Einmal Westend und zurück

Berliner Zeitung

Ein einsamer Wissenschaftler, ein reinlicher Botschaftsmitarbeiter, eine enttäuschte Französin – auf der Suche nach einem WG-Zimmer in Berlin macht man jede Menge Bekanntschaften. Aber findet man auch ein Zuhause? 

Es ist in Berlin möglich, von einem Tag auf den anderen umzuziehen. Vorausgesetzt, man reist mit Handgepäck. Transportfirmen sind auf Wochen ausgebucht. Umherziehen ist ein Normalzustand der Berliner. Die Stadt bietet jederzeit teil-, voll – und nichtmöblierte Zimmer, halbe Wohnungen, Gartenlauben, auch komplette Häuser. Katzen und Hunde inklusive.

Eine Wohnung am Falkplatz, im Prenzlauer Berg. Isabelle entschuldigt sich für die DDR-Holzfolie auf den Türen, für die Wände, an denen sich die Anstriche verschiedener Zeiten überlagern, dazwischen weiße Gipsflecke. Mir gefallen die Wände. Sie erinnern mich an alte Buchseiten. Der Balkon im vierten Stock über dem Falkplatz ist überwältigend. Sonne flirrt über die staubigen Dielen und das große Pult am Fenster. Zeichnungen liegen darauf, Skizzen, Bündel weißer Federn, Muscheln, Treibholz und Korallen. Isabelle hat das Pult auf Ziegelsteine gehoben, damit die Arbeitshöhe stimmt. In ihrer Freizeit arbeitet sie hier an ihren Kunstobjekten. Sie ist groß und schlank, eine Frau in den Vierzigern in einem hellen, mit Blumen bestickten Leinenkleid. Sie läuft barfuß.

Eigentlich ist sie raus aus der Wohnung, umgezogen, nach Schöneberg, erzählt sie. Ihre dunkle Stimme klingt melancholisch. Aber sie kann sich von der Gleimstraße noch nicht trennen. Deswegen lasse sie einige Dinge hier. Drei Umzugskisten mit der roten Aufschrift „EBAY“ sind an der Wand aufgestapelt, daneben ein halbes Bücherregal, ein Ofenrohr und ein Buddha aus Holz. Gelegentlich käme sie vorbei, um an ihren Objekten zu arbeiten. Ob mich das stört? Keineswegs. Das Unentschiedene ihrer Wohnung gefällt mir. Es entspricht meiner emotionalen Lage.

Bevor Isabelle zur Nachtschicht in das Archiv eines Fernsehsenders fährt, richten wir uns auf dem Balkon ein. Der Plastiksessel mit dem Schaffell darin passt gerade zwischen die Pflanztöpfe. Magere Halme und Kakteen mit festen Stacheln ragen aus den Töpfen empor. Zwischen den geschwungenen Füßen zweier Terrakotta-Töpfe liegt ein Tierschädel.

Isabelle erzählt von ihrer WG in Schöneberg. In den Achtzigerjahren hat sich schon einmal dort gelebt, in ihrer Zeit als Punk. Sie will wieder politisch aktiver werden, sucht Gleichgesinnte. Aber sie ist enttäuscht. Das Gemeinschaftsgefühl sei nicht mehr dasselbe wie früher. Sie denkt darüber nach, nach Frankreich zurück zu gehen. Sie habe sich in Berlin eh immer fremd gefühlt. Die Staaten wären auch eine Option.

Ich lebe in einer Wohnung am Rosa-Luxemburg-Platz, in einem Haus, dessen Tür ich in den nächsten Wochen hin und wieder öffnen werde, um meine Post aus dem Briefkasten zu nehmen, mit klopfendem Herzen, weil es sein könnte, dass ich auf der Treppe dem Mann begegne, den ich eigentlich noch liebe.

Isabelle fürchtet, die Wohnung bald aufgeben zu müssen, weil die Miete erhöht wird. Ein, zwei Monate reichen mir. Solange wird es dauern, bis ich ein neues Zuhause und einen freien Termin bei einer Transportfirma gefunden habe.

Ich suche in der ganzen Stadt. Manchmal will ich nur wissen, wie es anderswo ist. Zum Beispiel in Westend in Charlottenburg: Die Fassade ist trist, das Treppenhaus dunkel. Ich steige auf einem gepflegten Teppich hinauf in den zweiten Stock. Es ist so still, als wäre das Haus verlassen. Der Wissenschaftler, ein drahtiger Mann in den Fünfzigern, führt mich durch verwinkelte hundert Quadratmeter. Das freie Zimmer hat einen steinernen Balkon nach Westen. Im Arbeitszimmer liegen Zeitschriften über erneuerbare Energien auf dem Fußboden. Der Wissenschaftler arbeitet über die sozialen Aspekte ökologischer Entwicklungen. Über den Ostbalkon betreten wir die Küche mit Möbeln aus den Fünfzigerjahren. Einbauschränke im Flur. Genügend Platz. Der zweite Mitbewohner, ein Maler, ist nicht zu Hause. Die gläserne Schiebetür zum Teesalon ist von innen mit seinen Leinwänden zugestellt. Ich frage den Wissenschaftler nicht, wie lange er schon hier lebt, ob er eine Familie hat, Kinder, warum seine Frau nicht mehr da ist und ob er die große Wohnung einige Jahre allein unterhalten konnte, als er noch eine gut bezahlte Arbeit hatte und wie lange es schon anders ist. Ich möchte ihm nicht zu nahe treten. Als errate er meine Fragen, legt er häufig den Finger auf die Lippen, während ich mir einen Raum anschaue und sagt mit gesenktem Kopf leise „ja“. Dann wieder spricht er mit kindlicher Begeisterung von den Radwegen in den nahen Grunewald.

Herr Hosokawa kündigt in seiner Annonce einen großzügigen Dachgarten im Wedding an. Ich klettere auf einem abgetretenen Kokosläufer hinauf in den fünften Stock. Der Dachgarten ist eher ein großer Balkon, die Pflanzen prächtig. Der Blick geht in die Wohnungen im Hinterhaus und über die Dächer. Hinter einer Reihe Satellitenschüsseln ragt der Fernsehturm empor. Herr Hosokawa serviert grünen Tee in dunklen Keramikschalen. Seinem Untermieter hat er gekündigt, weil er zuviel raucht. Doch zu diesen unangenehmen Dingen kommt er später. Beim Tee erfahre ich, dass er als Mitarbeiter der japanischen Botschaft in der DDR zwischen Ost- und Westberlin hin und her fahren durfte und seiner DDR-Frau und den Kindern alles im Westen kaufen konnte, was immer sie sich wünschten. „Eine schöne Zeit“, sagt Herr Hosokawa wehmütig. Nach Wende und Ehescheidung baute er einen Vertrieb für japanische Waren auf: Zehensocken, Bento-Boxen, Teezubehör…alles, was unter Japan-Fans gefragt ist. Die Finanzkrise ruinierte zuerst seine japanischen Geschäftspartner, dann ihn.

