Kultur der Mischung

Berliner Zeitung

Isabelle Bruniquet hat afrikanische, asiatische und europäische Wurzeln. Sie weiß nicht recht, wohin sie gehört

Wegen ihres Akzents glaubt man, sie sei Französin. Sie ist schlank. Sie hat hellgrüne Katzenaugen, rotes Haar und Sommersprossen.
Die Schwarzen im Lumumba, ihrem Lieblingsclub in der Karl-Marx-Allee, sagen: „Du bist doch eine von uns. Hast eben nur die falsche Hautfarbe.“

„Es ist mein Dilemma“, sagt Isabelle Bruniquet. „Ich weiß eigentlich selbst nicht, wer ich bin.“

Isabelle Bruniquet ist Kreolin. Vor 39 Jahren wurde sie auf Réunion geboren, einer Insel im Indischen Ozean, achthundert Kilometer östlich von Madagaskar. Ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern wurden ebenfalls auf Réunion geboren. Doch dann verlieren sich die Spuren der Familie auf drei Kontinenten, in Indien, Afrika und Europa.

Isabelle studierte in der Hauptstadt Saint-Denis französische Sprach – und Literaturwissenschaft. Sie liebt die französische Sprache und Literatur. Sie ist froh, dass Réunion politisch zu Europa gehört. Sonst hätte sie, die Tochter einfacher Leute, kaum die Chance zu studieren gehabt.

Sie war noch Studentin, als sie ein interessantes Angebot aus Deutschland bekam. An der Universität Bamberg arbeiteten Sprachwissenschaftler an der Erforschung der Kreolischen Sprachen. Sie erstellten ein Etymologisches Wörterbuch. Und Isabelle sollte dabei sein.

Das ist ihre Chance, die kleine Insel, um die man im Auto in drei, vier Stunden herum fährt, zu verlassen. Sie weiß schon lange, dass sie hier weg möchte, raus in die Welt, zu den Wurzeln ihrer Familie, ihrer Sprache.

Bamberg erschien ihr engherzig und kühl. Aber immerhin verliebte sie sich. In Bamberg kam ihr Sohn Lucien zur Welt. Nach zwei Jahren wurde ihr die Luft in der fränkischen Stadt zu knapp. Mit Mann und ihrem Sohn ging sie nach Berlin und fand Arbeit als Französisch-Lehrerin in einer privaten Sprachschule.

Einmal saß ihr einer ihrer Schüler auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn gegenüber. „Plötzlich sagte er: ‚Ich wusste es! Sie haben afrikanische Füße. Sie kommen aus Afrika’.“

Ein paar Wochen später blätterte die Französischlehrerin im Wartezimmer in einer Zeitschrift und las, dass Anthropologen nach der Länge des zweiten Zehs in griechische und ägyptische Füße unterscheiden.

Isabelle Bruniquet ärgert sich, dass körperliche Nebensächlichkeiten wie Zehenlängen und Hautfarben in Europa ein Thema sind.

Natürlich unterscheidet man auch auf Réunion die Cafres, die Nachkommen der Afrikaner von den Zarabes, den hellhäutigen Indern aus dem Norden und den dunkleren aus dem Süden, den Malbars. Man nennt die Nachkommen der armen Europäer P’tit blancs und die Kinder der Reichen Grand blancs, man spricht von den chinesischen yabs und den französischen Z’oreilles. Wessen Herkunft nicht mehr klar erkennbar ist, der gehört zu den Créoles. Wie Isabelle. Und niemand macht eine große Geschichte daraus, dass sie ein bisschen heller ist und trotz ihrer roten Haare richtig braun wird im Sommer. Was Haut, Haare und Augen angeht, ist auf Réunion, der Name bedeutet Versammlung oder Zusammenkunft, alles möglich.

Bis ins 18. Jahrhundert lebte kein Mensch auf der Insel. Dann kamen gleichzeitig Europäer, Asiaten, Afrikaner, die einen als Plantagenbesitzer, die anderen als ihre Sklaven und Bediensteten.

„Es ist nicht so, dass aus der Mischung eine neue Identität entsteht“, widerspricht Isabelle Bruniquet dem Kulturtheoretiker Edouard Glissant, als er im Französischen Kulturzentrum in Berlin zu Gast ist. Glissant hat eine Vision von der „Kreolisierung“ der Welt, die Theorie, dass sich die Kulturen im Zuge der Globalisierung so weit miteinander vermischen, dass die Identität der Menschen nicht länger aus tief verwurzelten Traditionen und Gebietsansprüchen genährt wird, sondern aus dem Geflecht der Begegnungen und Mischungen. Glissant glaubt, dass daraus neue kulturelle Ausdrucksmöglichkeiten entstehen. Dabei kritisiert er den „Kulturimperialismus“ der Kolonisatoren.
Isabelle sieht die Kolonialmacht Frankreich ambivalent. „Jeder auf Réunion ist froh über das Gesundheits – und Bildungswesen. Ich liebe die französische Kultur. Aber bin ich eine Französin? Nein. Obwohl ich in Berlin fühle, wie französisch ich bin.“

„Nimm dir von allem das Beste“, rät ihr Glissant, doch die rothaarige, weiße Kreolin findet darin keine Antwort. „Das beendet doch nicht diese Quälerei“, sagt sie.

Die Quälerei fing schon in ihrer Kindheit an. Obwohl in ihrem Elternhaus Kreolisch gesprochen wird, verbietet die Mutter Isabelle, draußen, auf der Straße oder in der Schule kreolisch zu sprechen, nicht, weil der Einwanderer-Mix, für den es keine einheitliche Schrift gibt, als offizielle Sprache verboten ist, sondern weil sie sich dafür schämt. „Wer kreolisch spricht, ist ein Depp“, sagt die Mutter. Kreolisch ist nicht die Sprache der Gebildeten. Ende der Siebzigerjahre existiert noch keine kreolische Literatur. Auf kreolisch werden Märchen von Generation zu Generation weiter gegeben. Es ist die Sprache der Sänger und der einfachen Leute, der Arbeiter, der Bauern. Als Isabelle zur Schule geht, publiziert lediglich die kommunistische Zeitung der Insel Artikel auf kreolisch. In den Siebzigerjahren kämpfen einige Intellektuelle dafür, dass die Sprache eine einheitliche Schrift bekommt, die sich möglichst von Französisch unterscheiden sollte. Sie gelten als radikal.

