Zwischen den Welten

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Das Magazin November 2007

Anna aus Armenien kam nach Deutschland. Sie arbeitete als Au-pair-Mädchen, jetzt will sie studieren. Vieles im Alltag ist ihr fremd, und natürlich hat sie Heimweh. Doch an eine schnelle Rückkehr denkt sie nicht

„Weiß jemand von euch, wie alt Yerivan ist?“, fragt Anna, die Lehrerin im armenischen Gemeindehaus. Erwartungsvoll blickt sie die Schüler an. Sie trägt eine weiße Bluse, einen schmalen, schwarzen Rock und Stiefel. Sie lächelt geheimnisvoll wie eine Geschichtenerzählerin, die kurz vor der Pointe die Spannung hält. Ihr Haar ist am Hinterkopf so locker gesteckt, dass die dunkle Masse jeden Moment abzustürzen droht. An ihren Ohren hängen runde, fein ziselierte Silberringe mit Kettchen, die bis zum Kinn reichen.

Sie erzählt ihren Schülern von der Festung Yerivan, die im Jahr 782 vor Christus erbaut wurde. Die kleine Eva war in den Ferien das erste Mal in Armenien. Warand war schon mehrmals dort. „Ich habe den Ararat gesehen“, sagt er. Die Erwähnung des Gebirges Ararat erzeugt einen Moment Stille in dem kleinen Raum. Die Kinder kennen das Land ihrer Eltern nur von gelegentlichen Besuchen. Sie sind in Deutschland geboren. In Berlin.

Deshalb ist deutsch die vertrautere Sprache für sie, aber Anna Schavinyan, die Lehrerin, besteht darauf, dass sie wenigstens einige armenische Sätze bilden. Die Lehrerin ist jung. Einundzwanzig Jahre. Sie hat keine pädagogische Ausbildung. Sie arbeitet dreimal in der Woche als Verkäuferin in einem Seifenladen. Seit gestern weiß sie, dass sie in Deutschland bleiben und hier studieren kann.

Die armenischen Gemeinden zahlen ihr für den Unterricht ein symbolisches Honorar. Anna würde diese Arbeit auch ohne Honorar tun.

Sie spricht gern über Armenien. Es hilft gegen das Heimweh.

Das Gemeindehaus in Berlin Charlottenburg ist der einzige Ort in Berlin, an dem sie sich zu Hause fühlt. Hier spricht alles armenisch, die Menschen und die Bilder an den Wänden, das Foto des Ararat zum Beispiel, wie er aus einem Wolkenschleier wächst. „So sieht man ihn an klaren Tagen von der Hauptstadt Yerivan aus“, erzählt Anna. „Der Ararat gehörte früher zu Westarmenien, liegt aber jetzt auf dem Gebiet der Türkei. Man darf nur mit einer Sondergenehmigung in die Türkei reisen. Der Ararat ist also für die meisten Armenier unerreichbar.“

3,5 Millionen Einwohner zählt Armenien. 8 – 9 Millionen leben seit der Verfolgung und dem Völkermord durch die Türken im Jahre 1915 in der Diaspora.

Armenier sind Christen. Die apostolische, armenische Kirche ist eng mit der griechisch orthodoxen Religion verwandt. Armenien ist das erste Land der Welt, in dem die christliche Kirche zur Staatsreligion ernannt wurde. Ein Plakat im Gemeindesaal erinnert an dieses Ereignis im Jahre 301 nach Christi. „Da saßen die Russen noch auf den Bäumen“, sagt Anna.

Sie findet, dass jeder Armenier, in welchem Land auch immer er lebt, das einzigartige Alphabet kennen sollte, dass ihr Volk seit dieser Zeit verbindet.

Ihr Gesicht ist einfach. Es ist ein armenisches Gesicht mit hohen Wangenknochen, hinter denen die dunklen Augen liegen. Manchmal fragen die Leute, ob sie aus der Türkei kommt. Einige halten sie für eine Italienerin, andere tippen auf Südamerika. Woher? Armenien? Staunen. Kaum, dass jemand weiß, wo Armenien liegt.

