sicherheitsprobleme ganz neuer Art. Ich weiß heute, wie ich einzelne Menschen und große Server identifizieren kann. Jetzt muss ich tausende von Bechern identifizieren. Wie soll ich das machen?“ Die Frage wird sie eine Weile beschäftigen.

Kathrins Notiz-Blog 16. Mai 10

© Illustration Liane Heinze

Wo immer ich hingehe, bin ich allein. Im Kino. Im Theater. Im Literatursalon. Leon begleitet mich auch nicht zu Ludwig und Bertram. Die finden das nicht schlimm. „Lass ihn doch“, sagen sie. Es ist wie früher, als ich ein Single war und davon träumte, jemanden an meiner Seite zu haben.

Doch ins Bett geht Leon nicht ohne mich. Er schläft vor dem Fernseher ein, den Oberkörper auf einen Arm gestützt, bis er nach vorn kippt und wieder aufschreckt. „Woher nimmst du bloß die Energie?“, fragt er, wenn ich ein oder zwei Stunden nach Mitternacht nach Hause komme. „Daher“, sage ich. „Da, wo ich jetzt her komme, daher nehme ich die Energie.“

Manchmal bin ich müde. Im Büro, wenn ich nach den Artischockenherzen in der Kantine durch das Netz surfe, auf der Suche nach zukünftigen Jobs. Mein Praktikum geht in einer Woche zu Ende. Ich muss mit Froschkinn im Jobcenter über die Finanzierung des Studiums sprechen.

Kolja hat mir einen Flyer entworfen. Wenn man ihn aufschlägt, ist es, als ob man ein Fenster öffnet und einen leeren Raum betritt, in dem einige rote Bauklötze stehen. Weiter nichts. Vor den roten Bauklötzen liegt ein weißer,  auf dem mein Name und meine Adresse stehen.

Ich kann mir Müdigkeit jetzt nicht leisten. Je klarer mir das wird, desto müder werde ich. Schwerfällig. Beladen. Wie ein Flugzeug, das langsam zum Start rollt.

„Du schaffst es“, sagte Leon gestern Abend. Er sagte es mit so viel Überzeugung, dass ich ihm glaubte. Ich bin erstaunt, dass dieser Satz funktioniert. Ich habe noch niemals gewagt, jemandem auf so banale Weise Mut zu machen. Ich habe schon mit Freunden zusammen gesessen, ihre Situation analysiert, abgewogen. Einen Spruch wie diesen hätte ich lächerlich gefunden. Ich hätte befürchtet, falsche Hoffnungen zu verbreiten.

Weil ich nicht wusste, dass Hoffnung niemals falsch ist. Das ist es, was ich von Leon lerne. Er, der selbst schon Abstürze überlebt hat, trifft den einzig möglichen Ton, in dem dieser Satz gesagt werden kann.

Kathrins Notiz-Blog 19. April 10

© Illustration Liane Heinze

Ich habe Jolanda im Café Berger getroffen. Es war das erste Mal in diesem Jahr, das wir draußen auf den Gartenbänken sitzen konnten. Über den Armlehnen hingen noch die Wolldecken vom Winter, aber Jolandas Nase und ihre Wangen waren schon mit Sommersprossen übersäht. Das ist in jedem Jahr das Startsignal für den Frühling. Ihre Augen glühten wie sattes Moos im Sommer.

„Was meint Leon, wenn er sagt: Etwas zusammen aufbauen? Ist doch logisch, dass man als Paar etwas zusammen aufbaut, oder? Das geschieht doch von selbst“, fragte ich die zukünftige Kriminalistin.

Jolanda zündete sich eine Zigarette an. Sie stieß energisch den ersten Rauch aus. „Du wirkst immer etwas abwesend, Mama. Egal wo du bist, du bleibst am Rand. Wahrscheinlich fürchtet er, dass du dich eines Tages auflöst, dass er sich umschaut und du bist verschwunden.“

Sie musterte kritisch die Vorgänge hinter dem Tresen.

Ich bezog auf der Gartenbank meinen Verteidigungsposten. „Ich bin da. Er weiß es. Er hat vielleicht Angst, mich zu verlieren, aber ich bin da. Ich bin heftig da. Ich setze mich mit seiner Familie, mit seiner Arbeit auseinander, berate ihn…“

Jolandas schattige Moosaugen sprangen mich abwechselnd an und an mir vorbei. Ein Pingpong bis zu meiner nächsten Atempause, um mir ins Wort zu fallen. Ihre Lippen lagen bereits in Startposition. Dann wurde ihr Salat serviert. Sie drückte die Zigarette aus, kippte, ohne zu probieren, Salz und Balsamico über die Blätter und Körner und begann zu essen. Ich holte Luft und redete weiter. „Ich koche. Ich habe die Wohnung umgeräumt. Ich räume sein Leben um. Ich arbeite wie eine Trümmerfrau. Und er sagt: Mit dir kann man nichts aufbauen.“