„Es ist meine Sprache“, sagt Isabelle. „Und es waren die Franzosen, die diese Sprache unterdrückt haben.“

Ihre Eltern verstehen bis heute nicht, dass sie sich ernsthaft mit ihrer Muttersprache auseinandersetzt, sie erforscht und sogar an einem Wörterbuch mitgearbeitet hat.

In der Berliner Wohnung von Isabelle stehen Regale voller französischer Literatur, zwischendrin Skulpturen und Instrumente aus Afrika. Sie lernt jetzt afrikanisch trommeln und tanzen. Sie hat sich auf die Suche nach Leuten von Réunion gemacht und tatsächlich einige gefunden. In Berlin sind sie zu dritt, es gibt noch jemanden in Dresden und mehrere im Rheinland. Sie haben den Verein „Reunion der Kulturen“ gegründet, den Verein zur Förderung der Kultur Réunions e.V.

In einer Ecke ihres Zimmers hat sie die Fotos ihrer Familie aufgehängt. Ihr sehr weißer Sohn Lucien neben dem dunklen Großvater. Die indische Urgroßmutter im Kreis ihrer Kinder.

„Auf Réunion“, sagt sie, „lebt man mehr in der Gemeinschaft. Wir lernen von klein auf, die Tabus der anderen zu respektieren. Es gibt jede Religion und eine Menge Aberglauben. Die Kirchen läuten, die Muezine rufen von den Moscheen. Und niemand beschwert sich, wenn er wegen einer religiösen Prozession im Stau steht. Wenn ich früher zu meiner Großmutter gegangen bin, habe ich darauf verzichtet, einen Ledergürtel zu tragen, weil es ihre religiösen Gefühle verletzt hätte. Sie glaubte, dass Kühe heilige Tiere sind.“

Es sieht aus wie ein kleiner Altar für ihre Ahnen, ein Ort der Sehnsucht. Vielleicht brechen Menschen auf und begeben sich an andere Orte, damit ihre Sehnsucht Namen bekommt. Die Namen der verlassenen Orte. Die Namen der Menschen auf den Fotos und den Gräbern.
In den Forts von Senegal, Ghana, Benin und Mosambik, an den Orten, an denen die Gefangenen Afrikas auf Schiffe verladen wurden, endet ihre Identität im Nichts.

Isabelle war erst einmal in Afrika. In Burkina Faso, der Heimat ihres Freundes. „Sie haben mich dort wie eine Einheimische behandelt“, erzählt sie. „Nicht wie eine französische Touristin. Niemand hat versucht, mich übers Ohr zu hauen.“ Sie spricht von der Solidarität der Afrikaner, dem Familiensinn, der ihr näher ist, als die zentrifugalen Ego-Kräfte Europas. Sie denkt, dass sie eher nach Afrika gehört als nach Europa.

Sie möchte dorthin zurück, die sogenannte Sklavenroute abfahren. Sie weiß, dass es unmöglich ist, die Wege der Sklaven nach Réunion nachzuvollziehen, aber sie hat in Erfahrung gebracht, auf welchen Wegen die Bevölkerung verschachert wurde, dass auch Schwarze Schwarze verkauften, die Stärkeren die Schwächeren. Sie hat gehört, dass es eine Route über Südafrika an die Ostküste gab, dass viele der Sklaven auch aus dem Landesinneren kamen, nur weiß keiner, aus welchen Ländern. In Burkina Faso hat sie Leute aus dem Tschad getroffen und Worte aus dem Kreolisch ihrer Heimat aufgespürt, mit derselben Bedeutung. Das ist noch kein Beweis. Es ist nur ein Gefühl, dass ihre Vorfahren möglicherweise von dort…?

„Aber solange ich auch suche“, sagt sie. „Ich werde es nie wissen.“

Die Schrittmacherin

Dagmar Gail kämpft um jeden Zentimeter Mensch

Ihr antiker Schreibtisch ist überladen mit Paragraphen und deren Deutungen, Entwürfen, Lexika, Briefen und Fachzeitschriften. Die Ordner stapeln sich nebenbei auf dem Teppich. Pfeif auf die Papiere. Das Telefon klingelt ununterbrochen an diesem Vormittag.

Eine Frau aus Suhl möchte sterben. Dagmar Gail kennt diesen Wunsch. Sie kann die Frau verstehen. Sie sagt: „Umbringen können Sie sich immer noch. Jetzt gehen wir erst einmal den nächsten Schritt. Das wird nicht einfach. Das wird weh tun. Danach sehen wir weiter.“ Sie schiebt die weißen, kurzen Haare flach aus der Stirn, bis sie ihr zu Berge stehen. Die Augen treten leicht hervor.

An den Wänden Fotos von Kongressen und Empfängen, wieder Briefe, besondere Briefe, Zeichnungen. Medizinische Plakate mit grafischen Darstellungen des menschlichen Gefäßsystems. Die Flüsse und Deltas der Adern. Rotes Blut. Blaues Blut. Blut, das fließt. Blut, das stockt.

Auf dem Empfangstisch für Gäste zwischen Orangen und Schokolade liegt das kleine Modell der Arterie, die sich im Bauch in zwei Arme, besser Beine, teilt und die unteren Extremitäten versorgt. Eine kleine, rote Hose zum Aufklappen. Drinnen wächst Plaque an den Wänden, dick und gelblich wie Zahnbelag. Periphere Arterielle Verschlusskrankheit heißt das und kostet jährlich ungefähr fünfzigtausend Deutschen ein Bein. Das will niemand hören. Das ist das Schlimmste. Lieber sterben als das.