Noch kann Anna nicht sagen, ob sie nach dem Studium in Deutschland bleiben möchte. Sie findet die Deutschen kühl, zu distanziert. Der Gedanke, für immer nach Armenien zurück zu kehren, behagt ihr allerdings auch nicht. Sie wägt die Kulturen gegeneinander ab, grübelt, ist unschlüssig. Aber es gibt wichtige Dinge, die sie nur entweder armenisch oder westlich entscheiden kann. Die Liebe. Die Männer laufen ihr scharenweise nach. Das ist nicht das Problem. Aber in Armenien ist es üblich, erst dann mit einem Mann zu schlafen, wenn man weiß, dass man heiraten wird. „Ich finde die freiere westliche Moral schon in Ordnung, aber ich fühle mich darin fremd. Ich bin nun einmal anders erzogen.“ Sie zieht die Schultern hoch. Da passt etwas nicht, ist zu eng, schnürt ihr das Herz ein. Die eine Kultur ist es nicht mehr, die andere noch nicht. Was nun? Sie wartet ab. Sie hebt sich auf. Sie wird sich jetzt auf ihr Studium konzentrieren.

Das armenische Abitur berechtigt nicht zu einem Studium an einer deutschen Universität. Dennoch wird Anna ab Oktober den Bachelor-Studiengang Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität belegen.

„Mir ist kein Fall eines armenischen Studenten bekannt, der ein Studium in Deutschland begonnen hat“, sagt Azad Ordukhanyan, Leiter des Armenisch-Akademischen Vereins 1860 e.V. in Bochum. „Ich frage mich, wie Anna das gemacht hat.“ Der Verein betreut zirka zweitausend armenische Studenten und Doktoranden in Deutschland. Die meisten haben ihr Studium in anderen Ländern begonnen und führen es hier fort. So gestattet es die deutsche Hochschulordnung den ausländischen Bewerbern.

Ihre Ansage am Telefon ist kühl und knapp. Sie wird sich um zwanzig Minuten verspäten. Sie verspätet sich häufig. Doch immer sagt sie ihre Verspätungen rechtzeitig an und hält sie dann pünktlich ein.

Ihr Telefon ist rund und rosa und mit geschwungenen Ornamenten verziert. Das Telefon ist bedeutend für sie, denn sie lässt sich nicht von ihren Verabredungen dirigieren. Sie dirigiert ihre Verabredungen selbst, schiebt sie vor und zurück, ordnet sie in den Rhythmus ihres Alltags. Sie hat viel zu tun. Die Arbeit im Seifenladen, Babysitten, so oft wie möglich. Alles schlecht bezahlte Jobs. Sie hält sich gerade so über Wasser.

Verabredungen im Café leistet sie sich nicht. Sie wird zu Hause kochen.

Auf halber Treppe zwischen den Zimmeretagen des Studentenwohnheims liegen die Gemeinschaftsküchen. Eine breite Fensterfront geht hinaus in den Garten. Die Bäume wachsen bis an die Scheiben.

Anna blickt in das Grün. Sie wirkt klein in dieser großen, schattigen Küche. Sie könnte eine junge, armenische Frau sein, deren Gedanken sich hauptsächlich darum drehen, was sie für ihre große Familie kocht.

Heute wird sie einen Gata backen, den traditionellen, armenischen Kuchen, den die Großmütter an Festtagen zubereiten. Während sie den Teig aus dem Papier nimmt und ausrollt, beginnt sie zu erzählen, auf östliche Weise, in einem ruhigen Fluss, langsam, ausführlich und so genau, dass es leicht fällt, zuzuhören.

In der Studienberatung der Universität Potsdam hat Anna Doktor Birgit Bismark getroffen. Doktor Bismark hat sich ans Telefon gehängt und jede Regel und Vorschrift in die Knie argumentiert, damit Anna sich für das Studienkolleg bewerben durfte, den Vorbereitungskurs für ein Studium an einer deutschen Hochschule.

Nach der Aufnahmeprüfung erhielt Anna den Bescheid, dass sie durchgefallen sei. Sie, die den Werther, Heines Liebeslieder und Die weiße Rose auf deutsch gelesen und die Lorelei auswendig aufsagen kann, die immer nur deutsch gelernt hat, nicht nur in der Schule, sondern auch abends bei einer Privatlehrerin.

Eigentlich hatte sie kein deutsch lernen wollen. Niemand wollte es. Aber in diesem Jahr stand Deutsch als zweite Fremdsprache nun einmal auf dem Programm. Es gab Proteste der Eltern. Vergeblich. Die Schulleitung blieb dabei: Dieser Jahrgang lernt deutsch.

Dabei hat diese Fremdsprache in Armenien eine lange Tradition. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es einen intensiven Kulturaustausch zwischen beiden Ländern.

Später fand Anna Gefallen daran, gewann sogar die Deutsch-Olympiade in ihrer Heimatstadt Alaverdi.

„So ein Stapel Papiere.“ Annas Hand schwebt gut einen Meter über dem Küchentisch. Zeugnisse, Urkunden und Zertifikate, Originale und Kopien der Originale, Übersetzungen und Kopien der Übersetzungen, alle notariell beglaubigt, Beweise, die sie vor der Aufnahmeprüfung vorlegen musste.