Plötzlich sehne ich mich nach Hause in den Prenzlauer Berg, wo ich die meiste Zeit meines Lebens gewohnt habe. Alle meine Freunde leben dort. Meine ganze Familie. Was auch immer über diesen Bezirk geredet und geschrieben wird, dass er nur noch schick ist und die Spekulanten keinen Raum mehr für Rentner und Arbeitslose lassen; es ist wahr, die Mieten sind meist unverschämt, dennoch leben viele Hartz-IV-Empfänger im Prenzlauer Berg. Sie haben allerdings jede Menge zu tun. Auch die Künstler sind noch da. Und die Rentner sehen hier eben nicht aus wie alte Leute. Sie alle kämpfen um ihr Bleiberecht.

Herr Hosokawa holt Desinfektionsmittel aus dem Bad. Der Teppich im Flur ist durchgetreten, die Tapeten vergilbt. Der Untermieter sitzt auf dem Sofa im Flur, ein junger Mann mit dichten, dunklen Haaren. Er trägt eine schwarze Lederjacke. Die Hände liegen nebeneinander im Schoß, als erwarte er, dass man ihn in Handschellen abführt. Er beobachtet uns wütend mit gesenktem Kopf. Herr Hosokawa sprüht Desinfektionsmittel auf die Klinke, bevor er das Zimmer öffnet und weist mich an, nichts zu berühren. Eine Matratze liegt unter dem Fenster. Kleidungsstücke sind auf dem Boden verstreut. Es stinkt.

Paula und Thomas wohnen jetzt in ihrem Haus in Mecklenburg. Eigentlich. Die Wohnung am Teutoburger Platz in Prenzlauer Berg möchten sie aber nicht aufgeben. Es gäbe auch noch berufliche Verbindungen in die Stadt, die erfordern, dass sie gelegentlich  hier übernachten. Und die Kinder würden hin und wieder ihre alten Freunde in der Großstadt besuchen wollen. Ob uns das stört? Paula ist Kinderbuchautorin, Thomas ein IT-Spezialist. Wir sitzen in der geräumigen Küche, Paula und Thomas, Dilek, meine zukünftige Mitbewohnerin und ich. Alles ist vertraut: Die hohen Räume. Der Kinderlärm vom Platz vor dem Haus. Ringsum Läden, die sich nicht zwischen Café, Spielplatz, Second Hand und Bar entscheiden können.

Ich habe ein neues Zuhause gefunden. Nach zwei Monaten. Man kann mir wirklich nicht vorwerfen, ich sei eine Prenzlauer-Berg-Chauvinistin. Immerhin habe ich auch im Wedding gesucht. Und um Haaresbreite wäre ich nach Westend gezogen.

An einem warmen Septemberabend im Hof erzähle ich meiner Mitbewohnerin Dilek von meiner WG-Suche. Ich halte den Kalender neben das Teelicht, um die Namen und Adressen noch einmal zu lesen. Wie eine Abenteurerin nach der Heimkehr die Stationen ihrer Weltreise auf der Karte absteckt. Ich möchte Dilek eine Ahnung von der Größe dieser Stadt geben. Sie ist Rechtsanwältin, Anfang vierzig und von Neuss nach Berlin gezogen, um noch einmal richtig durchzustarten. Dilek ist begeistert von Berlin und erstaunt, weil in unserem Haus so viele Künstler leben, die zwei Frauen zum Beispiel, die sich später mit einer Flasche Wein zu uns setzen und beraten, wie sie mit selbst gebackenen Keksen in den Feinkostgeschäften ringsum ihr Hartz IV aufbessern können. Sie haben Kostproben mitgebracht. Kastanien-Plätzchen. Ich nehme eins und freue mich, dass ich wieder da bin.

Unterm Regenbogen

Berliner Zeitung

Diese Anzeige stand im Sommer in der taz:

ARNO

war fast 28 Jahre lang

in der Fahrradwerkstatt, im Wohnhaus, im Café und in der Baugruppe bei und mit uns. 

Jetzt ist er für immer von uns gegangen und wird doch für immer bei uns bleiben. 

Auf Dich, Arno…

Deine FreundInnen und KollegInnen aus der Regenbogenfabrik. 

Achims Sticker vom 1. FC Kaiserslautern sind so vergilbt wie die Fotos an der Wand. Ein Foto zeigt Arno. Er ist jung darauf. Arno trägt das glatte, lange Haar in der Mitte gescheitelt und zu einem Zopf gebunden. Sein Gesicht ist schmal, die Augen sind hell. Wasserblau. Achim trägt auch einen Zopf, doch sein Haar ist störrisch und grau. Er sieht ein bisschen aus wie Hagrid, der Halbriese aus Hogwart. Massig, bärtig. Seine Stimme ist brummig, ein Typ, dem man sofort ein weiches Herz unterstellt. Man glaubt, Tränen in seinen braunen Augen zu sehen, wenn er von Arno spricht. Achim Sand ist 53 Jahre alt. Sein Freund Arno Hoffmann starb in diesem Jahr mit 55 Jahren.

Auf einem anderen Bild an Achims Wand bereitet Arno Rahmschnitzel mit Lauchgemüse. Der Lauch war extra für Achim. „Arno glaubte, dass ich Lauch mag“, sagt Achim. „Bis ich mir nach vielen Rahmschnitzeln mit Lauchgemüse ein Herz fasste und Arno die Wahrheit sagte: Ich verabscheue Lauch. Arno brach vor Lachen fast zusammen.“

Arno und Achim arbeiteten zusammen in der Baugruppe der Kreuzberger Regenbogenfabrik. Die Regenbogenfabrik ist eines der alternativen, sozialen Projekte, die in den achtziger Jahren in Kreuzberg entstanden. Es gibt heute auf dem Gelände eine Kita, ein Kino, Seminarräume, einen Fahrradverleih mit Werkstatt, Tischlerei, Kantine, Café, eine Kuchenbäckerei. Und ein Hostel. Bis auf einen kleinen Senatszuschuss zum Betrieb der Kita und einigen Beschäftigungsmaßnahmen vom Jobcenter trägt sich das Projekt selbst.