Eine Frau mit kurzen, dunklen Haaren und weißen Perlen am Ohr bringt Kaffee von nebenan. Nadine Borchert ist noch keine dreißig Jahre alt. Sie hat Sozialarbeit studiert. „Wenn ich Freunden erzähle, dass ich für die Amputierten-Initiative arbeite, dann sehen sie mich meist erschreckt an. Ich habe sogar den Eindruck, dass sie ein Stück von mir abrücken.“

Die Dame mit den weißen Haaren hat aufgelegt. Sie wählt sofort die nächste Nummer. „Wenn Sie die Prothesenversorgung ablehnen“, erklärt sie, „wird die Patientin gerichtlich dagegen vorgehen. Ich werde Ihnen Urteile faxen, die Amputierten in der Vergangenheit das Recht auf eine wasserfeste Prothese zugestanden haben. Ich weise Sie darauf hin, dass Richterrecht nicht durch die ökonomischen Interessen der Krankenkassen verworfen wird.“

Vor sechzehn Jahren hat Dagmar Gail die Amputierten-Initiative e.V. in Berlin gegründet. Seit Beginn leitet sie den Verein ehrenamtlich. Die Amputierten-Initiative e.V. hat ihren Sitz in einem modernen Haus zwischen den Villen am Schlachtensee. Es ist der einzige Verein in Deutschland, der sich um die Bedürfnisse Amputierter kümmert und durch Aufklärung Amputationen zu verhindern hilft.

Einst, als sie auf zwei gesunden Beinen im Leben stand, leitete Dagmar Gail eine Künstler – und Konzertagentur. Berühmtheiten wie der Schauspieler Karl-Heinz Böhm waren bei ihr unter Vertrag. Doch als sie ihre zweite Karriere als Juristin aufbauen wollte, sie war Mitte vierzig, begannen die Schmerzen im Bein. Wahnsinnige Schmerzen.

Heute weiß sie, dass die Amputation hätte verhindert, zumindest aber um einige Jahre verzögert werden können. Heute weiß sie alles über Untersuchungen wie ABI, den Knöchel-Arm-Index oder CW-Dopplersonographien und präventive Maßnahmen wie Infusionen und Bypässe.

Damals musste sie die Fehldiagnose auf Gelenkkapselentzündung hinnehmen und falsche Medikamente schlucken, anschließend mehrere Bypass-Operationen über sich ergehen lassen, bis der Unterschenkel doch amputiert wurde.

Dagmar Gail spricht über dringend notwendige Aufklärungsmaßnahmen und Ärzte, die einfache Gefäßuntersuchungen anstellen könnten, es aber nicht tun und über Spezialisten und Gefäßkliniken, mit denen der Verein zusammenarbeitet. Sie spricht ohne Punkt und Komma, immer wieder unterbrochen vom Telefon. Auflegen. Weiter. Als wäre das ihre letzte Gelegenheit, jenes Wissen, das rings um ihren Schreibtisch gestapelt liegt, nach draußen zu geben, auf dass es die Gesunden erreicht. Doch für die Jogger und Nordic-Walker da draußen tönt das Wort Amputation wie ein düsterer Kanonenschlag von längst überwucherten Schlachtfeldern her. Wie jeden Morgen sporteln sie an dem Haus vorbei zum Grunewald.

Allenfalls hat man vom Raucherbein gehört. Ein Wort, dass augenblicklich den nächsten Aufklärungsschwall bei Dagmar Gail auslöst. Eine Schuldzuweisung sei diese Bezeichnung, zumal nicht allein das Rauchen die Ursache des sogenannten Raucherbeins sei, sondern eine Vielzahl anderer Faktoren.

Dann schweigt sie. Sie steht auf und läuft. Sie muss sich auf jeden Schritt konzentrieren. Jeder Schritt schmerzt. Sie steht noch immer mit beiden Beinen im Leben, nur dass es jetzt langsamer vorwärts geht, was normalerweise kein Nachteil sein müsste. Starrer und schmerzhafter als das Bein aus Holz und Draht sind die ökonomischen Zwänge der Gesellschaft, die mehr und mehr von Eng – und Kleindenkern vollstreckt werden. Wieso sie sich für einen Mann engagiere, der dem Krankenhaus täglich fünftausend Euro koste?, herrschte sie kürzlich ein Arzt aus Dresden an. Und der außerdem sein Leben lang geraucht habe.

„Das Ziel unserer Arbeit ist, Beine und Arme zu retten“, sagt sie, als sie den kleinen Gästetisch erreicht und Platz genommen hat. „Die meisten Amputationen könnten nämlich verhindert werden, wenn man rechtzeitig untersuchen und präventive Maßnahmen einleiten würde.“

Betroffenen will der Verein helfen, auf die Ersatz-Beine zu kommen, Schritt für Schritt ein verändertes Leben zu erlernen, einen neuen Sinn zu begreifen. Die Amputierten-Initiative vermittelt an Geh-Schulen, Psychologen, Physiotherapeuten und andere Spezialisten sowie an Gefäß-Kliniken, die sich um den Erhalt des gesunden Beines bemühen.

„Wissen Sie, was das beste Erlebnis für den zwölfjährigen rumänischen Jungen war, der bei einem Unfall beide Beine verloren und jahrelang nur im Rollstuhl gesessen hatte? Als er mit den Prothesen laufen konnte, dieser Moment, als er endlich ohne Begleitperson zur Toilette gehen konnte, hat ihm ein neues Selbstbewusstsein gegeben.“

Mehr als eintausend Anfragen gehen pro Jahr bei der Amputierten-Initiative ein. Dagmar Gail weiß, welche Hilfsmittel es gibt und steht den Betroffenen zur Seite, wenn sie um ihre Rechte kämpfen müssen. Sie akzeptiert nicht, dass die Mitglieder gesetzlicher Krankenkassen zunehmend von den Errungenschaften des medizinischen Fortschritts ausgeschlossen werden. Dafür legt sie sich mit Krankenkassen und Oberärzten an.