Die Absage erwies sich natürlich als Irrtum. Anna konnte am Studienkolleg teilnehmen, bekam einen Studentenausweis und einen Platz im Studentenwohnheim. Sie war so gut, dass sie den Vorkurs überspringen konnte. „Die Lehrerin nannte mich ‚Anna mit dem großen Mund‘, weil ich alles wusste.“ Sie lacht.

„Früher habe ich viel geweint“, sagt sie. „Ich konnte immer weinen. Ich musste nur an etwas trauriges denken und schon flossen die Tränen. Jetzt kann ich das nicht mehr.“

Mit dem Nudelholz zerdrückt sie Hasel – und Walnüsse zwischen zwei Lagen Backpapier.

Studieren in Armenien ist teuer. Annas Vater, ein Bauingenieur, arbeitet als Kraftfahrer bei einem staatlichen Transportunternehmen, bei dem auch Annas Mutter als Buchhalterin und die Großmutter als Lagerverwalterin arbeiten. Sie ernähren vier Kinder, Annas Geschwister. „Nach dem Krieg haben viele keine Arbeit mehr in ihren Berufen gefunden“, sagt Anna. Der Krieg mit Aserbaidshan um die Region Karabach in den Neunziger Jahren hat ihre Kindheit geprägt. „Manchmal gab es tagelang kein Wasser und keinen Strom.“

Achthundert Dollar im Jahr kostet ein Studium an einer der privaten Universitäten. Die kostenlosen staatlichen Studienplätze, gerade für Sprachstudien, gehen zum großen Teil gegen Bestechungsgelder weg.

Anna rollt die Füllung in den Blätterteig, teilt ihn in kleine Stücken und drückt die Ränder mit einer Gabel zusammen.

„Die Großmütter in Armenien arbeiten mehrere Tage an diesem Teig.“ In Berlin gibt es ihn tiefgefroren im Supermarkt. „Ist natürlich nicht so gut wie Zuhause.“ Nicht nur der Gata sei in Armenien besser. Die Großmütter seien es auch. „Sie sind warmherziger mit ihren Enkeln.“ Anna hat die deutsche Familie als Au-Pair beobachtet. „Als die Tante zu Besuch kam, haben sie sich nicht einmal umarmt.“ Später habe sie allerdings auch andere, herzlichere Familien kennengelernt. Trotzdem: Deutschland bleibt die Feinfrost-Version des Lebens. In Deutschland muss man vorher anrufen, wenn man jemanden besuchen will. In Deutschland werden die Portionen abgezählt, wenn Gäste geladen sind. Man schaut aufs Geld, sogar beim Feiern. Das alles wäre undenkbar in Armenien.

Aber sie will sich mit diesem Land arrangieren. Nur hier hat sie die Möglichkeit zu studieren. Und studieren möchte sie auf jeden Fall. Eins hat sie verstanden: Man darf nicht bitter werden, nur, weil das Leben manchmal nicht mit den eigenen Erwartungen übereinstimmt.

Nachts ist sie allein mit dem Heimweh, in das sich die Sehnsucht nach Liebe mischt.

In ihrem kleinen Zimmer, unter dem Himmelbett aus lila Tüll, hat sie einen Schleier versteckt. Sie legt ihn auf ihr Haar, drückt die Taste des Recorders auf dem Schreibtisch und tanzt in kleinen Schritten zum melancholischen Klang der armenischen Musik. Sie breitet die Arme in Schlangenbewegungen aus, soweit es der schmale Raum zulässt.

Rudin, ihr Zimmernachbar aus Bangladesh, dem sie gelegentlich Deutschunterricht gibt, ist in sie verliebt, aber er ist nicht der Richtige, auch nicht die jungen armenischen Männer in der Gemeinde, die in Deutschland nur „geduldet“ sind und nicht arbeiten und nicht einmal am Wochenende aus Berlin raus dürfen.

Den Gata wird sie morgen abend mit zu Adelheid nehmen, ihrer Freundin, die sie scherzhaft „Mutti“ nennt. Adelheid Schardt hatte Jugendliche, vornehmlich ausländische Jugendliche, eingeladen, Berliner Trümmerfrauen zu interviewen und zu fotografieren. Die Fotos und Teile der Interviews wurden später auf eine Hauswand projiziert. Die Passanten konnten sie am Abend im Vorübergehen ansehen und lesen.

Anna hat es Spaß gemacht. Seitdem kann sie sich vorstellen, Journalistin zu werden.

Sie lässt ein paar Stück Gata für Rudin und Nina, das Mädchen aus Litauen, auf einem Teller in ihrem Zimmer zurück.

