Ousmane und die Löwen

Berliner Zeitung

Letzte Woche war Ousmane wütend. Corinne Hofmann, die Autorin des Buches „Die weiße Massai“ war zu Gast in einer Talkshow. „Ich bin jetzt fünf Jahre in Deutschland“, sagt Ousmane, „aber ich würde nicht auf die Idee kommen, ein Buch zu schreiben „Der schwarze Deutsche“. Man kann eine Kultur so schnell gar nicht völlig verstehen. Niemals ist sie nach vier Jahren in Kenia eine „weiße Massai“.
Ousmane rief in der Sendung an. Er wollte mit Corinne Hofmann sprechen. „Ich kann Sie gut verstehen“, sagte die Dame am Telefon. „Aber Sie können jetzt nicht auf Sendung.“

Wenn Ousmane davon überzeugt ist, dass etwas richtig oder falsch ist, gibt er so schnell nicht auf. Er diskutiert. Er argumentiert. Er lässt nicht locker.

Es half nichts. Er durfte nicht auf Sendung. Die Dame am Telefon mag sich den Schweiß von der Stirn getupft haben, als sie Ousmane Doudou Diallo endlich wieder losgeworden war.

Ousmane schlitzt die Folienhülle des Gitterwagens im Bio-Supermarkt mit einem Cutter auf und sortiert geschwind Bierflaschen ins Regal. „Die Deutschen streiten nicht gern“, sagt er. „Sie fühlen sich sofort persönlich angegriffen. Es ist schon vorgekommen, dass Leute mich nicht wieder treffen wollten, nur weil ich es gewohnt bin, meinen Standpunkt zu verteidigen.“ In anderen Ländern sei das anders, in Frankreich und Guinea zum Beispiel. Da streiten die Leute gern. Sie lieben Provokationen.

Er knüllt die Folienhaut zusammen und wirft sie auf den leeren Wagen. Ousmane arbeitet gern im Bio-Supermarkt. „Diese Arbeit zu finden war, als hätte ich den Jackpot geknackt“, sagt er. Das Bioteam fördert ihn. Sie dürfen „Schokomann“ zu ihm sagen. Die Kunden behandeln den schwarzen Kassierer besonders höflich.

Und niemand fragt nach Löwen. Als Ousmane vor fünf Jahren nach Deutschland kam, haben ihn erwachsene Menschen manchmal gefragt, ob es da, wo er herkommt, Löwen gibt. Als hätten sie ihr einziges Wissen über Afrika aus einem Bilderbuch für Dreijährige. Diese Fragen haben Ousmanes Gefühl der Fremdheit noch verstärkt.

Ousmane Doudou Diallo ist in Kamsar in Guinea geboren, einer modernen Hafenstadt an der Atlantikküste. Kamsar zählt ungefähr achtzigtausend Einwohner.

Für guineeische Verhältnisse ist seine Herkunft privilegiert. Das Leben in Kamsar, wo die Menschen früher vom Fischfang lebten, wird seit den Siebzigerjahren von der CBG, der Company of Bauxit Guinea, beherrscht. Die Hälfte aller Weltvorräte an Bauxit lagern in Boké, der Präfektur, zu der die Stadt Kamsar gehört. Vom dort aus wird das Bauxit in die ganze Welt verschifft.Ousmanes Eltern arbeiten bei der CBG. Die Angestellten genießen viele Sozialleistungen, die in Afrika unüblich sind, Krankenversicherungen zum Beispiel.

Doch als Ousmane sein Mathematikstudium in der Hauptstadt Conakry abschloss, wusste er, dass es in Guinea keine Zukunft für ihn gibt.

„In Europa hat jeder eine Chance“, sagt Ousmane. Er sortiert Fruchtsäfte und Limonaden ins Regal. „In Guinea findet nur Arbeit, wer einflussreiche Freunde hat.“

Ein Praktikum bei der CBG konnten seine Eltern – die Mutter ist Sekretärin, der Vater Buchhalter – noch vermitteln, doch um ihrem Sohn eine bezahlte Anstellung zu verschaffen, reichte ihr Einfluss nicht aus.

In den letzten Jahren übernahmen zunehmend Schwarze die führenden Positionen bei der CBG. Ousmane sieht den Prozess der sogenannten Afrikanisierung auch kritisch. „Wenn in Afrika jemanden einen guten Job hat, erwartet die Familie, dass er für andere, die weniger haben, sorgt. Auf jeden gut verdienenden Afrikaner kommen ungefähr fünfzig Arbeitslose in der Familie. Die Afrikanisierung könnte eine Chance sein, aber die Leute denken zuerst an sich und ihre Familien und erst danach an die Firma. Viele Sozialleistungen sind in den letzten Jahren abgeschafft worden. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten würde. Vielleicht würde auch ich in die eigene Tasche arbeiten, um meiner Familie zu helfen.“

Afrikanisierung heißt nicht, dass die CBG nun den Guineesen gehört. Die Gewerkschaften des Landes kämpfen darum, dass ein paar zusätzliche Brotkrumen vom Tisch der internationalen Konzerne fallen und den Menschen im Land zugute kommen, statt dass korrupte Regierungsbeamte sie wegschnappen und in ihren Clans aufteilen.

Im Februar war Ousmane wieder wütend. Die von den guineeischen Gewerkschaften organisierten Generalstreiks waren keiner deutschen Nachrichtensendung eine Meldung wert. Auch dann nicht, als sie sich zu Unruhen ausweiteten, das Militär eingriff und Tote zu beklagen waren. „Gäbe es nicht das französische Fernsehen und das Internet, hätte ich überhaupt nicht erfahren, was bei uns zu Hause los ist.“

Ousmane verfasste einen Brief an die ARD. Deutschland erwarte von den Migranten, dass sie sich für die Kultur und Politik des Landes interessieren. „Aber wann beginnen Sie, sich für Afrika zu interessieren?“

Die ARD antwortete, man plane eine längere Reportage über Westafrika. Einige Wochen später berichtete der „Weltspiegel“ über die Streiks in Guinea.