Da ist die Sechsundziebzigjährige, die morgens sieben Uhr von einer Gutachterin aus dem Bett geklingelt wird. Unangemeldet. Sie wolle sich ein Bild machen, wie die Patientin mit ihrer Morgentoilette zurecht käme.

„Haben Sie keine Fantasie?“, schimpft Dagmar Gail in den altmodischen, weißen Hörer. Ihre Augen treten noch ein Stück weiter aus den Höhlen. „Können Sie sich nicht vorstellen, wie eine ältere Dame mit einem Bein morgens aufsteht und zur Toilette und ins Bad geht?“

Mit Spardruck von oben redet sich die Sachbearbeiterin der Krankenkasse am anderen Ende heraus. Man müsse Maßnahmen zur Prüfung der Fälle abrechnen.

„Wir fühlen uns mehr und mehr abgeschoben, in eine Ecke gedrängt“, sagt Dagmar Gail. „Und jetzt ist der Bart ganz ab.“

Gestern abend habe sie den Entwurf des neuen Hilfsmittelverzeichnisses von den Spitzenverbänden der Krankenkassen bekommen und noch in der Nacht überflogen. „Ich bin zusammen gebrochen“, sagt sie. Man glaubt es der ungemütlichen Fünfundsechzigjährigen nicht so recht, dass auch sie, deren Ehrenamt darin besteht, permanent zu nerven, zusammenbrechen könnte. Bereits heute hat sie ihre Wut gebündelt und sämtliche Einsprüche in einem Brief formuliert.

In dem neuen Verzeichnis finden sich Sätze wie der folgende: „Das Wirtschaftlichkeitsgebot schließt eine Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenkasse für solche Produkte aus, deren Gebrauchsvorteile nicht die Funktionalität, sondern in erster Linie die Bequemlichkeit und den Komfort betreffen.“ Doch wer legt fest, wo Funktionalität aufhört und Bequemlichkeit anfängt? Wer darf sich anmaßen, über die Lebensqualität eines anderen zu entscheiden? „Respektlosigkeit gegenüber dem demokratischen System der Bundesrepublik Deutschland“, wirft Dagmar Gail den Spitzenverbänden vor.

Dagmar Gail referiert regelmäßig auf Fachkongressen. Nadine Borchert, die junge Sozialarbeiterin, hielt in diesem Jahr ihr erstes Referat zur psychosozialen Bewältigung nach Amputationen auf dem Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie.

Richard von Weizsäcker schickt regelmäßig aufmunternde Worte. Der Verein erhält Briefe wie jenen von Professor Diehm aus dem Klinikum Karlsbad-Langensteinbach: „Im übrigen sehe ich überall die Spuren Ihrer Arbeit. Ich kann Sie dafür nur beglückwünschen. Sie bewerkstelligen politisch mehr als viele große andere Organisationen.“ Schöne Worte, doch die Vereinskasse füllen sie nicht.

Draußen joggen die Gesunden vorbei. Der Computer an ihrem Knöchel mißt Puls, Herzfrequenz und Energieverbrauch. Dagmar Gail fühlt sich immer häufiger am Ende ihrer Kraft. Sie zweifelt, ob ihre kleine Widerstandszelle ausreicht, immer und immer wieder gegen die Ausgrenzung derer, die nicht mehr effizient funktionieren, anzukämpfen.

Wie lange sie den Verein noch halten, wovon sie ihre junge Mitstreiterin Nadine Borchert in den nächsten Jahren bezahlen soll, das weiß sie noch nicht.

Der Ungleichgestellte

Berliner Zeitung

Der Zahnarzt Ali Al-Akla hat keine Probleme, in Berlin eine Arbeit in seinem Beruf zu finden. Aber er darf ihn nicht ausüben.

Dreizehn Jahre sind vergangen, seit der Zahnarzt Ali Al-Akla mit seiner Frau und seinen zwei Kindern aus Libyen nach Deutschland kam. Damals war er vierunddreißig Jahre alt. Die Familie hatte nicht viel Gepäck und kein Vermögen, doch Ali und Ina Al-Akla waren voller Hoffnung. Ihre gute Ausbildung würde ihnen auch in Deutschland weiter helfen. Der Zahnarzt brachte Berufserfahrungen aus einer modernen Praxis mit.

Heute ist Ali Al-Akla siebenundvierzig Jahre alt, ein Alter, in dem einige Menschen noch jung, andere schon alt sind.

Herr Al-Akla trägt das dunkle Haar kurz geschnitten. Er ist schlank. Seine Haut ist glatt.

Doch seine Stimme klingt matt und so gleichförmig wie die Linie eines erloschenen Herzens.

Er sitzt in seiner Wohnung in der Friedrichstraße, an deren glanzlosen Ende, in Kreuzberg. Auf dem Tisch und dem Sofa rings um ihn stapeln sich Papiere: Anträge und Bewerbungen. Zu- und Absagen. Zertifikate. Listen mit den Paragraphen der Aufenthaltstitel und deren Bedeutung. „Paragraph? Absatz? Satz eins oder zwei?“, fragen die Sachbearbeiter auf den Behörden, um die Al-Aklas in der richtigen Kartei ab – und stillzulegen. Dabei möchte der Zahnarzt nur eins: Endlich in seinem Beruf arbeiten.

Die Paragraphen, Absätze und Sätze haben Herrn Al-Akla müde gemacht. Es scheint, dass sein Leben in Deutschland nur um Papiere kreist.

Aus Gewohnheit kleidet er sich jeden Morgen elegant. Kaum, dass sie in Berlin angekommen waren, hat er sich auf die Suche nach einer Arbeit gemacht. Immer, wenn er an einer Zahnarztpraxis einen arabischen Namen las, ging er hinein und stellte sich vor. „Al-Akla. Ich habe am Staatlichen Medizinischen Institut Donezk in der Ukraine studiert. Danach praktizierte ich in Libyen.“

Mehrere Zahnärzte bescheinigen ihm, dass sie ihn einstellen, sobald er eine Aufenthaltsgenehmigung hat und arbeiten darf.