Achim zeigt ein Foto, auf dem Arno einen Bagger steuert. „Das war 2007, da haben wir die alte Remise für den Neubau des Hostels ausgemistet“, erklärt Achim. Die Bäume werfen Schatten in das Zimmer im Seitenflügel der Kreuzberger Regenbogenfabrik, in dem Achim wohnt. Die frisch verputzte Wand des Hostels auf der anderen Seite des Hofes reflektiert das Sonnenlicht. „Diese Wand haben wir noch zusammen hochgezogen, vor zwei Jahren“, sagt Achim. Er nennt Arno den Filigranen, weil er auf dem Bau immer dort eingesetzt wurde, wo es auf Genauigkeit ankam.

Arno und Achim sind in Zweibrücken in der Pfalz aufgewachsen. Sie besuchten die gleiche Schule. Achim wurde Autoschlosser, Arno Dreher. Nach der Ausbildung schraubten sie am Fließband der gleichen Firma Türen für Wohnwagen zusammen. Arno ging zum Bund. Achim flüchtete nach Berlin, als der Einberufungsbefehl im Briefkasten lag.

Achim beobachtete damals die Besetzung der heruntergekommenen, leer stehenden Chemiefabrik Albert Carl in der Lausitzer Straße in Kreuzberg. Das war 1981. Die Besetzter nannten sie dann Regenbogenfabrik. Achim arbeitete in einer Fahrradwerkstatt im Kiez. Aus Solidarität mit den Besetzern verlegten sie ihre Werkstatt auf das Gelände der Regenbogenfabrik.

Arno lebte damals noch in der Pfalz, er besuchte seinen Freund gelegentlich in Berlin. Bei einem der Besuche verliebte sich Arno in ein Mädchen, wenig später zog er zu ihr nach Berlin. In der Regenbogen-Fahrradwerkstatt gab es ausreichend Arbeit für ihn. Arno fing dort an. Später ging er mit Achim in die Baugruppe.

Einmal hatte Arno seine Bleibe in der Regenbogenfabrik verlassen. Er zog zu einer Frau, die er kennengelernt hatte, in eine Wohnung im Wedding, mit Schrankwand, Kanarienvögeln und Nachtspeicheröfen. Gemeinsam zogen sie die neunjährige Tochter von Arnos Lebensgefährtin auf. Arno brauchte Geld. Er gab seinen Job in der Regenbogenfabrik auf und fing bei einer Baufirma an.

Die Freundschaft zwischen Arno und Achim blieb. Achim kam regelmäßig zum Fußballgucken vorbei. Arnos Frau erkrankte an Krebs, er pflegte sie in ihrem Elternhaus bis zu ihrem Tode. Achim schaute regelmäßig nach dem Freund. Arno kümmerte sich nach dem Tod der Mutter weiter um die Tochter, er bereitete Rahmschnitzel für sie, beriet sie in Beziehungsfragen, sorgte für die Französisch-Nachhilfe und bezahlte ihre Ausbildung. Er hielt die Nachtspeicheröfen am Heizen, bis das Mädchen sich verabschiedete und zu seinem Freund nach Hamburg zog. Arno zog, das war 1996, zurück in die Regenbogenfabrik und arbeitete weiter mit Achim in der Baugruppe.

An einem Tag im Mai 2007 kippte Arno auf der Baustelle um. Achim fuhr mit seinem Freund ins Krankenhaus. Stundenlang wartete er, bis Arno mit den Röntgenaufnahmen unter dem Arm von den Untersuchungen zurückkam. „Ich habe einen Tumor im Kopf, die Ärzte sagen, ich kann noch zwei Jahre damit leben, hat Arno nur gesagt“, erinnert sich Achim. Achim nahm ihn einfach in die Arme. Sie hatten nie viele Worte gemacht.

Arno hat dann nicht mehr gearbeitet, aber er blieb in der Regenbogenfabrik. „Wir glaubten, Arno wäre die Ausnahme, der eine von hundert, der durchkommt“, sagt Achim. Arno kam nicht durch. Als es zu Ende ging, zog er zurück in die Pfalz. Zwei Jahre nach der Krebsdiagnose ist er in seinem Elternhaus in Zweibrücken gestorben.

Im Café der Rgenbogenfabrik haben sich an diesem Sommertag Freunde von Arno versammelt. Es ist ein Raum mit groben Dielen, auf denen schwere, nackte Eichentische stehenm, er ähnelt eher einer Kneipe und es wird hier wohl auch mehr Bier als Kaffee getrunken. Marion ist gekommen, Arnos erste Freundin in Berlin. Ihr trotziger Blick und die kurzen, dunklen Haare erinnern noch an das Mädchen auf einem der Fotos an Achims Wand. Auch Uta Doro ist da, die letzte Lebensgefährtin von Arno, eine kleine Frau Mitte Fünfzig mit hoch angesetzten, dunklen Zöpfen und einer runden Brille, die hier alle nur „Citrone“ nennen. Mit ein paar Mitgliedern von Arnos Baugruppe sitzen sie um den großen runden Tisch. Tabakpäckchen und Papier liegen bereit, das Fenster ist weit geöffnet.

Es wird an diesem Abend in der Regenbogenfabrik viel geraucht und viel Bier getrunken. Geschichten machen die Runde, von früher, als Arno noch gesund war. Lustige Geschichten aus einer vergangenen Zeit. „Eines Nachts, als Arno und Achim wieder mal kein Ende fanden im Café, hab ich Arno einfach eingeladen, bei mir zu schlafen“, gibt Citrone zum besten. „Ich hab ihn einkassiert. Man musste ihn vor Tatsachen stellen, sonst passierte ja nichts. Einen Monat später wurde Arno krank.“

Arnos Freunde am Tisch erzählen von gemeinsamen Ausflügen an die Nordsee und in den Spreewald, von gemeinsamen Fußballabenden und Grillfesten. Die meisten Erinnerungen an Arno haben mit viel Bier zu tun.

„Wir waren doch jeden Abend auf der Piste“, sagt Marion. Sie erzählt von ihren Streifzügen durch die Kreuzberger Kneipen, von Rausschmissen und Beschimpfungen durch die „Spießer“. Das war in den Achtzigerjahren ihre Revolution.

Ein älteres Mitglied der Baugruppe erzählt von Arnos Motivationskünsten. „Los Achim, noch ’ne Stunde, hat er oft auf der Baustelle seinem Freund zugeredet. Danach gehen wir ins Café. Das half.“ Die Tischrunde lacht, Achim knackt das vierte Bier. „Achim und Arno kamen nach den langen Nächten hier im Café ständig zu spät“, erinnert sich der Anleiter der Baugruppe, ein Sozialpädagoge. „Man konnte sich den Mund fusslig reden.“

Citrone ist in den letzten zwei Jahren an Arnos Seite geblieben. Achim hatte sich noch mit Arno in seiner Heimatstadt verabredet, aber es war dann zu spät. Zu Arnos Beerdigung in der Pfalz sind sie alle gefahren. Achim hat da schon nicht mehr in der Baugruppe gearbeitet. Er sagt, er habe gesundheitliche Probleme bekommen. Seitdem ist er arbeitslos.