„Die meisten jungen Afrikaner haben eine völlig falsche Vorstellung von Europa“, sagt Ousmane. „Sie glauben, das Geld liegt hier auf der Straße.“

Er hätte gern Informatik studiert. Die Ausländerbehörde räumt Migranten zwei Jahre ein, um einen Studienplatz zu finden. Als es mit dem Studium nicht sofort klappte und man ihm nahelegte, erst einmal einen Sprachkurs zu besuchen, weinte Ousmane. „So wird das nichts“, sagte sein Freund. „Hier musst du hart sein. Mit Tränen kommst du nicht weit.“

Bewerbungen, Absagen, die Angst vor dem Briefkasten, die Angst vor dem Kontostand. Das Geld, das seine Eltern über viele Jahre für ihn beiseite gelegt hatten, war schnell verbraucht. Die Mutter konnte nicht fassen, wie teuer die Mieten und das Essen in Europa sind.

Kurz vor Ablauf der zwei Jahre beginnt Ousmane ein Mathematik-Studium an der Humboldt-Uni. Jetzt darf er auch eigenes Geld verdienen. Am Wochenende putzt er den Bio-Supermarkt. Später hilft er manchmal an der Kasse aus. Im letzten Jahr brach er sein Studium ab und stieg als Verkäufer ins Biogeschäft ein.

Jetzt ist Ousmane zweiunddreißig Jahre alt und führt ein typisches Berliner Familienleben. Er ist verheiratet. Sein Sohn wird bald drei Jahre alt. Manchmal laden die Schwiegereltern zur Grillparty in den Garten nach Brandenburg ein.

„Ja, schwarze Männer sind Machos“, sagt Ousmane. „In Afrika betreten sie die Küche nicht.“ Er jedoch sei durch das Beispiel seines Vaters bestens auf eine moderne Ehe in Europa vorbereitet worden. „Mein Vater hat manchmal für uns Kinder gekocht. Er musste, weil meine Eltern beide arbeiteten. Es war ihm peinlich vor den Nachbarn, aber mir ist er ein Vorbild geworden. Ich habe kein Problem, für meine Familie zu kochen.“

Neulich sind sie übers Wochenende an die Ostsee gefahren. Das erste Mal. Er hatte Angst. „Wenn du hörst, dass sie dort Schwarze verhauen…Aber nichts ist passiert“, sagt er, erleichtert, fröhlich, wie nach einer bestandenen Prüfung, einer Prüfung für das Land seiner Wahl. Stundenlang seien sie am Strand spazieren gegangen. „Die Leute waren alle superfreundlich.“

Und niemand hat nach Löwen gefragt. Ousmane beobachtet, dass die Gesellschaft sich verändert. Was seinen Sohn betrifft, macht er sich keine Sorgen. „Wenn er in die Schule kommt, wird es in Deutschland kein Thema mehr sein, woher jemandes Eltern kommen und ob einer schwarz oder weiß ist.“

Aber Killés Freunde werden wissen, dass er Großeltern in Kamsar hat und dass dort keine Löwen durch die Straßen laufen, sondern Autos fahren. Wie in Berlin.

 

Advent in Paris

Berliner Zeitung

Wir müssen nur rasch eines unserer Kinder vom Flughafen Orly in Paris abholen. Dauert nicht lange. Morgen sind wir wieder da.

In diesem Jahr werden wir zu dritt Weihnachten feiern, so richtig mit Geschenken, Baum, selbst gebackenen Plätzchen und Kinderoper.

Quentin lebt in Südamerika, nicht weit vom Äquator. Er hat uns geschrieben, dass er sich auf den Schnee in Europa freut.

Am Gare du Nord krachen die Flügeltüren der Metro hinter uns zu. Wir sind drin. Im Strom der Menschen strudeln wir die Rolltreppe hinab. Unten empfangen uns uniformierte Kontrolleure. Sie legen den Finger an die Mütze und fordern uns auf, die Billets zu zeigen. Schnell muss das gehen, sonst bildet sich ein Knoten.

Weiter durch zugige Gänge. Ein Schwarzer streitet mit einem arabischen Zeitungshändler. Rolltreppen rauf. Rolltreppen runter.

In der Metro schimpft ein junger Mann auf die Kontrolleure. Es sei schließlich nicht seine Schuld, dass die Drucker oben nicht funktionierten. „Sehen Sie sich das an. Nichts.“ Er weist auf den Rand des Schnipsels, wo normalerweise der blaue Zifferncode des Entwerters landet. „Das machen die mit Absicht“, ruft ein älterer Herr. „Haben die Ihnen etwa Geld abgeknöpft?“ Der junge Mann hält eine Rechnung über die Köpfe in Richtung des älteren. „Zahlen Sie auf keinen Fall. Man darf sich das nicht bieten lassen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas.“ Die beiden steigen an der nächsten Station aus, schlendern gestikulierend über den Bahnsteig, ungeachtet der Menschen, die ihnen entgegen zum Zug hasten.

Unser Hotel liegt am Place de la Nation. Wir steigen in den ersten Stock hinauf, schieben den Wäscheberg vor der Tür beiseite und treten in unser Zimmer. Zum Glück haben wir nicht viel Gepäck. Quentin kommt morgen früh. Zwei Koffer würden vermutlich nicht in das Zimmer passen. Zumindest, wenn man das Bad noch erreichen will.

Kurz nachdem wir uns aufs Bett geworfen haben, erreicht Antoine ein Anruf aus Südamerika. Quentin kommt einen Tag später. Alle Flüge sind nach hinten verschoben, weil es gestern in Paris ein Unwetter gegeben hat.

Im Foyer des Hotels beraten wir, was zu tun ist. Das künstliche Feuer im Kamin flackert wie eine sterbende Glühlampe.