Das dauert. Erst im Jahr 2004 erhält die Familie nach jahrelanger „Duldung“ eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Der Zahnarzt stellt einen Antrag auf Berufserlaubnis beim Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales. Doch die Behörde lehnt ab. „Nach den Bestimmungen des Zahnheilkundegesetzes ist die Behandlung der hiesigen Bevölkerung Deutschen und Staatsangehörigen eines der übrigen Mitgliedsstaaten des Europäischen Wirtschaftsraumes vorbehalten.“

Im Gesetz steht die Staatsangehörigkeit sogar an erster Stelle vor weiteren Voraussetzungen für den Ärzteberuf.

„Warum sind Sie hierher gekommen?“, habe ihn die Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde bei einem Besuch gefragt, erzählt Al-Akla. Sie hätte die Frage nicht gestellt, weil sie an diesem Palästinenser, der statt einem Pass nur ein Reisedokument besitzt, das ihn als staatenlos auswies, sonderlich interessiert gewesen wäre.

„Weil Sie hier Geld machen wollen, nicht?“ hätte die Frau gesagt.

Und Herr Al-Akla habe geantwortet: „Ich bin gekommen, um zu arbeiten. In meinem Beruf als Zahnarzt.“

Doch das ist nur die halbe Antwort. Die Al-Aklas sind nach Deutschland gekommen, um ihr Leben zu retten.

1995 forderte die libysche Regierung alle Palästinenser auf, das Land binnen dreißig Tagen zu verlassen, eine Reaktion auf die Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern. Eine Rückkehr in den Libanon, wo Ali Al-Akla vor seinem Studium in der Sowjetunion lebte, ist nicht möglich. Der Libanon verweigert Palästinensern die Einreise. Das Ehepaar beschließt, Zuflucht in Deutschland zu suchen, weil sie hier Verwandte haben.

Die ersten Jahre lebt die Familie in einem Heim für Flüchtlinge. Sie gelten als „illegal eingereist“. Ob sie bleiben können, ist lange ungewiss.

In der Praxis von Ghassan Douedari in Friedenau brummt noch der Bohrer, obwohl die Sprechzeit seit einer Stunde vorbei ist. Das Behandlungsbesteck klappert auf den Glasplatten.

Die Patientin, ein arabisches Mädchen, spült wenig später den Mund aus, steht auf und schüttelt das lange Haar. Die Zahnarzthelferin bereitet den Platz für den nächsten Patienten vor. Eine verschleierte Praktikantin schaut ihr dabei zu, die Daumen lässig in den Taschen ihrer bauchfreien Jeans.

„So ist es jeden Tag“, sagt Ghassan Douedari. Er mag älter sein als Ali Al-Akla, doch seine Stimme klingt ruhig und fest. Er streift die Gummihandschuhe ab und fährt mit der flachen Hand über die kahle Stirn. Seine braunen Augen hinter den kleinen, runden Brillengläsern zeigen keine Spur von Müdigkeit. „Heute kamen nur unangemeldete Patienten.“ Fünfzig Prozent seiner Patienten sind Araber, dreißig Prozent Deutsche, der Rest ist gemischter Herkunft.

Ghassan Douedari würde Herrn Al-Akla sofort als Assistenzarzt einstellen. „Er spricht fließend russisch und arabisch. Das können wir in der Praxis gut gebrauchen.“ Zweitausendfünfhundert Euro würde er Herrn Al-Akla monatlich zahlen. Das hat er ihm wiederholt schriftlich bestätigt. Hätten die Al-Aklas dieses Einkommen, stünde einer dauerhaften Aufenthaltserlaubnis nichts mehr im Wege. Doch es ist umgekehrt. Erst muss die Familie ohne staatliche Hilfe für ihr Einkommen sorgen, dann dürfen sie bleiben, dann darf Herr Al-Akla vielleicht als Zahnarzt arbeiten.

Das Landesamt für Gesundheit und Soziales weiß, dass Ghassan Douedari seinen jüngeren Kollegen wegen dessen Sprachkenntnissen sofort einstellen würde, lehnt aber dennoch ab, weil „kein Patient ein Anrecht auf eine Behandlung in seiner Muttersprache hat.“

Ghassan Douedari kommt aus Syrien. Er hat in Berlin studiert und längst eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. Damit erfüllt er eine der Voraussetzungen, unter denen auch Ärzte von außerhalb der Europäischen Union in Deutschland arbeiten dürfen.

Denn während ein Arzt aus der EU einen Rechtsanspruch auf eine Berufserlaubnis in Deutschland hat, müssen Ärzte aus anderen Ländern sich darum bewerben. Dabei spielt es keine Rolle, wo sie ihre Ausbildung gemacht haben. Ein deutscher Arzt, der sein Diplom in Südamerika gemacht hat, besitzt allein aufgrund seiner Staatsangehörigkeit das Recht, hier zu arbeiten, während ein Südamerikaner, der in Deutschland studiert hat, keinen Anspruch darauf hat.

Ärzte, die an Universitäten außerhalb der EU studiert haben, müssen lediglich in einer sogenannten Gleichwertigkeitsprüfung beweisen, dass ihre Ausbildung dem europäischen Standart entspricht. Die Bundeszahnärztekammer warnt ausländische Bewerber auf ihrer Informationsseite im Internet vor der hohen Durchfallquote.

Doch bis zur Gleichwertigkeitsprüfung wird Ali Al-Akla gar nicht vorgelassen. Zuerst braucht er die Berufserlaubnis.