Das zerrissene Netz

Berliner Zeitung

Das ist die Geschichte zu einer Annonce, die ich in der Zweiten Hand fand: Imbissverkäuferin, Frau 47 z. Zt. im offenen Vollzug, sucht Job als Imbissverkäuferin Erfahrung Schicht kein Problem nur Festeinstellung.

Nach der Anhörung ruft sie ihre Tochter an. Sie sagt, dass es ein guter Richter war, dass nur drei Prozent aller Strafgefangenen in Berlin die Hälfte der Haft erlassen bekommen. Sie sagt: „Ich hab dich lieb“, und küsst ins Telefon. Ihre Tochter ist sechsundzwanzig Jahre alt. Ihre fünf Kinder sind alle erwachsen. Sie werden zusammen feiern. Sie werden reden, essen und Spiele machen, wie zu Weihnachten und den Geburtstagen.

Sie haben viel durchgemacht, die Kinder und sie. Das schweißt zusammen. Jetzt hat sie auch einen Lebensgefährten, der sie respektiert. Die Familie ist ihr Netz. Sabine Lemke steht im Garten der Haftanstalt Ollenhauer Straße. Sie blickt hinauf in den klaren Himmel. Sie ist frei, aber sie fühlt sich erschöpft.

Es gab Situationen, da trug das Familien-Netz nicht, Momente, in denen sie niemanden anrufen konnte. Für diesen Fall haben gut ausgerüstete Menschen noch ein Reserve-Netz im Kopf. Sie nicht. Sie sackt dann in sich zusammen, stürzt ab, kann nicht weiter blicken als bis zur Glut ihrer Zigarette, die großen, blauen Augen tief unter den Brauen versunken. Ihre mütterliche Stimme, das „Ich hab dich lieb“, und ihr Humor – weg. Man erkennt sie kaum wieder.

So war es während der Haftzeit, als sie ihren Job im Call-Center verloren hatte, nicht mehr raus durfte und den ganzen Tag in ihrer Zelle hockte und die Angst wuchs, das mit der vorzeitigen Entlassung könne nichts werden. Sie mochte das Call-Center nicht besonders. Den ganzen Tag Lotto-Scheine verkaufen, an die dreihundert Anrufe pro Tag. Egal. Hauptsache raus. Abends mit ihrem Freund kochen, auf dem Sofa sitzen und fernsehen. Erst um Mitternacht musste sie wieder rein. Manchmal hat die Pförtnerin sie aufgefordert, ins Röhrchen zu pusten, weil sie nach Knoblauch roch und weil Häftlinge, die nach Knoblauch riechen, Alkohol vertuschen wollen. Menschen mit Reserve-Netz halten so eine Verdächtigung aus. Aber sie stürzte ins Bodenlose. So tief beleidigte sie der Verdacht, getrunken zu haben, ausgerechnet sie, die sich mustergültig an alle Regeln hielt. Die sowieso nicht hierher gehörte.

Ein eigenes Restaurant hat sie führen wollen, nachdem sie viele Jahre in der Gastronomie gearbeitet hatte. Das war 2005. Sie fand ein günstiges Angebot zur Miete. Nachdem der Mietvertrag unterschrieben und sie das Restaurant eröffnet hatte, stellte eine Hygiene-Kommission fest, dass in der Küche eine Zugbelüftungsanlage fehlte. Eine neue hätte vierzehntausend Euro gekostet, Geld, das sie nicht hatte. Ohne war sie gezwungen, die Küche zu schließen. Sie ließ sich vom Vermieter überreden, nicht zu kündigen. Ein laufendes Restaurant ließe sich besser vermieten als ein geschlossenes, argumentierte er. Aber ohne Küche lief nichts. Die Mietschulden wuchsen. Eigentlich wäre der Vermieter verpflichtet gewesen, die Anlage zu bezahlen, denn sie hatte ja ein Restaurant mit funktionstüchtiger Küche gemietet. Als ihre Schulden  verhandelt wurden, war es zu spät, diesen Anspruch geltend zu machen. Wegen Mietschulden kommt niemand ins Gefängnis. Aber Sabine Lemke war auf Bewährung vorbestraft.

Es ist nach der einjährigen Haft der erste Tag draußen und er fühlt sich für Sabine Lemke noch seltsam an, als sie die leere Wohnung ihres Freundes betritt. „Man muss sich erst wieder daran gewöhnen“, sagt sie. Sie ist nervös, von einer Unrast, die nicht in diesen schweren Körper passt. Zwanzig Kilo hat sie in einem Jahr zugenommen. Sie will sich den Magen verkleinern lassen, die Knast-Pfunde verlieren. Es ist das erste, das sie sich für draußen vorgenommen hat.

Mit der Vorstrafe, das ist eine längere Geschichte. Angefangen hatte die Sache, sagt Sabine Lemke, als ihre kleine Tochter plötzlich nicht mehr essen wollte und ihr Sohn fragte, warum er denn immer zu Papa ins Bett müsse. Als ein Kinderpsychologe ihre Vermutung bestätigte, dass ihr zweiter Mann die Kinder aus ihrer ersten Ehe missbrauchte, packte Sabine Lemke die wichtigsten Sachen in eine Tasche, nahm ihre Kinder und floh. „Die erste Wohnung war ein Loch, aber meine Kinder waren so glücklich. Die sind richtig aufgeblüht“, erzählt sie.

Ihr Mann fand heraus, wo sie sich mit den Kindern aufhielt, stellte ihnen nach. Sie flüchtete weiter. In die nächste Wohnung. Stammgäste der Kneipe, in der sie arbeitete, transportierten die notwendigsten Dinge. Die Möbel ließ sie zurück, bestellte in der nächsten Wohnung neue. So ging das immer weiter. Mehrmals zog sie um, ließ die Möbel zurück, bestellte neue. Bezahlt hat sie nie. Drei Versandhäuser verklagten sie auf Betrug.

Damals ermunterte sie eine Bewährungshelferin, ihre Erlebnisse aufzuschreiben, auch die Dinge aus ihrer Kindheit.
Die  Sache mit dem Vater zum Beispiel. Sabine Lemke nennt ihn nur ihren „Erzeuger“. Er hatte versucht, Sabines Mutter mit einem Beil zu töten. Da war Sabine acht Jahre alt.