Wir telefonieren mit unseren Chefs. Zum Glück ist niemand verärgert. Für Unwetter haben alle Verständnis. Kann jedem passieren. Der Student an der Rezeption verlängert unser Zimmer um einen Tag. Jetzt müssen wir nur noch den Mietwagen umbuchen. In der Autovermietung auf dem Flughafen Orly meldet sich niemand. Wir versuchen es wieder und wieder. Wir rufen die Station in Berlin an. „Kein Problem“, sagt der Mann in Berlin. „Natürlich können Sie umbuchen. Rufen Sie die Kollegen in Orly morgen früh wieder an.“

Ein Tag in Paris. Wir schlendern die Straße hinab. Der Strom der Passanten verdichtet sich, je mehr wir uns den großen Kaufhäusern und glamourösen Läden der City nähern. Ehe wir uns versehen, sind wir in den Strom der Käufer eingeklemmt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Wir werden in das glitzernde Foyer eines Kaufhauses gesogen und durch parfümgesättigte Luft in Richtung Rolltreppe gedrängt. Auf den Förderbändern stehen die Menschen so dicht, dass keine Stecknadel mehr zu Boden fallen kann. Aber unter dem halbrunden Geländer in der zweiten Etage, auf dem Übergang zwischen zwei Rolltreppen, liegt ein blauer Wollhandschuh.

Der Mann, der ihn verloren hat, sucht vermutlich draußen auf der Straße in seinen Taschen, bleibt stehen, wird angerempelt, beschimpft, weiter geschoben.

Es ist zu eng, um sich nach dem Handschuh zu bücken. Was sollte man auch damit tun? Sich im Gewühl zu einem der überlasteten Verkäufer schubsen? Vielleicht hat der Besitzer des Handschuhs selbst bemerkt, als er ihn fallen ließ, konnte ihn aber nicht aufheben, weil er weiter geschoben wurde, ins nächste Stockwerk, zu den Stapeln glitzernder Weihnachtsdekorationen, den Bündeln bunter Bestecke, Säcken voller Ausstechformen, Stapeln von Pfannen, Tiegeln und Töpfen.

Wahrscheinlich hat er sich gewehrt. Sehen Sie nicht meinen Handschuh? Was sind Sie für ein Egoist! So machen Sie doch Platz! Was heißt hier: Rolltreppe? Ziehen Sie die Notbremse! Sie wissen nicht, wo die ist? Dann rufen Sie die Feuerwehr. Machen Sie schon!

Digital-Kameras, Telefone, Flachbildschirme, Verstärker in Edel-Design, Retro-Radios, das Iphone…Die Luft wird knapp. Wir taumeln entkräftet nach draußen, an ineinander verkeilten Reisebussen vorbei durch Hupkonzerte, im machtvollen Pulk der Fußgänger über rote Ampeln. Die Sirene eines Krankenwagens heult vergeblich gegen den Stillstand im Kreisverkehr.

Für kurze Zeit entkommen wir der Masse in tote Nebenstraßen, bis wir auf einem großen Boulevard wieder in die Orgie eintauchen.

Hier flanieren Bourgois durch luxuriöse Einrichtungsläden. Geduldig warten sie an der Kasse. Sie kaufen Plastikleuchter in ausladenden Formen und schrillen Farben, Tischdekorationen aus Straß, goldene Teller, silberne Schüsseln, Flitter-Flatter, stilisierte Weihnachtsbäume aus Sperrholz und Stahlrohr und kartonweise blau funkelnde Glaskugeln. Hinter der Kasse lassen sie sich goldene Schleifen um den Edelkitsch binden. Das dauert Stunden. Stunden, in denen sie sich mit dem Personal am Packtisch über die Trends austauschen und darüber, wie sie im letzten Jahr mit wem und wo und dass es im Grunde jedes Jahr dasselbe, aber diesmal doch anders…

Die Designläden sind randvoll gefüllt mit Zen. Zen, das sind japanische Büroartikeln und Seifenspender. Zen sind Platzdeckchen und minimalistischer Baumschmuck. Ein Werbespot auf einer Großleinwand verspricht Zen sogar in einem Joghurt.

„Du warst noch nie in den Galeries Lafayette?“, fragt Antoine. „Nein“, sage ich. „Es hat mich nicht interessiert.“

„Du musst dir das Haus unbedingt ansehen.“ Antoine zieht mich weiter, vorbei an pelzgemäntelten Damen vor luxuriösen Auslagen. Das Publikum fasert auf die Straße aus, weil die Bürgersteige zu schmal sind. Polizisten auf Fahrrädern winken die Autos an dem Konsum-Tross vorbei.

Über uns wölbt sich die goldene Kuppel des Kaufhauses. „Möchtest du etwas? Ein neues Parfüm? Ich schenke es dir zu Weihnachten“, sagt Antoine. Ich schüttele den Kopf. Es ist zu laut zum Reden. Es ist zu viel zum Wünschen. Zum Glück gibt es mehrere Ausgänge.

Wir pressen uns in eine Metro und fahren zurück zum Hotel.

Am nächsten Morgen erreicht Antoine die Autovermietung auf dem Flughafen. Er sitzt auf dem Barhocker vor dem Internet-Computer im Foyer des Hotels. Ich habe mich neben die Kaminfunzel zurückgezogen und blättere in einem Einrichtungsmagazin. Es zieht mich zu den Zen-Tempeln. Vielleicht kaufe ich den Weihnachtsbaum aus Stahlrohr.

Eine kleine, blonde Frau tritt aus dem Fahrstuhl. Sie ist mit nichts außer einem Spitzenhemdchen und einem Handtuch um die Hüften bekleidet. „So etwas ist mir noch nie passiert“, schimpft sie. Der Student an der Rezeption blickt über den Tresen. „Mein Zimmer ist nicht gemacht. Ich habe es eben beim Duschen bemerkt.“ Sie bleibt mitten im Foyer, vor der Eingangstür, stehen. Sie ist barfuß. Ihre Haare sind mit Klemmen hoch gesteckt.