Jolanda tauchte aus dem Salat auf. „Trümmerfrau. Ein Wesen ohne Namen. Verhärmt, grau, Asche.“

Ich flüchtete an meine Kaffeetasse. Der Kaffee war schnell kalt geworden, bot keinen Trost mehr. „Du meinst doch nicht, ich…“

“Du wärst eine strahlende Erscheinung, wenn du nicht mit dieser Tarnkappe unterwegs wärst“, sagte Jolanda. „Du trägst sie links herum, umgekehrt. Wenn jemand eine Tarnkappe richtig aufsetzt, ist er unsichtbar, aber man kann sich an ihm stoßen. Du bist sichtbar, gerade noch so, aber man kann sich an dir nicht stoßen. Du weichst aus. Du schaffst jedem Platz, lässt alle so sein, wie sie sind…“

„Das nennt man Toleranz!“

„…das versteht er doch nicht. Außerdem – warum solltest du tolerieren, was dir weh tut? Er provoziert dich, um dich zu spüren, deinen Widerstand. Du solltest dich öfter mal beschweren, mehr klagen, etwas fordern, eben seine Sprache sprechen.“

Ich war hingerissen von Jolanda, ich konnte nicht anders. Wie sie den Salat aß, wie sie sich alles nahm, was sie brauchte, sich einverleibte und dabei sprühte und dampfte, dass alle zu uns rüber schauten…Ich konnte ihr den Unsinn, den sie redete, gar nicht übel nehmen.

„Ich bin eben ein sensibler Typ, am Rand, ja, eine Beobachterin. Ich bin anders als du, ich habe nicht deine Dichte. Aber so bin ich nun einmal. Vermutlich wurde ich so geboren. Wieso wird das Leise nicht wahrgenommen, beziehungsweise immer negativ bewertet? Wieso wird man schuldig gesprochen, wenn man nicht mit der Trommel durchs Leben stampft? In was für einer Welt leben wir eigentlich?“

„Genauso“, schnurpste Jolanda zwischen ihren Salatblättern hervor. „Motze ihn an für die Welt, in die er dich hinein zu ziehen unterstanden hat.“

„Feiner Deutsch.“

„Apropos: Ich brauche ein Ballkleid.“

„Apropos: Bereitest du dich auf die Prüfungen vor oder beschränken sich deine schulischen Aktivitäten auf die Organisation des Abi-Balls?“

„Apropos: Jakob ist im Komitee, du weißt, Jakob aus dem Schultheater: Harpagon.“

„Hmmm.“

„Auf einer Tournee nach Westberlin sind wir uns näher gekommen. Mit Sören und mir, das ging gar nicht mehr, weißt du.“

„Moment mal, sprichst du jetzt von Kleidern oder Menschen? Oder bringst du gerade beides durcheinander?“

Jolanda unterbrach das Zermalmen der Salatblätter. „Ich habe ein fürchterlich schlechtes Gewissen. Aber was soll ich denn machen? Ich war noch nie im Leben so glücklich wie mit Jakob.“

„Wie geht es Sören?“

„Nicht so gut. Er würde sich sicher über deinen Anruf freuen.“

„Hmmm.“

Wir liefen durch die aufdringlich gut gelaunten Straßen. Seltsam, dass ich Jolanda so sehr liebe, obwohl sie ganz und gar verschieden ist von mir. Wir sehen uns ähnlich, sind aber verschiedene Typen. Diese Erfahrung, jemanden trotz seiner Verschiedenheit ähnlich zu sein und über alles zu lieben, macht man nur mit Kindern.

„War das deine Angst als Kind, dass ich mich auflöse und verschwinde?“

Jolanda rauchte schon wieder, blies den Rauch in den Himmel. „Damals, als du die Fahrschule gemacht hast, konnte ich mir nicht vorstellen, dass du ein Auto beherrschen kannst, so abwesend und verträumt wie du bist. Ich hatte Angst, einzusteigen. Todesangst. Natürlich habe ich mich nicht getraut, es zuzugeben.“

„Aber ich bin eine ausgezeichnete Autofahrerin. Ich reagiere blitzschnell. Das muss dir doch gezeigt haben, dass du mich völlig unterschätzt hast.“

„Ich erinnere mich, dass du ein oder zweimal an der Ampel standest und der Motor immer wieder ausging.”

„Na und? Das ist nicht lebensgefährlich. Ich bin völlig cool geblieben. Je mehr hupen, desto cooler werde ich.”

„Es war peinlich.”

„Deine Todesangst war also nur die Angst, sich zu blamieren.”