Bei Adelheid ist sie immer willkommen. Natürlich ruft sie vorher an. In diesem Fall findet Anna das auch in Ordnung. Schließlich hat Adelheid eine Menge zu tun, ist nicht immer zu Hause.

Sie werden Tee trinken und über die Neuigkeiten reden. Adelheid hatte von Anfang an diese herzliche, unkomplizierte Art. Mit ihr fühlt es sich selbstverständlich und vertraut an. Fast wie mit Armeniern.

Der Wächter der Stoffe

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Das Magazin Mai 2007

Er verachtet Turnschuhträger und Menschen, die Klamotten sagen, wenn sie Kleidung meinen. In Berlin herrscht Oleg Ilyapour über ein kleines Reich aus seltenen, wunderbaren Stoffen voller Geschichten

Inmitten der bunten Szeneläden in der Berliner Akazienstraße, zwischen Estrellas Chocolaterie und dem Coffeeshop Double-Eye, klemmt ein schmales Geschäft. Die Eingangstür bewacht ein kräftiger Mann mit langem, grauen Bart.
Im Winter trägt der Mann einen Schafwollmantel, im Sommer bunte Gewänder.

Oleg Ilyapour steht jeden Tag auf der Treppe vor seinem Geschäft. Er ist eine verlässliche Größe im Kiez. Die Leute kennen ihn seit Jahren, bleiben auf eine Zigarette mit ihm stehen, plaudern über Politik und Krankheiten, Familienprobleme und die Preise.

Ilyapours Geschäft heißt Fichu, was soviel heißt wie: kaputt, futsch, erledigt, im Eimer.
Im Schaufenster liegen Stoffballen. Das handgeschriebene Schild mit den Öffnungszeiten ist im Laufe der Jahre ergraut.
Wenn der Frühling kommt, hängt Ilyapour Kleider an die Tür, im Winter Jacken aus Tweed.

Passanten, die sich durch die schmale Tür drücken und einfach mal schauen wollen, werden nicht, wie in den anderen Mode-Läden ringsum, von gefälliger Musik und klingelnden Bügeln, Sonderangeboten und Bonbongläsern auf polierten Ladentafeln umworben, sondern von Ilyapour in rauhem Ton darauf hingewiesen, was sie hier erwartet. Nichts gewöhnliches, sondern originale Naturstoffe aus den Zwanziger – bis Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Qualitätsware.

Die Stoffballen liegen bis unter die Decke gestapelt, so dicht wie die Menge an Jahren und Wochen eines ganzen Jahrhunderts. Schwere Wollstoffe erdrücken geblümte Sommerreste aus Seide. Die Klassiker: Pepita, Fischgrat, Salz & Pfeffer in verschiedenen Qualitäten über – und nebeneinander gepresst, ein Zipfelchen Chintze darüber und zwischendrin karierter Hemdenstoff aus ägyptischer Baumwolle. Fünfziger Jahre. „Garantiert frei von Pestiziden“, sagt Ilyapour. Steifes Leinen, streng wie Hausfrauenstolz, zwischen weichen Jerseys und noppigen Tweeds.
Die freien Wandplätze sind von Mode – Reliquien besetzt: Hackenschuhe, ein Schirm aus Papier, Schmuck aus riesigen bunten Klunkern, ein gestreiftes Kleid aus Azetatseide.

Nur ein schmaler Gang ist zwischen den Stoffballen geblieben. Ilyapour, breit wie ein Bär, passt gerade noch so hindurch. Er zwängt sich voran, gefolgt von seinen Kunden.

Das schwule Pärchen sucht Stoff für Sitzkissen. Sie sind nicht sicher. Hahnentritt vielleicht. Ach nee. Ein Salz – und Pfeffer – Anzugstoff aus den Zwanzigern, wie ihn die Proletarier damals gern auf den Parteiversammlungen trugen?
Wie wäre es mit diesem da? Uni. Orange. Reine Schurwolle aus den Sechzigern.
„Kratzt aber“, warnt Ilaypour.
„Ich sitze da ja nicht nackig drauf. Normalerweise trage ich Hosen“, entgegnet der Käufer.
„Na dann bin ich ja beruhigt.“ Ilyapour wickelt den Stoff in braunes Packpapier.
„Sieht aus wie ein Wurstpaket“, freut sich sein Kunde. Eine leichtfertige Bemerkung, die Ilyapour heraus fordert. „Woanders bekommen Sie für Ihr Geld eine schöne Verpackung mit nix drin“, dröhnt er. „Bei mir ist es umgekehrt. Übrigens ist das auch gutes Packpapier.“

Er knurrt einen Abschiedsgruß. Die beiden ziehen glücklich weiter. Sie mögen die bärbeißige Kompetenz des Stoffhändlers.