Sie wuchs dann mit einem Stiefvater auf. Am Abend des 7. Januar 1976, es war 21 Uhr, schickte er die Fünfzehnjährige ins Bett und sagte, er werde noch mit der Mutter ausgehen. „Wenn ich könnte, würde ich die Zeit bis zu diesem Abend zurückdrehen“, sagt Sabine Lemke. „Ich wäre nicht ins Bett gegangen. Ich wäre ihnen nachgeschlichen. Ich hätte meine Mutter gerettet.“

Die Mutter wurde auf den S-Bahn-Gleisen zwischen Oberspree und Schöneweide von einem Zug erfasst und getötet. Wie ein Kaninchen habe sie auf den Gleisen gehockt, berichtete der Fahrer des Zuges nach dem Vorfall. Sabine Lemke ist überzeugt davon, dass ihr Stiefvater die Mutter auf die S-Bahn-Gleise getrieben hat. Aber er gilt als Unfall.

Sabine lief von zu Hause fort. Sie versteckte sich tage- und wochenlang bei Freunden. Sie ging nicht mehr zur Schule. Als sie das erste Mal schwanger wurde, da war sie 16, nahm die Großmutter sie auf.

Als dann der Vater aus dem Gefängnis kam, war sie achtzehn. Sie empfing ihn in der Wohnung, die sie mit für ihn eingerichtet hatte. Er versuchte, sie zu vergewaltigen.

In dem Lebensbericht, den ihr die Bewährungshelferin empfohlen hatte, schrieb sie die Namen einiger Personen nicht aus, setzte sie lediglich in Initialen. Namen aus ihrer Kindheit, die sie nie mehr nennen wollte. Die Namen ihrer Geschwister hat sie in voller Länge geschrieben. Sie erzählt von Uwe, der sich mit achtzehn Jahren umgebracht hat und in seinem Abschiedsbrief darum bat, neben der Mutter beerdigt zu werden. Sie erzählt von Andrea, Achim und Frank. Durch Adoption und Kinderheim waren sie voneinander getrennt worden, als die Mutter lange Zeit im Krankenhaus verbringen musste. Sabine Lemke hat nach allen gesucht und sie wieder gefunden. Im letzten Sommer war Frank bei ihr aufgetaucht. Nach 39 Jahren. Wie ein Zeichen, dass nun alles gut wird, jetzt, da sie wieder eine vollständige Familie sind.

Sabine Lemke tritt auf den Balkon und nimmt eine selbstgerollte Zigarette aus dem Kästchen, in der sie den Vorrat aufbewahrt. „Diese Frau hat gemacht, dass man im Kopf wieder klar kam“, sagt sie über die Bewährungshelferin. Ihren Namen weiß sie noch: Frau Dorschjäger. „Wäre sie damals bei der Verhandlung über die Mitschulden da gewesen, ich wäre nicht ins Gefängnis gekommen.“

Aber sie sei nicht unglücklich. Sie vergleiche sich nicht mit anderen, die es leichter hatten. Sicher, wenn die Sache mit ihrer Mutter nicht passiert wäre, hätte sie die Schule beendet, eine Ausbildung gemacht wie die anderen. Sie sei ja eine sehr gute Schülerin gewesen. Ihr Klassenlehrer habe sie adoptieren wollen, sagt sie, aber sie habe die Nase voll gehabt von Stiefvätern. Ihre eigene Familie habe sie gründen wollen.

Sabine Lemke drückt die Zigarette aus, bleibt noch draußen auf dem Balkon, im Lärm der Stadt. Sie ist jetzt siebenundvierzig Jahre alt. Sie möchte einen Kiosk führen, mit Stammkunden, die ihre Geschichten erzählen, während sie ihren Kaffee trinken. Ein Kioskbesitzer aus Neukölln hat sich auf ihre Annonce gemeldet. Sie muss ihn anrufen.

Afonsos Spur

Berliner Zeitung

Ein junger Mann verschwindet nach einer Clubnacht in Friedrichshain

Die Nacht, in der Afonso Tiago zum letzten Mal gesehen wurde, war kalt, die Spree trug Eis. Es war gegen 3.40 Uhr. Afonso verabschiedete sich von seinem Freund Ivo. Ivo wollte zum Geldautomaten am Ostbahnhof. Afonso nach Hause, in die Forsterstraße in Kreuzberg, auf die andere Seite des Flusses.

Ivo do Carmo ist Portugiese wie Afonso Tiago. Er glaubt, dass Afonso vom Ostbahnhof aus über die Schillingbrücke nach Kreuzberg gelaufen ist. Er lehnt am Geländer der Brücke. Graue Maskenmütze, dunkler Bart, langer Mantel, eine Krawatte über dem Baumwollhemd – er sieht aus wie eine Vorlage für Robert Capas Spanienkämpferporträts. Ein winziges Kreuz zittert an seinem linken Ohr. Afonso sei zu Fuß gegangen, sagt Ivo, da er kein Bargeld dabei hatte.

Der Fluss schwappt träge in Richtung Alexanderplatz. Auf der Kreuzberger Seite führen Stufen hinab zum Wasser. Man braucht nur über die hüfthohe Absperrung klettern.

Die Polizei vermutet, dass Afonso den Heimweg über die Spree abkürzen wollte, auf das Eis gegangen und eingebrochen ist. „Das passt nicht zu Afonso“, sagt Ivo. „Er war kein Abenteurer. Er ist nicht einmal nachts allein durch den Görlitzer Park gelaufen. Er war ein vorsichtiger Mensch, sehr praktisch und direkt, ein Ingenieur eben.“

Afonso und Ivo waren mit zwei Freunden in der „Kantine“, einem Club am Ostbahnhof. Später beschlossen sie, noch ins „Berghain“ rüber zu gehen. Ivo habe Geld gebraucht und sei deshalb zum Ostbahnhof gelaufen. Afonso habe nach Hause gewollt. Er sei absolut sicher, dass ihnen keiner gefolgt sei, sagt Ivo.

Wenn er heute an die Ereignisse dieser Nacht denkt, fällt ihm auf, dass Afonso weniger getrunken hat als es seine Gewohnheit war. Er habe sich lediglich zu drei Bier überreden lassen. „Ich kann nicht sagen, ob er traurig war oder nicht. Afonso war sehr reserviert. Man sah ihm nicht an, was er fühlte.“ Die Polizei hat nach seinen Kontakten aus dem „Berghain“ geforscht. Ivo erinnert sich an eine Frau, die Afonso mal hier getroffen hat. Die Frau war blond. Mehr weiß er nicht über sie, die Polizei hat keine Spur gefunden.