„Was heißt: nur? Manche Dinge sind so peinlich, dass man lieber sterben möchte.”

„Bin ich dir immer noch peinlich?”

„Du warst mir nie peinlich. Hallo?! Es war nur diese Situation. Im Gegenteil: Ich finde es immer lustig mit dir. Wir haben doch einige gute Performances hingelegt, oder?“

Doktor Hoffnung

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In Dresden können Gymnasiasten Esperanto lernen, die Plansprache, die die Welt einmal verbinden sollte. Der Lehrer hat den Traum davon noch nicht aufgegeben und hofft, dass seine Schüler den Kurs durchhalten


© Photo: Stephan Pramme

Doktor Benoît Philippe unterrichtet am Bertolt-Brecht-Gymnasium in Dresden Französisch. Er ist nicht zufrieden. Er findet, dass seine Muttersprache für Schüler in Sachsen nicht wichtiger sein sollte als Sorbisch. Oder Suaheli.

Es ist Montagnachmittag. Herr Philippe wartet vor dem Zimmer 104 auf seine Schüler. Seine schwarze Ledertasche trägt er wie einen Schulranzen auf dem Rücken. Der blau-weiß-rote Sticker auf dem Deckel der Tasche ist schon ziemlich abgegriffen. Doktor Benoît Philippe ist jugendlich schlank, sein kurzer Bart tadellos geschnitten. Ein kleiner, blauer Kragen liegt über dem hellen Wollpullover. Er unterscheidet sich in Gelassenheit und Eleganz erheblich von den anderen Lehrern, die durch die Gänge des modernen Gymnasiums eilen.

Felix, Vivien, Sophie und Carolin aus der Achten treffen zuerst ein. „Saluton“, begrüßt Herr Philippe die Schüler. „Saluton“, grüßen sie zurück. Ein paar Minuten später kommen Janek und Pia aus der Siebten. Der Esperanto-Unterricht kann beginnen.

Der Lehrer rückt vier Tische für die kleine Gruppe zusammen. Er schreibt Worte an die Tafel, deren Endungen die Schüler vervollständigen sollen. Das ist einfach, denn in Esperanto endet jedes Substantiv/Einzahl auf „o“ und jedes Adjektiv auf „a“. Deshalb erinnert die Sprache immer ein wenig an spanisch, obwohl ihr Wortschatz aus vielen europäischen Sprachen stammt. „Vi bone lernis“ – du hast das gut gelernt, lobt der Lehrer, als Vivien einen Satz aus den Wörtern bildet. Vivien ist gegen den Willen ihrer Eltern zu den ersten Esperanto-Lektionen gekommen. Ihre Eltern, sie sind beide Lehrer, finden die Sprache sinnlos. So wie Viviens Eltern denken viele: Warum eine Sprache lernen, in der man in keinem Hotel der Welt ein Frühstück aufs Zimmer bestellen kann? Aber Vivien ist neugierig auf die Sprache, von der Herr Philippe sagt, dass sie sich schneller als Englisch und Französisch lernen lässt. Vielleicht taugt sie als Geheimsprache. Felix lernt Esperanto, um in Französisch besser voran zu kommen. Denn ihr Lehrer, Herr Philippe, hat ihnen gesagt, dass Esperanto eine gute Grundlage für jede europäische Sprache ist. Sophie möchte Dolmetscherin werden. Als zweite Weltsprache kann sie sich Esperanto nicht vorstellen. „Ich könnte niemanden im Internet auf Esperanto anquatschen.“  Pia fällt auf in der Gruppe. Sie ist ein Mädchen mit einem blassen Gesicht und großen, braunen Augen, die nachdenklich und distanziert schauen. Zugleich ist sie sehr präsent. Auch sie möchte später einen Beruf haben, in dem sie Sprachen braucht wie ihre Mutter, die kürzlich beruflich in Afrika zu tun hatte. Pia hat sich ihre Gedanken gemacht über Esperanto, die vor allem als gerecht geltende Kunstsprache. „Da kommt ja so viel aus dem Polnischen.“ Das haben vielleicht ihre Eltern behauptet, die kein Esperanto sprechen. Im Esperanto bündeln sich Einflüsse aus allen europäischen Sprachgruppen. Trotzdem sind Pias Bedenken richtig. Für einen jungen Kosmopoliten bleibt es eine ungerechte, weil europäische Sprache. „Englisch ist irgendwie cooler“, sagt Pia.