Georg Classen vom Flüchtlingsrat Berlin hat sich mit der Geschichte der Berufsordnungen für Ärzte beschäftigt. Er verweist auf die Reichsärzteordnung von 1935. In diesem Jahr wurde zum ersten Mal ein gesetzlicher Rahmen für die Ausübung des Ärzteberufes in Deutschland geschaffen. Verschiedene Ärztebünde hatten dies bereits in den Zwanzigerjahren immer wieder gefordert. „Anfänglich war in der Bundesrepublik, wie bereits in der Nazizeit, lediglich die deutsche Staatsbürgerschaft als Basis für den Arztberuf anerkannt“, erklärt Georg Classen. „Weil der generelle Ausschluss von Ausländern gegen EU-Recht verstieß, hat man das Recht auf Approbation später auf EU-Angehörige erweitert.“

Mittlerweile steht Paragraph im Widerspruch zu dem neu geschaffenen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, nach dem niemand aufgrund seiner Herkunft benachteiligt werden darf.

Das Land Berlin hat eine entsprechende Bundesratsinitiative veranlasst. Man wartet nun die Stellungnahmen der Berufsverbände ab.

Ali Al-Akla arbeitet seit November 2006 tagsüber als Berater in einer Nachbarschaftshilfe. Abends erledigt er die Buchhaltung in einer Arztpraxis. Seine Frau Ina jobbt als Kindermädchen.

Die Anwältin der Familie, Veronika Arendt-Rojahn ist überzeugt, dass die Familie nun eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen wird. Dennoch sieht sie wenig Chancen für ihren Mandanten. „Es gibt in Berlin genügend Zahnärzte, auch fremdsprachige. Das reicht als Begründung, um die Berufserlaubnis auch in Zukunft zu verweigern.“

Es gibt noch einen Trick, der Herrn Al-Akla relativ flott zu einer Berufserlaubnis verhelfen könnte. Die Ehe mit einer EU-Bürgerin würde ihn rechtlich privilegieren.

„Soll ich etwa meine Frau verlassen, um arbeiten zu können?“ Er schüttelt den Kopf. Seine Frau Ina ist Ukrainerin. Sie haben sich in den Achtzigerjahren während des Studiums in der Sowjetunion kennengelernt. Ina ist Germanistin. Sie ist dreiundvierzig Jahre alt, eine attraktive Frau, groß und schlank. Das schmale Gesicht wird von den dunklen Augen dominiert.

Sie hat nicht bereut, nach Deutschland gegangen zu sein. „Für die Kinder ist es besser, in einem freien Land aufzuwachsen“, sagt sie. Sohn Rami hat im vergangenen Jahr ein Studium an der Technischen Fachhochschule begonnen. Die Tochter Anna macht gerade ihr Abitur.

Theoretisch könnte sich Ali Al-Akla von seiner ukrainischen Frau, die zwar Europäerin, aber keine EU-Bürgerin ist, trennen und eine Frau von Martinique, die zwar keine Europäerin, aber EU-Bürgerin ist, heiraten, vorausgesetzt, sie lebten beide in Berlin. Willkommen in der Absurdität!

Das Herz, das nicht leuchtet

Berliner Zeitung

Christopher sucht die Liebe und läuft vor ihr davon. Könnte ja das Ende der Kindheit sein

Noch eine letzte Diode, dann ist die zierliche Kette komplett. Christopher setzt den Lötkolben ab. Er montiert die zwei Hälften des Leuchtbuchstaben zusammen. Es ist ein rosa S. Sein Auftraggeber möchte es einer Freundin zum Geburtstag schenken. Es ist der Anfangsbuchstabe ihres Namens. Sarah? Selma? Samantha?

Christopher schiebt eine Haarsträhne, die sich aus seinem dunklen Pferdeschwanz gelöst hat, hinters Ohr.

Gestern stand seine Annonce wieder in der Zeitung. Bis jetzt hat sich noch niemand gemeldet.

Die Zeit vergeht schnell. Die Jahreszahlen klappern hintereinander weg und nichts geschieht.

Man kann ganz gut allein leben in Berlin. Tut nicht weh. Es gibt Cafés, Clubs, Läden und immer was spannendes im Radio. Trotzdem. Nee, es geht ihm um viel mehr als Sex. Sex kann er an jeder Ecke kaufen. „Ich hätte ein so beschissenes Gefühl, dafür bezahlen zu müssen“, sagt Christopher. „Als ob ich so häßlich bin, dass ich es nicht auch anders haben kann.“

Ist schon ziemlich lange her, dass er Lust hatte, einer Frau das Wort ENGEL aus naturweißem, mattem Plastik auf seinem CNC-Bohrer zu schneiden und anschließend zum Leuchten zu bringen. Dabei ist alles da: Dioden, Kabel. Die Folienrollen und Kunstoffplatten in frischen Farben stapeln sich an den Wänden seiner Werkstatt. Es kann also los gehen. Doch Christophers Herz bleibt ausgeknipst.

Er schlägt das rosa S in Seidenpapier und packt es in einen kleinen Karton. Werbeschilder, Leuchtbuchstaben und – Tafeln – die Aufträge reißen nicht ab. Sie kommen aus ganz Deutschland. Meist von Firmen. Über die Breite zweier unbenutzter Sessel liegt ein halbfertiges Ladenschild. Christopher hebt es auf den Arbeitstisch zwischen die Computer.

Die Frauen, die auf seine Annonce schreiben, schicken gewöhnlich zuerst eine SMS. Er antwortet umgehend. Dann folgt eine weitere SMS. „Dieses Scheiß-Gesimse nervt“, sagt er. „Was soll ich mit einer Frau, die keine Lust hat, mit einem Typen zu reden?“ Einmal hat eine Frau sofort angerufen. Sie haben sich gut verstanden. Sie wollte ihn noch am selben Abend treffen. Christopher ist wieder raus aus dem Bett und losgezogen. „Naja, war nicht so mein Typ.“

Die meisten Frauen langweilen ihn. „Die gehen jeden Tag ins Büro, einmal in der Woche ins Kino, aber eigentlich interessiert sie nichts. Außerdem sind sie gekleidet, als sei es ihnen egal, was sie früh aus dem Schrank zerren. Kein bißchen sexy. Keinen Mut aufzufallen.“