Ivo und Afonso hatten sich im Sommer in einer Bar kennengelernt, kurz nachdem Afonso mit einem Stipendium für ein Praktikum bei „Active Space Technology“, einer wissenschaftlichen Dienstleisterfirma, nach Berlin gekommen war.

„Als ich hörte, dass er verschwunden ist, vermutete ich zuerst eine Frauengeschichte“, erzählt Ivo. „Dann dachte ich, er wäre nach Portugal abgehauen. Ich wusste, dass ihm die Trennung von seiner Freundin schwer gefallen war. Nach dem Praktikum wurde ihm bei seiner Praktikumsfirma eine feste Stelle angeboten. Er hat sich zwar riesig auf eine Zukunft in Berlin gefreut, aber Berlin bedeutete auch die Trennung von seiner Freundin. Sie konnte nicht aus Lissabon weg.“

Die Erinnerungen an den Freund lassen Ivo keine Ruhe. Es gibt so viele weiße Flecken. Ivo merkt, dass er zu wenig weiß. Die Suche nach Afonso wird zur Suche nach einem Menschen, den er kaum kannte.

Die Tür zur Firma „Active Space Technology“ geht von einem gesichtslosen Korridor in einem grauen Neubau in der Wissenschaftsstadt Adlershof ab. Acht Ingenieure und Physiker in Afonsos Alter sitzen in zwei engen Büros vor ihren Computern.

„Ich dachte sofort, dass etwas Schlimmes geschehen sein muss, ein Unfall“, sagt Ricardo Nadalini, der Geschäftsführer. Er mag zehn Jahre älter sein als seine Mitarbeiter. Er sieht müde aus. Ein Ende seines Oberlippenbartes druselt auseinander. Die Wasserflaschen auf seinem Schreibtisch sind zerknautscht. „Er hat sich immer sofort gemeldet. Er war zuverlässig. Als seine Eltern hier anriefen, haben wir sofort in allen Krankenhäusern der Stadt nachgefragt.“

Der Arbeitsplatz von Afonso ist nicht mehr vorhanden, denn an jenem Montag, an dem er nicht erschien, wurden die Tische auseinander geschraubt und neu sortiert. „Wir räumen häufig um“, erklärt Ricardo Nadalini. „Praktikanten kommen und gehen.“ Afonso sei an der Entwicklung von Instrumenten beteiligt gewesen, die später in Sonden zur Erforschung von Mars und Merkur eingesetzt werden sollten. Dass er wegen seines Insiderwissens entführt wurde, hält Nadalini für ausgeschlossen. „Hier gibt es kein Geheimnis.“

Afonso sei ein normaler Mensch gewesen. Er habe das geliebt, was alle jungen Leute an Berlin lieben: Die Clubs und Bars, die Diskotheken. Ansonsten weiß der Chef nichts über sein Privatleben. „Ich sehe Afonso oft“, sagt er noch. „Das sind kurze Momente, mitten am Tag. Er sieht mich an, wenn er draußen steht und raucht. Immer sind es Blicke, an die ich mich plötzlich erinnere.“

Catarina Tiago, die Schwester von Afonso, ist sofort nach seinem Verschwinden von Lissabon nach Berlin geflogen. Ihr Lebensgefährte Nono Gonzaga begleitet sie. Sie leben bei Nonos Cousin in einer Hinterhofwohnung im Prenzlauer Berg. Die Zimmerwände sind in mediterranen Farben gespachtelt. In einem kleinen Raum steht ein Eichentisch aus einem alten deutschen Wohnzimmer. Catarina sitzt reglos, wie eingeklemmt zwischen Tisch und Stuhl. Nur ihre Finger bewegen sich. Sie dreht eine Zigarette.

Seit zwanzig Tagen ist ihr Bruder bereits verschwunden. Noch immer fehlt jede Spur. „Es ist schwer, sich vorzustellen, wie das Leben danach sein wird“, sagt sie. Und es ist nicht ganz klar, was sie mit ‚danach‘ meint. Die Suche oder das Finden oder die Zeit nach Berlin, wenn sie nach Lissabon zurückkehren und ihre Tierarztpraxis weiter führen wird. Ihre Stimme klingt müde. Ihr langes Haar liegt in schweren Streifen auf den Schultern. Der Rhythmus von Wachen und Schlafen, von Hunger, Durst, Essen und Trinken ist dem Rhythmus von Trauer und Hoffnung gewichen.

Wenn ein Mensch stirbt, kann man einen Ort aufsuchen, an dem er ruht. Das ist ein Trost. So merkwürdig es klingt. Wenn ein Mensch verschwindet, gibt es keinen Ort der Ruhe. Als Untoter bleibt er unter denen, die ihn lieben, überlässt sie dem Handel mit dem Tod und dem Handel mit dem Leben. Sie drucken und kleben Plakate. Sie pflastern die Stadt mit den Porträts von Afonso. Die Plakate werden immer mehr und immer größer. Freunde und Bekannte kommen und helfen. Sie streifen nächtelang durch die Finsternis und kleben. „Sehen Sie, er lacht auf jedem Bild.“ Ein sozialer Mensch sei er, jemand, der verantwortlich mit allen umgehe.

Er habe noch nie ein solches Engagement von einer Familie erlebt, sagt Hans-Joachim Blume, Kriminaldirektor der Vermisstenstelle des Landeskriminalamtes. Zwei- bis dreitausend Erwachsene verschwinden jedes Jahr in Berlin. Beinahe alle werden wieder gefunden. „Wir schauen uns jetzt in Portugal um“, sagt er. „Wir möchten wissen, wen er zuletzt von seinem portugiesischen Handy aus angerufen hat.“ Dass Afonso verreist ist, hält die Polizei für ausgeschlossen. Auf seinem Konto bewegt sich nichts.

Es gäbe eine Besonderheit, sagt Blume. Beide Telefone, das portugiesische und das deutsche Handy, seien zur genau gleichen Zeit vom Netz gegangen, in unmittelbarer Nähe des Ostbahnhofes.

Doch keiner der Passanten, die zwischen den Partybezirken Kreuzberg und Friedrichshain pendelten, keiner der Taxifahrer, habe in dieser Nacht einen Unfall oder ein Verbrechen beobachtet. Keinen Schrei. Keinen Aufprall im Wasser. Nicht das Bersten von Eis. In der Nähe der Schillingbrücke haben die Taucher nichts gefunden. Im Winter seien die Strömungsverhältnisse unklar, so dass man nicht wisse, wo in den vielen Gewässern Berlins man eine nächste Tauchaktion unternehmen könne. „Wir müssen das Frühjahr abwarten“, sagt Hans-Joachim Blume.