Der Mann an der Rezeption entschuldigt sich und fragt nach ihrer Zimmernummer.

Antoine scheint Schwierigkeiten mit der Autovermietung zu haben. „Was heißt, es geht nicht?“, ruft er in den Hörer. „Wieso geht es denn nicht? Haben Sie nur das eine Auto? Ich dachte, Sie wären eine der größten Autovermietungen Europas.“

„Ich möchte sofort den Hotelbesitzer sprechen“, zetert die Blondine.

Die Hoteldirektorin, eine drahtige Frau in den Fünfzigern, schlendert ins Foyer. „Es sind Haare in der Dusche“, beschwert sich das Mädchen. „Das ist widerlich.“

„Das Zimmer ist gemacht“, gibt der Junge an der Rezeption gelassen zurück. „Ich habe mit dem Service gesprochen.“

„Sie sollen sich die Dusche noch einmal anschauen“, weist die Dame des Hauses ihn an.

„Das ist alles?“, faucht das Mädchen. „Keine Entschuldigung?“

„Ich habe mich entschuldigt, Madame“, sagt der Student.

Die Hoteldirektorin schüttelt nervös ein Schlüsselbund. Sie grinst in meine Richtung.

Hinter mir kämpft Antoine immer noch mit der Autovermietung. „Sie sind zuerst laut geworden, Monsieur. Ich habe nur eine Frage gestellt. Eine ganz normale Frage. Meine Frage: Wieso können Sie den Wagen nicht einfach bis morgen stehenlassen? Haben Sie keine Parkplätze? Ihre Kollegen in Berlin…“

„Wir schauen uns die Dusche jetzt noch einmal an und bringen das in Ordnung.“

„Jedenfalls ist es das letzte Mal, dass ich hier war.“ Das Mädchen zieht ein Telefon unter ihrem Handtuch hervor.

„Sie sind frei.“ Die Direktorin zuckt die Schultern. Das Mädchen tippt mit spitzen Fingernägeln eine Nummer. Sie beschimpft ihr Opfer, das absolut mieseste Hotel in ganz Paris für sie gebucht zu haben. Sie droht Maßnahmen an.

Die Hotel-Dame macht auf dem Absatz einen Schwenk und verdreht die Augen.

„Ich möchte ihren Vorgesetzten sprechen“, verlangt Antoine. Ich überlege, wo in unserer Wohnung der Zen-Baum am besten zur Wirkung käme.

„Wieso spät?“, ruft Antoine. „Es hat einen Sturm gegeben. Alle Flüge sind verschoben. Das müssen Sie doch gemerkt haben.“

Nach weiteren zwanzig Minuten Diskussion reserviert man uns einen Wagen am Gare du Lyon.

Die Blonde krakeelt noch im Aufzug in ihr Telefon.

Am nächsten Tag stehen wir auf, als die erste Metro unter unseren Betten entlang rumpelt. Im Stau auf der Autobahn rücken wir langsam an die Peripherie der Stadt. Motorradfahrer wedeln im Slalom zwischen den sechsspurig schleichenden Autos. 

Vor der Abflughalle Orly West tummeln sich karibisch bunte Menschen. Quentin kommt. Schmal und sehr weiß. „Wo ist der Schnee?“, fragt er.

Auch in Berlin liegt kein Schnee. Dafür ist es ruhig wie in einem Kurort. Die Eisbahn neben der Oper haben wir fast für uns allein. Wenige Fußgänger schlendern Unter den Linden entlang. Sie meditieren an roten Ampeln vor freien Straßen. Die Karussells auf dem Weihnachtsmarkt drehen glitzernde Runden. Der Fernsehturm blinkt in den Abend. Berlin ist Zen.

  

Berliner Notiz-Blog 21. November 2007

Die Oderberger Straße liegt im Berliner Szenebezirk Prenzlauer Berg. Im Sommer gleicht die Straße einem Garten. Die Biotope der Laden –, Cafébetreiber und Anwohner wuchern in Kübeln, Kisten und mit kleinen Steinmauern umfriedeten Beeten auf den breiten Bürgersteigen. Überall sind Lese- und Party- Plätze in das Grün installiert. Die Bewohner der Oderberger Straße haben sich ein Umfeld geschaffen, das ihren Lebensstil repräsentiert und andere daran teilhaben lässt.

Jetzt sollen die holprigen, noch aus DDR-Tagen stammenden Bürgersteige auf Westniveau geklopft werden. In zwei Jahren werden Bagger anrücken.

Politiker ordneten an, das Grünzeug zu beseitigen.

Doch die Bürgerinitiative BIOS (Abk. für Bürgerinitiative Oderberger Straße) verteidigte die selbst kreierten Gärten und Plätze gegenüber den Plänen des Bezirksamts. Mit Erfolg.

Damit sie auch in Zukunft ihre Straße mit gestalten können, empfiehlt der Architekt Professor Rainer W. Ernst, Leiter des Beratungsausschusses Kunst des Berliner Senats, die Straße unter das Copyright der Anwohner und Gewerbetreibenden zu stellen.

Ein Gespräch über einen Präzedenzfall, der an alte Traditionen knüpft, über bürgerschaftliches Engagement hier und anderswo, einst und heute.

Professor Ernst, wie entstand die Idee des Copyright für die Oderberger Straße?

R.W.Ernst: Wolfgang Krause, Künstler und Dozent an der Kunsthochschule Weissensee, in der ich den Masterstudiengang „Raumstrategien“ betreue, hat mich zu einem Treffen der Bürgerinitiative BIOS mitgenommen. Krause ist ja seit langem im Kiez um die Oderberger unterwegs, hat dort viele Kunstprojekte organisiert. Er lebt seit vielen Jahren in der Oderberger Straße. Der Fall dieser Straße hat mich sofort elektrisiert.