Doktor Philippe fürchtet, dass die Schüler aufgeben. Der Kurs ist im letzten Jahr von fünfzehn auf sieben Schüler geschrumpft. Zwar haben in seinen Esperanto-Kursen, anders als in den Spanisch – und Italienisch-AGs, immer einige Schüler bis zum darauffolgenden Jahr durchgehalten, weil sie weniger schnell entmutigt waren, aber schließlich haben die Jugendlichen um diese Zeit schon einen langen Schultag hinter sich. Und er darf keine Zensuren geben. Die leichte Kunstsprache hilft den Schülern also nicht einmal, ihren Abi-Durchschnitt zu heben.

In Deutschland ist Esperanto als Schulfach nicht zugelassen. In Großbritannien, Norwegen, Polen, Ungarn, Bulgarien, Italien, Österreich, Bosnien, den USA, China, Neuseeland und vielen weiteren Staaten ist die Plansprache anderen Fremdsprachen gleichgestellt. Dort werden Lehrer für den Esperanto-Unterricht ausgebildet. Benoît Philippe hat 1980 einen Abschluss als Esperanto-Lehrer in Varna gemacht.

Esperanto sei zweckmäßig und gerecht, argumentiert er. Er zählt die Erfolge seiner Esperantogruppe auf und hält sie gegen die miserablen Französischkenntnisse der Schüler im Allgemeinen. Französisch stehe nur zur Abschreckung auf dem Lehrplan, damit die Schüler sich für das leichtere Englisch entscheiden, sagt er. Zwei, drei senkrechte Falten bilden sich zwischen seinen blauen Augen auf der sonst glatten Stirn. Dann winkt er ab. „Das ist natürlich Unsinn, aber manchmal habe ich solche Ideen.“

Esperanto ist für diesen Lehrer nicht nur ein Argument. Es ist eine Leidenschaft. Er entdeckte die Sprache als Student in Freiburg, im Disput mit einem Freund, der Philippes zunächst ablehnende Haltung mit den Worten konterte: „Du weißt nicht, wovon du sprichst.“ Das habe ihn überzeugt. Seine Begeisterung wuchs mit dem Lernen. Die Dissertation -er studierte Romanistik und Philologie- schrieb er über die Entwicklung der Plansprache. Sein Professor, ebenfalls ein Romanist, hatte keine Mühe, die Sprachbeispiele zu verstehen. Seit vielen Jahren schreibt Benoît Philippe Gedichte in Esperanto. Er gibt eine Zeitschrift heraus und sammelt Literatur.

„Es hat vielleicht mit meiner Geschichte zu tun, dass ich so offen war für die Idee einer gerechten Sprache“, sagt er. „Meine Familie kommt aus dem Elsass, wo abwechselnd Deutsch und Französisch verboten waren, je nachdem, wer gerade an der Macht war.“ Als sein Großvater in den ersten Weltkrieg zog, verließ er ein deutsches Dorf und kehrte heim in ein französisches. Die Eltern wurden während der Annexion durch Hitler in ihrer Kindheit gezwungen, Deutsch zu sprechen. Nach 1945 war die Sprache der Nazis im Elsass unerwünscht.

Benoît Philippe wurde in Baden-Baden geboren. Er wuchs in einer Siedlung für die französischen Besatzer auf. Sein Vater arbeitete dort als Lehrer. „Wir nannten diese Siedlung ‚das Ghetto’, erzählt er. „Das war kein Frankreich. Das war kein Deutschland. Das war…“ Er schaut sich im Schulhaus nach einem Vergleich um. Sein Blick fällt in den verwahrlosten Lichthof im Zentrum des Gebäudes, gleich neben Zimmer 104. „Das war wie auf dem Mond. Die Militärs und ihre Familien blieben maximal drei Jahre. Ich war neidisch auf meine Mitschüler, weil sie wieder gehen konnten. Sie gingen an Orte, die so wunderbare Namen hatten wie Bordeaux oder Marseille. Wenn wir zu Beginn des Schuljahres die Formulare ausfüllen mussten, deckte ich meinen Geburtsort zu. Ich war der Boche, der schmutzige Deutsche.“

Ludwig Zamenhof, der Erfinder des Esperanto, wurde einhundert Jahre vor Benoît Philippe geboren, im Dezember 1859. Er wuchs in der Stadt Białystok an der Grenze des Russischen Reiches auf. Heute liegt Białystok in Polen. Als Ludwig Zamenhof ein kleiner, jüdischer Junge war, wurde in der Stadt Jiddisch, Polnisch, Russisch, Litauisch und Deutsch gesprochen. Ludwig Zamenhof führte die Feindschaft unter den Völkern auf ihre verschiedenen Sprachen zurück. Zamenhof wurde Augenarzt. Er sprach mehrere Sprachen. Mindestens ein Wörterbuch muss er immer unter seinem Arztkittel versteckt haben, das hebräische, lateinische oder griechische. Er wollte den Sprachen an die Wurzel gehen. 1887 veröffentlichte er unter dem Pseudonym „Doktor Esperanto“ –Esperanto bedeutet „Der Hoffende“ – seinen Entwurf einer Lingvo Internacia. Doktor Esperanto war nicht angetreten, die Sprachen der Völker zu verdrängen, sondern sie zu erhalten. Keine Sprache sollte in ihrer Bedeutung über die andere erhoben werden. Esperanto war als Brücke der Verständigung gedacht. Der jüdische Augenarzt hatte eine politische Bewegung ins Leben gerufen.