Ein Koffer voller Hüte: Vom Leichtsinn des Geldausgebens

Berliner Zeitung

Berliner Zeitung vom 8. September 2007

Karla hat kein Geld. Wieder einmal muss ich ihre Limonade bezahlen. Wenn ich mit Karla im Grashüpfer verabredet bin, kann ich darauf warten, dass sie irgendwann mit beiden Händen an die Taschen ihrer Jeans greift, mich mit runden Augen erschrocken ansieht und sagt: „So was blödes – ich habe mein Geld vergessen.“

Ich frage mich, wie Karla tickt. Ich vergesse Eintrittskarten, mein Telefon, Geheimzahlen und Namen, aber niemals Geld. So sehr ich mich auch anstrenge. Es muss wundervoll sein, Geld einfach vergessen zu können. Geld ist mein Feind. Er ist allgegenwärtig. Er hat mich umzingelt und rückt täglich weiter gegen mich vor. Aber ich gebe den Kampf nicht auf. Schließlich bin ich im Zeichen des Löwen geboren.

„Man kann Geld nicht vergessen“, knirsche ich. Karla ist beleidigt. „Du glaubst also, ich lüge dich an.“ Sofort tut es mir leid. Ich entschuldige mich. „Wahrscheinlich gehörst du zu den wenigen, glücklichen Frauen, die Geld deshalb vergessen können, weil sie sich einen reichen Mann geangelt haben“, sage ich schnell. Das macht die Sache noch schlimmer. Karla will gehen. „Es war nicht böse gemeint. Ehrlich. Ich bin doch nur neidisch.“ „Ich zahle dir alle Limonaden zurück“, faucht Karla. Ich starre auf die grünen Farbfladen, die von dem Gartentisch abblättern. Karla sagt, sie habe es satt, sich ständig dafür zu rechtfertigen, dass ihr Mann ein normales Einkommen hat. „Ich kann nichts dafür“, schwört sie. „Außerdem habe ich nichts davon. Er ist nämlich geizig.“

Ich zähle die Münzen in meinem Portemonnaie. Sie reichen gerade noch für zwei Limonaden. Bleiben noch ein paar Centstücke für die Bettler. Ich stecke sie in meine Hosentasche. Jetzt verstehe ich, was die anderen meinen, wenn sie sagen, Geld zerstöre die besten Freundschaften. Wenn möglich, vermeide ich den direkten Kontakt mit Geld. Geld ist mir unheimlich. Es ist der einzige Stoff, der sich in Luft auflösen kann, ohne das wenigstens eine Restsubstanz bleibt. Geld bewegt sich außerhalb der Naturgesetze.

Ich bevorzuge Karten. Karten sind elastisch und stabil. Sie ändern nicht einmal die Farbe. Karten sind konstant. Man steckt sie in einen Schlitz, zieht sie wieder heraus und hat bezahlt. So einfach. Karten suggerieren, dass es Geld in Wirklichkeit gar nicht gibt. Der Feind ist nichts als eine virtuelle Größe, eine Zahl, die auf dem Kontoauszug hin und wieder die Seite wechselt.

„Du bist leichtsinnig. Eine Grille“, sagt Antoine. Er meint die Künstler-Grille aus der Fabel, die kurz vor Weihnachten die Ameise um einen zinsfreien Kredit anbettelt. Antoine zahlt nie mit Karten. Trotzdem ist er mein liebster Verbündeter im Kampf gegen das Geld. Wie er das Wort „Grille“ ausspricht, schillert es wie eine Libelle in der Sonne. Limonaden und Eis kann man nicht mit Karten bezahlen. Im Grashüpfer sind sie ganz versessen auf Bargeld. Bettler, Bananenhändler und Taxifahrer – alle wollen klingende Münze. Es gibt Tee – und Buchläden, in denen man wie ein Betrüger angeschaut wird, wenn man eine Karte über die Ladentafel reicht. Aber ich bin sicher, dass immer mehr Menschen wie ich mit einer Bargeld-Phobie zu kämpfen haben.

Die Maschine für die Kontoauszüge rattert so laut, dass das Foyer der Bank vibriert. Das Wort „Rädern“ fällt mir ein, eine mittelalterliche Hinrichtungsmethode, bei der die Leiber der Verurteilten mittels riesiger Wagenräder zermartert wurden. Ich spüre die tausend Spitzen des Nadeldruckers meine Haut durchdringen, Pixel, die sich zu einer Zahl formieren – mein Kontostand. Meine Hände schwitzen. Hinter mir bildet sich eine Schlange. Die Tortur nimmt kein Ende, weil ich ständig mit Karten bezahle und dann wochenlang so tue, als gäbe es die Soll-Seite meines Kontos nicht, auf der mein Einkommen verdunstet, sobald es dort unten aufschlägt.

Manchmal ruft der Bankangestellte an und fragt, ob er mir helfen kann. Dann weiß ich, dass jede Hilfe zu spät kommt. Ich erfinde Zahlungen, die in den nächsten Tagen eintreffen. Ich beruhige den Banker. Ich tröste ihn. Ich sage ihm, dass er sich um mich bloß keine Sorgen machen soll. „Bitte entnehmen Sie die Ausdrucke. Es folgen weitere.“ Der Kasten wird von den Vergehen der letzten Wochen hin und her geschüttelt. So muss sich das jüngste Gericht anfühlen. War der Lippenstift wirklich nötig? Und wieder bin ich in Friedrichshain, Kreuzberg und Mitte vom rechten Weg in diverse Bekleidungsgeschäfte abgekommen und der Versuchung erlegen. Und die Bücher? Warum, zum Teufel, kann ich nicht auf die Taschenbuchausgaben warten?

Solange es möglich ist, mit weniger als nichts zu bezahlen, geht das Leben weiter, sobald ich den ratternden Beichtstuhl in der Bank hinter mir gelassen habe und wieder durch die Straßen und Läden treibe. Schließlich zahlt die ganze Welt mit weniger als nichts. Auch in diesem Punkt ist Berlin der ganzen Welt eine Nasenlänge voraus. Schulden gehören hier dazu. Außerdem trifft man nirgendwo so viele Menschen, die ohne festes Einkommen ihr Dasein sichern, wie in Berlin. Straßenmusikanten, Jongleure, Scheibenputzer, die Verkäufer von „Motz“ und „Straßenfeger“ und den vielen Überlebensblättern, mit denen man inzwischen einen ganzen Kiosk füllen könnte. Diese Idee gefällt mir. Ich habe die Vision einer Gesellschaft, die auf der Straße lebt. „Ist schwierig in Deutschland“, sagt ein Freund, der schon in vielen Teilen der Welt gelebt hat. Er erscheint mir ausreichend unkonventionell, eine Gesellschaft auf der Straße mit zu begründen. „Ist zu kalt hier. Wir werden erfrieren“, sagt er. Obwohl er nicht auf der Straße leben muss, verlässt er Berlin bald wieder und zieht in eine wärmere Gegend.