Das hat es ja noch nie gegeben, dass der von den Anwohnern geschaffene Bestand in die weitere Planung einfließen wird. Jetzt geht es darum, das Vorhandene zu ergänzen, auch zu verbessern.

Die Idee des Copyright entwickelte sich dann im Gespräch. Damit die Rolle der Bürger zukünftig nicht nur darin besteht, die Vorschläge anderer zu kommentieren oder Wünsche in einem Kummerkasten abzuliefern, ist der Gedanke des Copyright ein wichtiges Argument. Er bedeutet, dass die Bürgerinitiative BIOS das Recht bekommt, zu entscheiden, was in Zukunft mit der Straße passiert.

Die Idee des Copyright ist einfach die Anwendung eines Prinzips, in dem sich die Anerkennung für etwas, das gemacht wurde, ausdrückt, so dass sich bestimmte Regeln der Verfügbarkeit daraus ableiten.

Wo kämen wir denn stadtplanerisch hin, wenn das jeder machen würde?

R.W.Ernst: Dieser Fall könnte andere Bürger ermuntern, ähnliches zu schaffen. Warum nicht? Man kann natürlich kein Urheberrecht beanspruchen, wenn man irgendwo einen Baum im Kübel hinstellt. Das Geschaffene müsste einen Wert darstellen, ähnlich dem in der Oderberger Straße.

Das viel Aufregendere ist die Idee, ein Kataster der Patenschaften zu erstellen. Wir streben jetzt Verträge zwischen den Bürgern und dem Senat von Berlin an, in denen Räume und Paten vereinbart werden. Alles, was in diesen Räumen geschieht, ist dann urheberrechtliches Eigentum derer, die es geschaffen haben.

Man muss ja nicht gleich das ganze Stadtgebiet mit einem Kataster der Patenschaften überziehen, das dann gar nicht ausgefüllt wird, aber es wäre erstmalig eine institutionelle Gegebenheit, die das Engagement der Bürger erleichtert.

An der UdK haben Sie in den Achtzigerjahren den Studienschwerpunkt „Bau und Stadtentwicklung in außereuropäischen Kulturen“ initiiert und zu diesem Thema einige Aufsätze publiziert. Hat es andernorts schon diesen Fall gegeben, dass Bürger ihre eigene Straße gestalteten und ihre Arbeit öffentlich anerkannt wurde?

R.W.Ernst: Das hat es in einigen Armenvierteln in Lateinamerika und Asien gegeben. Man hat diese Viertel verbessert und sie von vornherein mit den Leuten gemeinsam gestaltet, in ganz unterschiedlichen Prozeduren, unter verschiedenartigen Beteiligungen aber auch soweit, dass sie weitgehend von den Bewohnern selbst gestaltet wurden, natürlich wurden sie dabei beraten. Selbstverständlich haben die Bewohner das dann als ihr eigenes Produkt angesehen.

In diesem Fall ging die Initiative doch sicher von den Stadtplanern aus.

R.W.Ernst: Das ist richtig. Dahinter standen soziale Überlegungen. In der Vergangenheit hatte man oft nicht verstanden, wie die Menschen sich organisieren, Gepflogenheiten, die man nicht kannte, wurden negiert und verletzt. Das schuf Aggressionen. Die Mitgestaltung sollte es den Anwohnern erleichtern, Verantwortung zu übernehmen.

Mir fällt ein anderes Beispiel aus Europa ein, dass dem in der Oderberger Straße ähnelt. Nach dem Tod Francos wurden die öffentlichen Plätze und Grünanlagen Barcelonas unter Mitwirkung aller Bürger gestaltet. Diese Gestaltung erlangte große internationale Beachtung.

Wie wurde diese Bürgerbeteiligung in Barcelona organisiert?

R.W.Ernst: Sämtliche Bürgerschaftsvereine der Stadt wurden aufgefordert, die Gestaltungsideen der Bürger zu sammeln.

Wurden die Bürgerschaftsvereine mit diesem Ziel geschaffen?

R.W.Ernst: Nein, es hatte sie schon vorher gegeben. Während der Franco-Diktatur waren sie auch eine Art Kontrollelement, obwohl die Repräsentanten von den Anwohnern gewählt wurden.

In der Ausnahmesituation nach dem Tod Francos nutzte man diese Struktur.

In einer Turnhalle wurden alle Entwürfe und Wünsche der Bürger zusammen getragen. Sie wurden an den Wänden und auf riesigen Tischen präsentiert. Es waren die verrücktesten Ideen darunter.

Ist das nicht ein Alptraum für jeden Stadtplaner, eine Turnhalle voll einander widersprechender Entwürfe als Ausgangspunkt der Arbeit vorzufinden ?

R.W.Ernst: Ganz und gar nicht. Alles selbst entwerfen ist gut und schön, doch es ist auch eine Art Anmaßung, eine Diktatur gegenüber Dritten. Um eine Kenntnis der realen Lebensabläufe zu bekommen, muss man mit den Leuten sprechen. Bürger, Anwohner finden nicht in jedem Fall von sich aus die richtigen Lösungsansätze. Das ist eben das Spannende an diesem kommunikativen Prozess, man ist leitend tätig, doch anders, eher als eine Art Moderator, man gibt einen Rat, unterbreitet Vorschläge. Natürlich ist Vertrauen eine Voraussetzung, um so arbeiten zu können. Wir haben auch in Berlin die gestalterische Grundlage für eine Plattensiedlung in einem solchen Dialog mit den zukünftigen Bewohnern erarbeitet.

Letztendlich hat Stadtplanung mit Bürgerbeteiligung in Europa eine Tradition. Die ersten freien Bürgerstädte im Mittelalter wurden ja auch von der Gemeinschaft der Bewohner gestaltet.

Dann geht man in der Oderberger Straße jetzt „back to the roots“ der ersten europäischen Städte?