Die Idee fand schnell Anhänger. Zeitschriften entstanden, Kongresse wurden organisiert. Dresden hat eine reiche Esperanto-Geschichte. 1908 fand hier der Weltkongress der Esperantisten statt. Die Esperanto-Schriftstellerin Marie Hankel lebte in der Stadt. Heinrich Arnold, Sohn des Kunstmäzen und Bankiers Georg Arnold, an den in Dresden noch heute ein Bad erinnert, engagierte sich für die Verbreitung der Plansprache. Er schrieb das Vorwort für die Esperanto-Ausgabe des Buches „Die Waffen nieder!“ von Bertha von Suttner, mit der er auch befreundet war. Zeitgenossen berichten, dass er auf seiner Strandburg an der Ostsee die grüne Flagge der Bewegung hisste. In den Zwanzigerjahren lernten sogar die Dresdner Polizisten Esperanto, um für den Fremdenverkehr gerüstet zu sein.

Die Nazis verboten die pazifistische Sprache. In der DDR wurden erst wieder Mitte der Sechzigerjahre, nach dem Ende der Stalinzeit, Kurse an Volkshochschulen und in Betrieben angeboten.

Heute ist von dem einstigen Enthusiasmus nichts mehr in der Stadt zu spüren. Es gibt einen Stammtisch und einen Freundeskreis Esperanto, den der Leiter des Dresdner Esperanto-Archivs ins Leben gerufen hat. Zwei Lehrer fallen Benoît Philippe ein, die wie er Esperanto in Dresden und dem Umland unterrichten.

Die Weltsprache ist Esperanto eben nicht geworden. Man schätzt, dass es fünf Millionen Sprecher weltweit gibt, genaue Zahlen sind nicht bekannt. Die Schätzung beruht auf einem Vergleich der Wikipedia-Einträge auf Esperanto mit denen anderer Sprachen.  So betrachtet, liegt Esperanto irgendwo zwischen Dänemark und Litauen. In Litauen leben über drei Millionen, in Dänemark zirka fünf Millionen Menschen. Die aktiveren Esperanto-Gruppen findet man in den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Es sind junge Intellektuelle, die in der Geburtsstadt Zamenhofs den Fernsehsender Bjalistoko Esperanto betreiben.

Esperanto ist heute zu einem Sprachsport geworden, ausgeübt von Sprachbegabten bei regionalen und weltweiten Treffen. Doch was motiviert zum Lernen? Esperanto hat keine Landschaft, kein Haus, kein Lied. Benoît Philippe würde sagen: Esperanto hat alle Landschaften, alle Häuser alle Lieder. Doch das läuft auf dasselbe hinaus. Die Entscheidung für eine Sprache erfolgt aus Notwendigkeit oder Liebe. Es ist heute nicht notwendig, Esperanto zu lernen. Wen oder was lieben Menschen, die sich für Esperanto entscheiden? Eine Idee? Ein Spiel?

Jonne Saleva ist ein Austauschschüler aus Rovaniemi, der Hauptstadt Lapplands. Er ist siebzehn Jahre alt. In seiner Muttersprache spricht man das „o“ in seinem Namen weder kurz noch lang. Man hält das „o“ ein wenig, man schaukelt es wie ein Baby, bis der Name eine kleine, unbekannte Melodie erzeugt, die es sonst in keiner anderen europäischen Sprache gibt. Man muss das üben. Es hilft, sich einen dunklen Wintertag in Lappland dabei vorzustellen. Es hilft, sich ein Haus in das verschneite, flache Land zu denken und darin ein Feuer.

„Es war komisch, allein Esperanto  zu lernen, ohne zu wissen, wofür“, erzählt Jonne. Sein Deutsch hat einen starken sächsischen Einschlag. Er hat die Besonderheiten dieses Dialekts längst analysiert. „In Lappland gibt es nur zwei Leute, die Esperanto sprechen: Mein Lehrer Pekka und ich. Eines Tages rief Pekka an und sagte, dass sein Freund aus Japan da sei. Dieser Japaner sprach nur Japanisch und Esperanto. Es war das erste Mal, dass ich jemanden traf, mit dem ich mich nur auf Esperanto verständigen konnte. Das war großartig.“

Zum zweiten Mal besucht Jonne den Stammtisch der Dresdner Esperantisten. Benoît Philippe organisiert die Treffen im „Neustädter Diechl“, einem Restaurant in der Äußeren Neustadt, dem Szeneviertel Dresdens. Überwiegend ältere Herren sind um die Tafel versammelt. Als Jonne gegen neun Uhr im Gastraum sein Hütchen lüftet und die graue Filzjacke auf das Kanapee wirft, machen sich die ersten Besucher bereits auf den Heimweg.