Christopher sticht auch nicht gerade durch Originalität ins Auge. Sweatshirt, Jeans, Stiefel – alles in schwarz. „Ok, das ist jetzt mein Alltagslook, aber wenn ich in einen Club wie das K17 gehe, trage ich schon mal ein Lackhemd.“

In die Gothic-Läden geht er kaum noch. „Da sind doch nur Leute, die sich über ihre Klamotten und Musik definieren, im Grunde auch Spießer.“

Wichtiger findet Christopher, miteinander reden zu können, über die vielen Themen, die ihn beschäftigen: Kultur im weitesten Sinne, nicht die Theater und Museen, sondern die Straße, die Leute, gesellschaftliche Phänomene, Liebe natürlich. Er möchte Radio machen, so rotzig frech wie Thommy Wash, sein Lieblingsmoderator auf Fritz, eine Sendung wie BlueMoon, wo alle anrufen können, reden, diskutieren, lästern. Radio im Web.

Er hält sich für schräg, provokant, zu wenig angepasst. Bei der Zielgruppe käme das nicht gut an. Auch optisch entspreche er eben nicht dem Geschmack der Masse.

Seine Lippen sind schmal, kein Kussmund wie aus der Werbung und auch sonst ist er nicht gerade ein Alphatier, ein normaler Mann also, nicht schöner und nicht weniger sexy als sieben Achtel aller Berliner. Er ist groß und schlank, die vollen Haare sind frisch gewaschen, die Cowboystiefel geputzt. Er ist bereit.

Seine Traumfrau sollte auf keinen Fall älter als dreißig Jahre alt sein, schön und schlank, stilvoll und gebildet. „Warst du jemals in einer Partnerbörse im Internet? Wenn du siehst, wie oft Frauen unter dreißig angeklickt werden, kannst du als Typ nur noch einpacken. Du musst eine junge Frau sein. Dann wirst du überall angemacht.“

Zu spät, sich auf die Seite der Zielgruppe zu stehlen und eine junge Frau zu werden. Christopher ist dreiundvierzig Jahre alt. In der Annonce mogelt er sich jünger. Glaubhaft. Die Geste, mit der er das volle, schwarze Haar aus dem Gesicht wirft, gerät so unbeschwert wie vor zwanzig Jahren.

Er glaubt, dass eine Frau seines Alters nicht zu ihm passt. „Die haben doch längst das ganze Programm hinter sich: Scheidungen, Streit um die Kinder und den Unterhalt.“ Er verzieht leicht angewidert den Mund. „Die tolle Ausstrahlung ist dann weg. Das erste Leben, in dem alles unkompliziert und lustig war, ist ein für allemal vorbei. An dem Spruch: ‚Trau keinem über dreißig‘ ist schon was dran.“

Er selbst ist die Ausnahme. Logisch. Er hat das Programm ja noch nicht einmal in Ansätzen absolviert. Keine seiner Beziehungen hielt länger als ein Vierteljahr. Was dauerhaftes wäre beengend. Es würde nach der Normalität des Programms stinken, das Pippi-Langstrumpf-Gefühl gefährden. „Ich baue mir die Welt, wie sie mir gefällt“, zitiert er. Seine Augen blitzen kindlich.

Der Balkon vor seiner Werkstatt ist ungenutzt, die dünne Schneedecke verharscht. Er geht da nicht raus, guckt den anderen nicht in die Zimmer -er würde entdecken, dass es bei den meisten Singles ganz ähnlich aussieht- er döst nicht über die Dächer, träumt nicht einfach so ins Blaue, etwas Neues, eine Frau in seinem Alter beispielsweise, die sich locker jünger mogeln kann und das Programm noch nicht hinter sich hat.

Er bleibt über die Leuchtbotschaften auf den Schildern gebeugt, schneidet, bohrt, lötet und grübelt sich die Welt, wie sie ihm nicht gefällt.

Das Problem sei, dass sie ihn manchmal für einen großen Jungen hielten. Und wenn sie dann miteinander ausgingen und erlebten, wie schräg und provokant er wirklich drauf sei, dann war’s das eben. „Habe schon öfters gehört, ich sei verletzend.“

Er trifft durchaus spannende Frauen. „Begegnungen, bei denen sofort ein Funke überspringt, ein Wort das andere gibt, wo alles stimmt, ohne dass man sich groß anstrengen muss.“

Es ist noch gar nicht lange her, dass er in einem Club eine Gleichgesinnte kennengelernte, eine von diesen Frauen, die sich nirgends langweilen. Nennen wir sie Lisa. Lisa ist vierunddreißig, aber alle halten sie für fünfundzwanzig. Sie tanzen die ganze Nacht. Lisa sagt, dass sie ihn unbedingt wiedersehen möchte. Am nächsten Tag bestätigt sie es in einer SMS: „Lass uns einen Kaffee trinken, sobald ich wieder in Berlin bin.“

Lisa ist dann nach Thüringen gefahren. Nicht für ein Semester nach New York, auch nicht zu einem Praktikum nach Melbourne. Einen Moment lang blickt Christopher, als hätte er das ganze Programm längst hinter sich. Egal, ob Lisa eine Tante besucht hat oder auf dem Rennsteig wandern ging, die Reise nach Thüringen bestätigt wieder mal das Naturgesetz, dass schöne, sympathische Frauen jede andere Beschäftigung einem Rendezvous mit ihm vorziehen würden. So hat er es festgelegt. Da kann sie funken, solange sie will, er ruft nicht zurück.

Aus Angst vor Enttäuschung? „Habe nicht so gute Erfahrungen mit anrufen gemacht.“ Christopher springt schnell zum nächsten Thema. Könnte ja sein, dass der Gefühlssturm der unerfüllten Erwartungen und verletzten Gefühle wieder losbricht, wenn Mann es sich gerade gemütlich machen will. Frauen sind unberechenbar.

Er trudelt in seinem Schreibtischstuhl hin und her. Über seinem Kopf hängt in lila Leuchtbuchstaben das Wort: SALE.