R.W.Ernst: In gewissem Sinn schon. Natürlich kann man die damaligen Gesellschaftsverhältnisse nicht mit denen heute vergleichen. Damals waren es die Hausbesitzer, Unternehmer und Produzenten, die „Stadt“ schufen. Und auch die Stadt im Sinne der „freien Stadt“ gibt es ja nicht mehr. Mit dem Entstehen der Territorialstaaten zu Beginn des Barock verloren die Freien Städte ihre Rechte.

Städte sind heute bloße Verwaltungsbezirke. Man muss auch berücksichtigen, dass es in Deutschland lange Zeit überhaupt keine Bürgerinitiativen gegeben hat. Das begann erst in den Siebzigerjahren wieder. Sie enstanden zunächst aus Protest gegen Abriss und Autobahnplanungen, in den achtziger Jahren belebt durch die alternative Bewegung.

Wie sehen Sie die Zukunft bürgerschaftlichen Engagements?

R.W.Ernst: Interessanterweise haben sich die staatlichen Möglichkeiten für bürgerschaftliches Engagement immer noch nicht verändert.

Das wird am Fall der Oderberger Straße deutlich. Die Bürgerinitiative muss sich jetzt mit Ämtern und Politikern auseinandersetzen, ein Dialog-Prozess, der gut strukturiert werden muss. Glücklicherweise haben wir noch etwas Zeit, denn die Bauarbeiten sollen ja erst 2009 beginnen.

Jetzt geht es darum, rechtliche Instrumente wie das Kataster der Patenschaften oder Urheberrechte zu entwickeln, staatliche Möglichkeiten für ein bürgerschaftliches Engagement in der modernen Großstadt.

Ich halte das für dringend notwendig, denn vom bürgerschaftlichen Engagement wird sehr viel Lebensqualität in der Zukunft abhängen. Allmählich bildet sich in Deutschland ein Bewusstsein dafür.

Berliner Notiz-Blog 5. November 2007

Kasimir, der Kaiser der Clochards, braucht dringend einen Arzt. Er sagt, er beginne zu quietschen wie eine alte Klapperkiste. Er ist jetzt über sechzig Jahre alt.  

Er braucht eine Krankenversicherung. Die Krankenversicherung seiner Wahl nimmt ihn aber nicht, weil er keine Einkünfte nachweisen kann.

Wie soll Kasimir seine Einkünfte nachweisen? Er hat doch keinen Quittungsblock in der Tasche. Es passt nicht zu seiner Lebensphilosophie, irgend etwas zu quittieren.

Dabei arbeitet Kasimir mehr als viele andere, denen er abends in den Restaurants seine geklauten Blumen schenkt und die Tröte drücken lässt.

Der Kaiser arbeitet als Bildhauer, Dichter, Performer und Interventionskünstler.

Am Freitagabend hat er mir im Gormans einen Dank geschenkt. Ein Dank von Kasimir ähnelt einem Eurostück. Allerdings ist er viel größer. Ein Dank ist so groß wie ein Bierdeckel. Ein Dank ist ein Bierdeckel aus laminierter Pappe. Mit einem roten Herz in der Mitte.

Zwanzigtausend Dank hat Kasimir gedruckt. Ich bin glücklich, dass ich einen davon besitze.

Eigentlich gebührt Kasimir dieser zwanzigtausendfache Dank. Er lässt uns an seiner Kunst teilhaben, ohne einen Cent dafür zu verlangen.

Es ist doch wohl das Mindeste, sich um die Gesundheit dieses Ehrenbürgers der Stadt zu sorgen.

Zwischen den Welten

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Das Magazin November 2007

Anna aus Armenien kam nach Deutschland. Sie arbeitete als Au-pair-Mädchen, jetzt will sie studieren. Vieles im Alltag ist ihr fremd, und natürlich hat sie Heimweh. Doch an eine schnelle Rückkehr denkt sie nicht

„Weiß jemand von euch, wie alt Yerivan ist?“, fragt Anna, die Lehrerin im armenischen Gemeindehaus. Erwartungsvoll blickt sie die Schüler an. Sie trägt eine weiße Bluse, einen schmalen, schwarzen Rock und Stiefel. Sie lächelt geheimnisvoll wie eine Geschichtenerzählerin, die kurz vor der Pointe die Spannung hält. Ihr Haar ist am Hinterkopf so locker gesteckt, dass die dunkle Masse jeden Moment abzustürzen droht. An ihren Ohren hängen runde, fein ziselierte Silberringe mit Kettchen, die bis zum Kinn reichen.

Sie erzählt ihren Schülern von der Festung Yerivan, die im Jahr 782 vor Christus erbaut wurde. Die kleine Eva war in den Ferien das erste Mal in Armenien. Warand war schon mehrmals dort. „Ich habe den Ararat gesehen“, sagt er. Die Erwähnung des Gebirges Ararat erzeugt einen Moment Stille in dem kleinen Raum. Die Kinder kennen das Land ihrer Eltern nur von gelegentlichen Besuchen. Sie sind in Deutschland geboren. In Berlin.

Deshalb ist deutsch die vertrautere Sprache für sie, aber Anna Schavinyan, die Lehrerin, besteht darauf, dass sie wenigstens einige armenische Sätze bilden. Die Lehrerin ist jung. Einundzwanzig Jahre. Sie hat keine pädagogische Ausbildung. Sie arbeitet dreimal in der Woche als Verkäuferin in einem Seifenladen. Seit gestern weiß sie, dass sie in Deutschland bleiben und hier studieren kann.

Die armenischen Gemeinden zahlen ihr für den Unterricht ein symbolisches Honorar. Anna würde diese Arbeit auch ohne Honorar tun.

Sie spricht gern über Armenien. Es hilft gegen das Heimweh.