Die meisten der Akademiker beherrschen wie Jonne zwei oder mehr Sprachen perfekt. Ein stämmiger Lateinlehrer mit dunklen Haaren und breiten Hosenträgern spricht fließend Spanisch, Russisch und Arabisch. Jetzt lernt er Chinesisch und unterrichtet das auch schon an seiner Schule. Sein Tischnachbar hat in der DDR Ökonomie studiert. Seit vielen Jahren ist er arbeitslos. Langeweile hat er nicht. Er übersetzt Computerprogramme ins Nieder – und Obersorbische. „Um die Sprachen zu pflegen“, sagt er.

Ein buntes Hündchen mit spitzer Nase wedelt um den Tisch, wenn wieder ein knuspriges Bauernfrühstück oder ein Schnitzel serviert wird. In dieser Runde passiert es, dass die Männer aus dem Esperanto heraus ins Sächsische fallen. Je weiter sie von Benoît Philippe entfernt sitzen, desto ausgiebiger. Mi krokodilas – ich krokodiliere, sagen Esperantisten, wenn sie miteinander in ihrer Landessprache sprechen. An diesem Abend kämpft Benoît Philippe nicht allein gegen das Krokodilieren. Sein langjähriger Freund Hubert Schweizer, ein Heilpraktiker und altkatholischer Priester, sitzt am anderen Ende des Tisches. Die beiden achten darauf, dass am Tisch nicht wieder von der Aufgabe des Abends abgewichen wird. Doktor Philippe hat eine Liste mit Wörtern vorbereitet, für die es noch keine Entsprechung auf Esperanto gibt, das Wort „piercing“ beispielsweise. „Korpo traboraga“, lautet ein Vorschlag, der durchbohrte Körper, „pikornamo“ ein anderer, Stechschmuck. Man plaudert über die Traditionen des Piercing auf anderen Kontinenten, -es scheint ein spaßiges Thema zu sein- und diskutiert, ob eher das Verb bohren oder pieken zutrifft. Die erarbeiteten Übersetzungs-Vorschläge schickt Benoît Philippe nach Leipzig, an den Herausgeber des Wörterbuch Deutsch-Esperanto, Professor Erich-Dieter Krause. Um die Auflage des Werkes wird ein kleines Geheimnis gemacht. Der Verlag will nur verraten, dass sie irgendwo zwischen 1000 und 3500 Exemplaren liegt. Eine ähnliche Zahl liest man auch über den Weltbund der Esperantisten: 1300 Deutsche sind dort als Mitglieder erfasst.

Am nächsten Montag wartet Doktor Philippe wieder vor Zimmer 104 auf seine Schüler. Jonne steht neben ihm und knetet seinen Hut. Fast alle kommen, um den Gast aus Lappland kennenzulernen: Sophie, Vivien, Felix, Carolin und Janek. Jonne soll etwas über seinen Alltag in Finnland erzählen. Doktor Philippe hat bereits eine Finnland-Karte aus dem Geographie-Kabinett geholt. Pia hat abgesagt. Sie muss zur Orchesterprobe. Sie denkt sowieso darüber nach, die AG aufzugeben. Sie möchte sich stärker auf Englisch konzentrieren.

Kathrins Notiz-Blog 5. April 10

© Illustration Liane Heinze

Leon war seit Stunden in seiner Garage verschwunden. Es war kalt. Es regnete. Ich saß im Fensterrahmen. Die Heizung bullerte unter meinem Po. Die SISUSTA! hat mir Lust gemacht, Räume zu entwerfen, zu kaufen, was ich will, ohne Limit, eine Werkstatt zu haben, in der ich aus aufgegebenen, verlorenen, weg geworfenen Objekten etwas Neues gestalte. Ich möchte losgehen und Dinge suchen, alte Möbel, Holzstücke, Metall, Plastikschnipsel, auf Böden und in Kellern stöbern, wie ich es als 16jährige gemacht habe, auf ein Dorf fahren und die Leute überreden, mir ihre Häuser und Wohnungen zu zeigen. Statt hier zu sitzen und mir die Hände an einer Tasse Tee zu wärmen.

Ich zog meinen dicken Anorak an, packte Mütze und Handschuhe und etwas Proviant ein.

Leon scrollte die Angebote auf Ebay durch.