Christopher hat niemals einen Beruf gelernt. Das Abi schmiss er kurz vor den Prüfungen. Danach machte er sich als Siebdrucker selbständig. Er flüchtete aus seinem Heimatort in Hessen nach Berlin, weil die Jungs in der Vier-Mächte-Stadt vom Wehrdienst befreit waren. In Berlin führt er ein Fotosatzstudio, nach der digitalen Revolution im Druckgewerbe baute er Möbel und verkaufte sie in einem eigenen Laden. Mit den Werbeschildern hat er vor drei Jahren angefangen.

Alle Handwerke hat er sich selbst beigebracht. Und immer allein gearbeitet. „Man muss sich etwas einfallen lassen, um oben zu bleiben. Ich liebe diese Herausforderung. Ich konkurriere gern mit anderen. Das heizt die Phantasie an. – Ach komm, mit Kunden, das ist doch ganz anders als mit Frauen. Man kann das nicht vergleichen. Das ist so daneben wie diese Verkaufs – und Vermarktungsseminare, bei denen sie den Leuten beibringen, sich zu verbiegen, um Kohle zu machen. Lieber fahre ich nur ein kleines Auto und bleibe ich selbst.“

Lisa hat wieder eine SMS geschickt. Er öffnet sein Telefon und klickt sich durch die Kurznachrichten bis zu ihrem Gruß. Er hat sofort geantwortet. „Jetzt lass uns endlich wie normale Menschen kommunizieren. Schick mir doch deine Email-Adresse.“ Er hat Lisa eine Mail geschrieben, sie um ein Date gebeten. „Nichts.“ Sein Gesicht gerät zerknirscht. „Ich will mich da nicht investieren. Eigentlich interessiert sie mich nicht mehr. Wenn jemand immer nur SMS schickt…was ist das für eine Art, miteinander umzugehen?“

Letztes Wochenende hat er im Duncker eine Frau getroffen. Sie haben die ganze Nacht gequatscht. Blieb kaum Zeit für ein zweites Bier. Am Ende sagte sie, dass sie einen Freund hat.

Noch in derselben Nacht hat er ihren Namen in eine Internet-Suchmaschine getippt und ihre Firma mit sämtlichen Telefonnummern gefunden. Er wisse ja, dass er sich von der Sache mit dem Freund nicht abschrecken lassen sollte. Schließlich sei sie allein tanzen gegangen. Vielleicht läuft zwischen den beiden gar nichts mehr. Einen Versuch wäre es wert.

„Ich glaube allerdings, ihr Typ hängt mit in der Firma drin. Was soll ich am Telefon sagen, wenn er rangeht?“

Christopher blickt verunsichert auf das Telefon in seiner Hand. Er wendet es hin und her wie ein heißes Brötchen. „Ich werde ihr eine SMS schicken. Nur ein einziges Wort: Duncker.“

Berliner Notiz-Blog 16. Januar 2008

Der Mann in der dünnen Jacke läuft mit hoch gezogenen Schultern durch den eisigen Regen bis zur U-Bahn-Station Weinmeisterstraße. Es ist Samstagmorgen, acht Uhr. Die Straßen in Mitte sind noch grau und verlassen.

Der Mann trippelt die Stufen hinab. Auf dem U-Bahnhof ist es so still wie in einer Kathedrale. Der Bäckerladen, sonst eine kleine Insel aus Licht, gefüllt mit frisch gebackenen Brötchen und Croissants, ist mit einer Jalousie verrammelt. Die Schritte des Mannes hallen in dem leeren Gewölbe.

Auf dem Bahnsteig hockt eine verschrumpelte, auffällig gekleidete Gestalt neben dem Fahrkartenautomaten. Sie wird erdrückt von einem Hut, auf dem sich schillernde Stofflagen und allerlei Trödel häufen: Plastikfrüchte und Kunstblumen, Bommeln und Federn, sogar Teile von Fahrrädern. Graue Haare fusseln darunter hervor. Die müden Augen des Alten stehen im seltsamen Kontrast zu seinem Kostüm. Er sitzt völlig reglos, blickt erst auf, als der Durchnässte von draußen neben ihm auftaucht. Der Alte mustert den anderen. „Regnets draußen?“ fragt er apathisch mit heller, brüchiger Stimme.

„Es gießt seit einer Stunde.“ Der andere schüttelt sich den Eisregen aus dem Haar. „Und?“ fragt er.

Der mit dem Hut schüttelt langsam den Kopf. „Noch nüscht.“

Der durchnässte Mann bleibt neben der Bank stehen und zieht den Rotz hoch. Er hält die Schultern noch immer bis an die Ohren gezogen, die Hände in den Hosentaschen versenkt. Sie schweigen.

„Ich habe nächste Woche nicht viel zu tun“, sagt der mit dem Trödel. „Ein paar Modenschauen, eine in Quedlinburg.“

„Im Harz?“ Der andere schnieft. „Da musst du aber gut einkaufen vorher. Da kriegste nüscht.“

„Doch, da kriegste was“, entgegnet der Trödelhaufen. „Ist aber schwierig.“

„Das ist ehemalige DDR“, sagt der Durchnässte. „Ich war mal in Saalfeld. Da gabs nüscht. Da stand ich da. Ich sag’s dir.“ Sie schweigen wieder. Oben dröhnt ein Auto vorbei.

„Deine blonden Freunde lassen sich Zeit“, sagt der Fröstelnde.

„Ich warte seit zwei Stunden“, antwortet der Trödel.

Ein Zug donnert in den Bahnhof. Zwei, drei Nachtschwärmer kippen aus den Türen, stemmen sich gegen den Luftzug der abfahrenden Bahn. Sie nehmen den Ausgang Münzstraße. Dort sind die Clubs, die am Wochenende durchmachen.

Dann herrscht wieder Kirchenstille. Die beiden Männer sitzen nebeneinander auf der Bank. Der Trödelhaufen starrt apathisch vor sich hin. Der andere fröstelt noch immer.