Das Gemeindehaus in Berlin Charlottenburg ist der einzige Ort in Berlin, an dem sie sich zu Hause fühlt. Hier spricht alles armenisch, die Menschen und die Bilder an den Wänden, das Foto des Ararat zum Beispiel, wie er aus einem Wolkenschleier wächst. „So sieht man ihn an klaren Tagen von der Hauptstadt Yerivan aus“, erzählt Anna. „Der Ararat gehörte früher zu Westarmenien, liegt aber jetzt auf dem Gebiet der Türkei. Man darf nur mit einer Sondergenehmigung in die Türkei reisen. Der Ararat ist also für die meisten Armenier unerreichbar.“

3,5 Millionen Einwohner zählt Armenien. 8 – 9 Millionen leben seit der Verfolgung und dem Völkermord durch die Türken im Jahre 1915 in der Diaspora.

Armenier sind Christen. Die apostolische, armenische Kirche ist eng mit der griechisch orthodoxen Religion verwandt. Armenien ist das erste Land der Welt, in dem die christliche Kirche zur Staatsreligion ernannt wurde. Ein Plakat im Gemeindesaal erinnert an dieses Ereignis im Jahre 301 nach Christi. „Da saßen die Russen noch auf den Bäumen“, sagt Anna.

Sie findet, dass jeder Armenier, in welchem Land auch immer er lebt, das einzigartige Alphabet kennen sollte, dass ihr Volk seit dieser Zeit verbindet.

Ihr Gesicht ist einfach. Es ist ein armenisches Gesicht mit hohen Wangenknochen, hinter denen die dunklen Augen liegen. Manchmal fragen die Leute, ob sie aus der Türkei kommt. Einige halten sie für eine Italienerin, andere tippen auf Südamerika. Woher? Armenien? Staunen. Kaum, dass jemand weiß, wo Armenien liegt.

Noch kann Anna nicht sagen, ob sie nach dem Studium in Deutschland bleiben möchte. Sie findet die Deutschen kühl, zu distanziert. Der Gedanke, für immer nach Armenien zurück zu kehren, behagt ihr allerdings auch nicht. Sie wägt die Kulturen gegeneinander ab, grübelt, ist unschlüssig. Aber es gibt wichtige Dinge, die sie nur entweder armenisch oder westlich entscheiden kann. Die Liebe. Die Männer laufen ihr scharenweise nach. Das ist nicht das Problem. Aber in Armenien ist es üblich, erst dann mit einem Mann zu schlafen, wenn man weiß, dass man heiraten wird. „Ich finde die freiere westliche Moral schon in Ordnung, aber ich fühle mich darin fremd. Ich bin nun einmal anders erzogen.“ Sie zieht die Schultern hoch. Da passt etwas nicht, ist zu eng, schnürt ihr das Herz ein. Die eine Kultur ist es nicht mehr, die andere noch nicht. Was nun? Sie wartet ab. Sie hebt sich auf. Sie wird sich jetzt auf ihr Studium konzentrieren.

Das armenische Abitur berechtigt nicht zu einem Studium an einer deutschen Universität. Dennoch wird Anna ab Oktober den Bachelor-Studiengang Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität belegen.

„Mir ist kein Fall eines armenischen Studenten bekannt, der ein Studium in Deutschland begonnen hat“, sagt Azad Ordukhanyan, Leiter des Armenisch-Akademischen Vereins 1860 e.V. in Bochum. „Ich frage mich, wie Anna das gemacht hat.“ Der Verein betreut zirka zweitausend armenische Studenten und Doktoranden in Deutschland. Die meisten haben ihr Studium in anderen Ländern begonnen und führen es hier fort. So gestattet es die deutsche Hochschulordnung den ausländischen Bewerbern.

Ihre Ansage am Telefon ist kühl und knapp. Sie wird sich um zwanzig Minuten verspäten. Sie verspätet sich häufig. Doch immer sagt sie ihre Verspätungen rechtzeitig an und hält sie dann pünktlich ein.

Ihr Telefon ist rund und rosa und mit geschwungenen Ornamenten verziert. Das Telefon ist bedeutend für sie, denn sie lässt sich nicht von ihren Verabredungen dirigieren. Sie dirigiert ihre Verabredungen selbst, schiebt sie vor und zurück, ordnet sie in den Rhythmus ihres Alltags. Sie hat viel zu tun. Die Arbeit im Seifenladen, Babysitten, so oft wie möglich. Alles schlecht bezahlte Jobs. Sie hält sich gerade so über Wasser.

Verabredungen im Café leistet sie sich nicht. Sie wird zu Hause kochen.

Auf halber Treppe zwischen den Zimmeretagen des Studentenwohnheims liegen die Gemeinschaftsküchen. Eine breite Fensterfront geht hinaus in den Garten. Die Bäume wachsen bis an die Scheiben.

Anna blickt in das Grün. Sie wirkt klein in dieser großen, schattigen Küche. Sie könnte eine junge, armenische Frau sein, deren Gedanken sich hauptsächlich darum drehen, was sie für ihre große Familie kocht.

Heute wird sie einen Gata backen, den traditionellen, armenischen Kuchen, den die Großmütter an Festtagen zubereiten. Während sie den Teig aus dem Papier nimmt und ausrollt, beginnt sie zu erzählen, auf östliche Weise, in einem ruhigen Fluss, langsam, ausführlich und so genau, dass es leicht fällt, zuzuhören.

In der Studienberatung der Universität Potsdam hat Anna Doktor Birgit Bismark getroffen. Doktor Bismark hat sich ans Telefon gehängt und jede Regel und Vorschrift in die Knie argumentiert, damit Anna sich für das Studienkolleg bewerben durfte, den Vorbereitungskurs für ein Studium an einer deutschen Hochschule.

Nach der Aufnahmeprüfung erhielt Anna den Bescheid, dass sie durchgefallen sei. Sie, die den Werther, Heines Liebeslieder und Die weiße Rose auf deutsch gelesen und die Lorelei auswendig aufsagen kann, die immer nur deutsch gelernt hat, nicht nur in der Schule, sondern auch abends bei einer Privatlehrerin.