„Ich fahre in die Uckermark. Spätestens mit dem letzten Zug komme ich zurück.“

Ich nahm die Wochenendausgabe der Zeitung mit, las aber nicht. Die ganze Fahrt lang döste ich aus dem Fenster.

Der Bahnhof von Wilmersdorf ist wie viele Bahnhofsgebäude dem Verfall preisgegeben. Es ist ein schönes, altes Haus aus roten Ziegeln. An seiner Fassade sind die Kilometerzahlen bis Berlin und Greifswald angegeben, ein nostalgisches, hellgraues Zahlenrelief: 156,5 km bis Greifswald, 86,5 km bis Berlin.

Vier Bahnsteige sind über eine Brücke miteinander verbunden. Auf der Brücke warnte ein rot-weißes Schild vor einer bröckelnden Stufe.

Die Bahnhofsstraße, eine holprige Allee, kaum genutzt, drückt sich in die Wiesen, in die Nähe des Waldes, führt in einem schüchternen Bogen zu einer kleinen Ansammlung von Häusern. Auf der anderen Seite des Dorfes rauscht die Bundesstraße entlang, dekoriert mit gelben und blauen Schildern, die Orte ankündigen und die nahe Autobahn in Richtung Berlin und Stettin, in Klammern Szczecin. Die Vergangenheit besaß auf diesem Schild Gültigkeit. Die Gegenwart war in Klammern gesetzt. Das Schild erinnerte mich daran, dass ich in einem Land, das Orte und Zeiten so behandelt, eigentlich nicht leben möchte.

Ich lief entlang der Bundesstraße. Ich war wütend, weil ich so viel Geld für eine Fahrkarte nach Wilmersdorf bezahlt hatte, ein ganzes Tagesbudget für wenige Stunden. Ich fühlte mich allein. Ich bog in einen Waldweg ein und lief und lief, bis sich die Landschaft endlich vor mir öffnete. Die rötlichen Baumkronen am Horizont faserten in die violetten Streifen des Himmels aus. Davor lagen Felder und Seen, die noch Eis atmeten, auch sie von einem roten Licht bedeckt. Der Frühling war zart wie Anfang März. Er wehte leicht und kalt von der Ostsee herein. Ich rief Leon an. „Ich möchte, dass du das siehst. Kommst du?“ Er seufzte düster.

„Es ist magisch schön“, sagte ich. Was für ein Blödsinn! Dieses Bild ließ sich nicht beschreiben. Er machte ein knappes, zustimmendes Geräusch. „Die Arbeit frisst mich auf.“

„Wir können später mal mit den Rädern herkommen“, schlug ich vor.

„Es passiert gerade sehr viel“, sagte Leon. „Ich habe jemanden getroffen. Wir wollen einen Internet-Handel für Retro-Bikes aufziehen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Er entschuldigte sich dafür, in nächster Zeit viel reisen zu müssen.

„Das ist wunderbar“, sagte ich. Er machte wieder dieses knappe, zustimmende Geräusch.

Dass er nicht bei mir war, nicht sah, was ich sah, tat weh, fast wie ein Trennungsschmerz.

Auf dem Rückweg scheuchte ich am Bahnhof zwei große Katzen aus ihrem Versteck. Sie hatten im Windschatten des Schuppens gegenüber gehockt. Eine Lampe klickte an, beleuchtete spärlich den Bahnsteig. In einem der oberen Fenster des Bahnhofsgebäudes brannte Licht. Ich lief zurück, fand den Eingang der Wohnung, ein Namensschild. Durch das Schlüsselloch stank es nach Katzenpisse. Kunstblumen standen auf einem kleinen Tisch im Flur, daneben eine Yuccapalme. Ich fasste mir ein Herz und klingelte. Nichts geschah. Ich klingelte noch einmal. Minuten vergingen, dann polterte jemand die Treppe hinab. Ich trat ein Stück von der Tür zurück. Ein Biker mit strähnigen Haaren öffnete. Er musste um die Fünfzig sein. Sein Bauch quoll über den Bund der schwarzen Lederhose. Er schob die Hemdsärmel hoch, legte die tätowierten Unterarme frei. Er wirkte verlegen. Ich entschuldigte mich und fragte, ob es möglich wäre, den Bahnhof zu besichtigen. „Ich bin Architektin“, log ich.

„Schon wieder eine Architektin?” Er strich die Haare hinter die Ohren. „Das nächste Mal verlange ich Eintritt.“

„Sie passen auf den Bahnhof auf, ja?“

Er antwortete nicht, verschwand. Ich wartete. Es dauerte einige Minuten, dann kam er mit dem Schlüssel. „Bringen sie ihn zurück, wenn Sie fertig sind”, sagte er.