Zum Glück ist Antoine hier. Unsere Strategien sind zwar verschieden, weil wir von verschiedenen Kulturen geprägt sind, doch wir ergänzen uns hervorragend. Wo ich ängstlich werde, bleibt Antoine souverän. Wenn seine Nerven blank liegen, bin ich gelassen. Antoine verliert Geld. Es rieselt aus seinen Hemden, Hosenbeinen und Socken. Er lässt die Münzen auf dem Fußboden seiner Wohnung liegen. Auf seinem Schreibtisch sammeln sich Häufchen versehentlich in die Wäsche geratener Kassenbons und Rechnungen, zusammen gepappt und unleserlich. Manchmal klemmt ein Geldschein dazwischen. „Ist doch nur Geld“, sagt Antoine. Ich führe niemals mehr als einen Geldscheinen bei mir. Diesen beobachte ich argwöhnisch, bis er zerlegt ist.

Wenn ich vergeblich auf eine Zahlung warte, schreibe ich eine erste, später eine zweite Mahnung. Wenn die zwei Mahnungen nicht helfen, gehe ich zum Gericht. Die düsteren Gänge des Mahngerichts sind mir inzwischen vertraut. Die brummigen Anweisungen der Beamten verstehe ich inzwischen schon beim ersten Mal. Ich kenne alle türkischen Bäcker rings um das Gerichtsgebäude, die Mahnbescheide verkaufen. „Einen Tee, zwei Baklava und einen Mahnbescheid bitte.“

Wenn Antoine sein Geld nicht bekommt, beginnt er zu klagen. Er beklagt sein Leben und die ganze Welt. Wochenlang. Ich habe Angst, dass er sich etwas antut. „Warum schreibst du keine Mahnung?“, sage ich. „Warum nimmst du dir keinen Anwalt?“ Antoine seufzt nur. Dann führt er ein langes Telefongespräch mit seinem säumigen Geschäftspartner. Er sagt, dass er seit Wochen nicht mehr schlafen könne, weil das Geld noch nicht da ist. Er sagt, er würde gern mit seiner Freundin in eine gemeinsame Wohnung ziehen und brauche das Geld für neue Möbel. „Was erzählst du da?“, frage ich in sein Telefonat. Wir haben niemals über eine gemeinsame Wohnung gesprochen. Antoine zwinkert, grinst und legt den Finger an die Lippen. Er sagt, er habe seinem Sohn ein neues Fahrrad versprochen. Und in vier Monaten sei schon wieder Weihnachten. Der andere hört sich alles geduldig an und erklärt dann, dass seine drei Kinder gerade in der Ausbildung steckten und eines seiner zwei Häuser dringend ein neues Dach brauche. Antoine schlägt vor zu tauschen. Er könne ja zur Abwechslung mal in einer popligen Berliner Mietwohnung leben. Ob ihm überhaupt klar wäre, dass er auf seine, Antoines, Kosten so wohlhabend geworden sei, während er, Antoine, nicht einmal ein kleines Appartement für sich und seine Frau in Berlin kaufen könne. Der andere entgegnet, Antoine solle sich bloß nicht wünschen, Hausbesitzer zu sein. Es sei ja alles so teuer geworden. Das Dach bereite ihm Magenschmerzen. So geht das hin und her. Im Laufe des Gespräches tauchen noch ein uneheliches Kind, ein arbeitsloser Bruder, ein kranker Hund und ein Neffe, dessen Haus überschwemmt wurde, auf. Am Ende handeln sie eine Zahlung aus, einen Kompromiss.

Ich frage mich, wieso sie nicht schneller auf den Punkt kommen. Bis ich verstehe, dass es sich um ein Kriegsritual handelt. Man spielt mit dem Feind Katz und Maus. Man schubst ihn hin und her, beißt zu und tut dann wieder so, als ließe man ihn laufen. Der Feind ist das Geld. Sie beweisen ihre Überlegenheit, in dem sie selbst darüber entscheiden, was sie mit ihm anstellen werden. Sie sind keine Gegner. Sie sind Verbündete im Kampf gegen die Macht des Geldes.

Einmal, als Antoine bei mir über Nacht bleibt, klingelt der Bankangestellte uns morgens aus dem Bett. Antoine lauscht dem Telefongespräch. Er springt aus dem Bett, baut sich vor mir auf und gestikuliert wild. Er schaltet den Lautsprecher ein. Er bekommt einen Schweißausbruch. Er will unbedingt wissen, was auf meinem Konto und in meinem Depot los ist. „Das ist meine Sache“, sage ich. Antoine fängt fürchterlich an zu klagen. „Es ist doch nur Geld“, beruhige ich ihn. Antoine sagt, ich sei so leichtsinnig wie eine ganze Wiese voller Grillen. Ich stelle mir eine Wiese voller Grillen vor, die so zartgrün schillern wie in Antoines Aussprache. Man trifft sie wohl nur am Mittelmeer. Am Mittelmeer müsste es möglich sein, eine Gesellschaft zu gründen, die auf der Straße lebt. Oder am Strand.

Als ich klein war, kamen meine Großeltern an manchen Abenden spät aus der Stadt zurück. Mein Großmutter flüsterte mir dann zu: „Wir waren heute leichtsinnig.“ Sie legte dabei den Finger auf den Mund, was bedeuten sollte, dass es unter uns bleibt. Sie lächelte verschmitzt, als bereitete ihr der Gedanke, Geld für Eis und einen Besuch im Zirkus verschwendet zu haben, mehr Vergnügen als das Eis und der Zirkus selbst. Kichernd präsentierte sie schließlich einen neuen Hut. Wenn Antoine sagt, ich sei leichtsinnig, fühle ich mich wie meine kichernde Großmutter mit dem neuen Hut. Meine Großmutter besaß sehr viele Hüte. Leichtsinn scheint mir eine der besten Waffen gegen das Geld zu sein. Leichtsinn macht schön. Das habe ich von meiner Großmutter gelernt. Hat ja keinen Sinn, sich wegen Geld graue Haare wachsen zu lassen.

Antoine sagt, er könne nicht mit mir leben. Er habe bereits genug Ärger. Ich packe die Hüte meiner Großmutter in einen Koffer und verlasse Berlin. Ich mache mich auf den Weg in den Süden. Dort werde ich mich dem Widerstand der schillernden Grillen anschließen. Berliner Zeitung