Eigentlich hatte sie kein deutsch lernen wollen. Niemand wollte es. Aber in diesem Jahr stand Deutsch als zweite Fremdsprache nun einmal auf dem Programm. Es gab Proteste der Eltern. Vergeblich. Die Schulleitung blieb dabei: Dieser Jahrgang lernt deutsch.

Dabei hat diese Fremdsprache in Armenien eine lange Tradition. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es einen intensiven Kulturaustausch zwischen beiden Ländern.

Später fand Anna Gefallen daran, gewann sogar die Deutsch-Olympiade in ihrer Heimatstadt Alaverdi.

„So ein Stapel Papiere.“ Annas Hand schwebt gut einen Meter über dem Küchentisch. Zeugnisse, Urkunden und Zertifikate, Originale und Kopien der Originale, Übersetzungen und Kopien der Übersetzungen, alle notariell beglaubigt, Beweise, die sie vor der Aufnahmeprüfung vorlegen musste.

Die Absage erwies sich natürlich als Irrtum. Anna konnte am Studienkolleg teilnehmen, bekam einen Studentenausweis und einen Platz im Studentenwohnheim. Sie war so gut, dass sie den Vorkurs überspringen konnte. „Die Lehrerin nannte mich ‚Anna mit dem großen Mund‘, weil ich alles wusste.“ Sie lacht.

„Früher habe ich viel geweint“, sagt sie. „Ich konnte immer weinen. Ich musste nur an etwas trauriges denken und schon flossen die Tränen. Jetzt kann ich das nicht mehr.“

Mit dem Nudelholz zerdrückt sie Hasel – und Walnüsse zwischen zwei Lagen Backpapier.

Studieren in Armenien ist teuer. Annas Vater, ein Bauingenieur, arbeitet als Kraftfahrer bei einem staatlichen Transportunternehmen, bei dem auch Annas Mutter als Buchhalterin und die Großmutter als Lagerverwalterin arbeiten. Sie ernähren vier Kinder, Annas Geschwister. „Nach dem Krieg haben viele keine Arbeit mehr in ihren Berufen gefunden“, sagt Anna. Der Krieg mit Aserbaidshan um die Region Karabach in den Neunziger Jahren hat ihre Kindheit geprägt. „Manchmal gab es tagelang kein Wasser und keinen Strom.“

Achthundert Dollar im Jahr kostet ein Studium an einer der privaten Universitäten. Die kostenlosen staatlichen Studienplätze, gerade für Sprachstudien, gehen zum großen Teil gegen Bestechungsgelder weg.

Anna rollt die Füllung in den Blätterteig, teilt ihn in kleine Stücken und drückt die Ränder mit einer Gabel zusammen.

„Die Großmütter in Armenien arbeiten mehrere Tage an diesem Teig.“ In Berlin gibt es ihn tiefgefroren im Supermarkt. „Ist natürlich nicht so gut wie Zuhause.“ Nicht nur der Gata sei in Armenien besser. Die Großmütter seien es auch. „Sie sind warmherziger mit ihren Enkeln.“ Anna hat die deutsche Familie als Au-Pair beobachtet. „Als die Tante zu Besuch kam, haben sie sich nicht einmal umarmt.“ Später habe sie allerdings auch andere, herzlichere Familien kennengelernt. Trotzdem: Deutschland bleibt die Feinfrost-Version des Lebens. In Deutschland muss man vorher anrufen, wenn man jemanden besuchen will. In Deutschland werden die Portionen abgezählt, wenn Gäste geladen sind. Man schaut aufs Geld, sogar beim Feiern. Das alles wäre undenkbar in Armenien.

Aber sie will sich mit diesem Land arrangieren. Nur hier hat sie die Möglichkeit zu studieren. Und studieren möchte sie auf jeden Fall. Eins hat sie verstanden: Man darf nicht bitter werden, nur, weil das Leben manchmal nicht mit den eigenen Erwartungen übereinstimmt.

Nachts ist sie allein mit dem Heimweh, in das sich die Sehnsucht nach Liebe mischt.

In ihrem kleinen Zimmer, unter dem Himmelbett aus lila Tüll, hat sie einen Schleier versteckt. Sie legt ihn auf ihr Haar, drückt die Taste des Recorders auf dem Schreibtisch und tanzt in kleinen Schritten zum melancholischen Klang der armenischen Musik. Sie breitet die Arme in Schlangenbewegungen aus, soweit es der schmale Raum zulässt.

Rudin, ihr Zimmernachbar aus Bangladesh, dem sie gelegentlich Deutschunterricht gibt, ist in sie verliebt, aber er ist nicht der Richtige, auch nicht die jungen armenischen Männer in der Gemeinde, die in Deutschland nur „geduldet“ sind und nicht arbeiten und nicht einmal am Wochenende aus Berlin raus dürfen.

Den Gata wird sie morgen abend mit zu Adelheid nehmen, ihrer Freundin, die sie scherzhaft „Mutti“ nennt. Adelheid Schardt hatte Jugendliche, vornehmlich ausländische Jugendliche, eingeladen, Berliner Trümmerfrauen zu interviewen und zu fotografieren. Die Fotos und Teile der Interviews wurden später auf eine Hauswand projiziert. Die Passanten konnten sie am Abend im Vorübergehen ansehen und lesen.

Anna hat es Spaß gemacht. Seitdem kann sie sich vorstellen, Journalistin zu werden.

Sie lässt ein paar Stück Gata für Rudin und Nina, das Mädchen aus Litauen, auf einem Teller in ihrem Zimmer zurück.

Bei Adelheid ist sie immer willkommen. Natürlich ruft sie vorher an. In diesem Fall findet Anna das auch in Ordnung. Schließlich hat Adelheid eine Menge zu tun, ist nicht immer zu Hause.

Sie werden Tee trinken und über die Neuigkeiten reden. Adelheid hatte von Anfang an diese herzliche, unkomplizierte Art. Mit ihr fühlt es sich selbstverständlich und vertraut an. Fast wie mit Armeniern.