Der Zug nach Berlin fuhr in Bahnsteig zwei ein, auf der anderen Seite der Brücke.

Durch die grauen Gardinen und die verdreckten Scheiben der Bahnhofshalle sah ich nur eine Minute später den Zug sich beschleunigen. Dann war es so still, dass man den Staub über den Fußboden wehen hörte. Es hatte ein Bahnhofsrestaurant gegeben und einen Zeitungsladen. Die Türen waren verschlossen.

„Seit wann ist der Bahnhof gesperrt?“, fragte ich den Mann, als ich den Schlüssel zurück brachte. Vielleicht würde ich erfahren, ob er der Sohn oder Schwiegersohn, ob er seine Eltern Ostern besuchte, ob sie noch lebten. Ich hatte noch viel Zeit bis zum nächsten Zug. Vielleicht würde er mir einen Kaffee kochen. Ich war bereit, mich mit ihm über seine Harley zu unterhalten, über die nächste Kneipe oder ein Konzert, was auch immer er zu erzählen hatte, nur, um nicht allein zu sein.

„Keine Ahnung.” Er lehnte in der Wohnungstür. Es roch nach angebranntem Käse. Über seiner Schulter glänzte ein Stück Schrankwand. Unter seinen Achseln lagen Spitzendeckchen und Kunstblumen auf dem Fensterbrett. Der Fernseher lief. Vielleicht war seine Mutter kürzlich verstorben und er plötzlich ganz allein mit den Spitzendeckchen und den Kunstblumen. Vielleicht hatte er seine Einsamkeit noch gar nicht bemerkt.

Ich schlenderte über die Bahnsteige, studierte lange den kleinen Fahrplan und lief schon zwanzig Minuten vor dem nächsten Zug nach Berlin über die Brücke, um ihn ja nicht zu verpassen.

Jolanda hatte eine SMS geschrieben. Frühling nervt.

Verkriech dich einfach hinter deinen Büchern, empfahl ich ihr.

Wenn der Frühling nicht so nerven würde, schrieb sie.

Seit der kaputten Waschmaschine hatte ich Jolanda nicht gesehen. Ich schlug ihr ein Treffen vor.

Ziemlich verfroren und hungrig kam ich zu Hause an. Leon saß immer noch in der Garage. Er schaute nicht auf, als ich ihm einen Kuss in den Nacken gab.

„Ich habe Falafel mitgebracht.“

Er hob den Blick vom Monitor. „Gut, ich bin am Verhungern.“

„Warte.“ Ich lief nach oben und holte ein paar Kerzen. „Die ganze Uckermark war mit Osterfeuern getupft, überall, wo Häuser stehen, loderte ein kleiner Haufen Reisig.“ Wir saßen auf der Werkbank. Der Luftzug brannte die Kerzen schief.

„Wir sind wie diese Kerzen”, sagte Leon. „Wir flattern auseinander.” Wie er in die Flammen schaute, das machte mir Angst. Es war die Angst, dass wir in unserer Verschiedenheit diesem Leben nicht gewachsen sein und aneinander wahnsinnig werden könnten.

„Ich möchte mit dir gemeinsam etwas aufbauen“, sagt er. Es klang wie eine Drohung.

„Ich auch“, sagte ich, aber ich wollte nicht schon wieder über das Auswandern sprechen. Keine Chance.

„Wir sollten weggehen aus Berlin“, sagte Leon.

„In die Uckermark?“

„Weiter weg.“

„Warum?“

„Warum nicht?“

„Weil Fernumzüge anstrengend und teuer sind. Ein riesiger Aufwand, nur um nach einem halben Jahr festzustellen, dass die Menschen anderswo dieselben Probleme haben wie wir.“

„Wir sollten uns ein Zuhause schaffen, einen Ort, an dem wir etwas Gemeinsames aufbauen, einen Ort, an dem wir ankommen können.“

„Warum müssen wir dafür weggehen?“, sagte ich. „Dieser Ort könnte hier sein. Er kann überall dort sein, wo wir sind. Wir sind dieser Ort.“

„Diese Garage fällt mir auf den Kopf. Berlin schnürt mir die Luft ab“, sagte Leon.

„Diese Arbeit mit Kolja…”, wandte ich ein. „Ich lerne gerade sehr viel. Sein Projekt ist mir wichtig.“

„Und wenn man dir irgendwann einen Job als Innenarchitektin anbietet, 600 Kilometer von hier entfernt? Würdest du ihn annehmen?“

„Das ist etwas anderes“, sagte ich.

„Wieso?“

Er saß auf dem Sprung. Seine Augen quollen aus dem Halbdunkel der Garage.

„Ich glaube nicht, dass ich diesen Job annehmen würde. Ich möchte hier bleiben. Bei dir und Jolanda.“