Oleg Ilyapour macht keinen Hehl daraus, dass er auf die meisten seiner Kunden auch verzichten kann. Er will ja nicht reich werden. Er braucht eh nicht viel. Morgens und mittags einen Kaffee im Double-Eye nebenan, die billigsten Zigaretten, wenig Strom. Einmal in der Woche geht er tanzen. „Hätte ich ein Auto und würde zweimal im Jahr verreisen, könnte ich den Laden nicht halten.“

Die Stoffe sind das Erbe seiner Eltern. Sie kamen in den Zwanzigerjahren aus dem Iran nach Berlin. Sie lebten gut vom Handel mit den Stoffen, bis auch die letzte kleine Nähmanufaktur in Berlin aufgab. Das war irgendwann in den Siebzigerjahren.
„Das schmeißen wir nicht weg. Dafür haben Leute hart gearbeitet“, sagte seine Mutter damals, als sie die Ladentür für immer schloss.
Wenige Jahre später sperrte der Sohn sie wieder auf.

Die Frau, die einen neuen Gürtel für ihren blauen Trenchcoat sucht, weil der alte zerbröselte, ist nach Ilyapours Geschmack. Für Kunden wie sie, die Ausbesserer, Erhalter, Bewahrer, steht er morgens auf, trottet von seiner Wohnung zum Laden, dekoriert die Schaufenster alle paar Wochen neu.
Lange sucht er in den Stapeln nach dem passenden Popelin im Blau des Mantels. Er schneidet den Stoff auf das richtige Maß, erklärt der Frau, wie er verarbeitet werden sollte, wickelt ihn ein.

Spürt der Wächter der Stoffe bei seinen Besuchern Interesse, verbreitern sich seine Kommentare zu kleinen Referaten oder Erfahrungsberichten. Ein gemütliches Berlinisch wie das seine ist in der vornehmen Akazienstraße nur noch selten zu hören.

Wundersame Dinge weiß er zu erzählen: Von Kaschmirtüchern, wie sie die Aristokraten zur Zeit Napoleons liebten, so hauchzart und leicht, dass sie ausgebreitet in der Luft stehen blieben.

Die Geschichte vom Querdenker Joseph-Marie Jaquard, der lustlos die Weberei seiner Eltern in Lyon übernahm, zwischen den Webstühlen saß und träumte, bis er gänzlich verarmt war. Dann erfand er einen maschinell betriebenen Webstuhl, den man als den ersten Computer bezeichnen könnte. Weil er nach demselben Prinzip funktioniert. Jaquard speiste ihn mit Lochkarten. Sein Code bestand zwar nicht aus Nullen und Einsen, doch auch aus lediglich zwei Informationseinheiten: „Loch“ und „kein Loch“. Loch hieß: Faden heben. Kein Loch: Faden senken.
So „programmiert“ entstehen an den Jaquard-Webstühlen die kompliziertesten Stoffmuster.

Das Gewand eines afrikanischen Stammesfürsten inspiriert Ilyapour zu einer Plauderei über Muster. Jene sinnlichen bunten Stoffe, die wir heute als typisch afrikanisch empfinden, stammen ursprünglich aus Indonesien, von wo die afrikanischen Sklaven sie mit nach Hause brachten.
Das Karo hingegen ist keine europäische Erfindung, sondern wurde zuerst in Indien und Afrika gewebt.

Immer weniger Leute schneidern selbst. Kaum einer setzt noch eine Nähmaschine in Bewegung, um etwas zu reparieren und auszubessern.
Doch in den letzten Jahren interessieren sich mehr und mehr die Film – , Theater – und Museumsleute für Ilyapours Stoffe, denn das exotische Lager erzählt Kulturgeschichte.
Die Botschaft der Stoffe handelt nicht nur von Moden, sondern von Lebensweisen, Träumen, Zeitgeist und vergangenen Utopien. Die Kulturwissenschaftler lassen sich von Ilyapour beraten.

Allein der Stoff eines einzigen Jahrhunderts ist unendlich. Ilyapour weiß, dass er nichts weiß. Er lernt gern dazu.

Kurz nach dem Mauerfall schlenderten zwei Damen aus der DDR durch die Schöneberger Akazienstraße. Sie kamen vom Dessauer Bauhaus und hatten von Fichu gehört.
Als sie hinter dem großen, bärtigen Mann zwischen die Stoffballen drängten, fanden sie, was sie suchten: Originale Bauhaus-Stoffe von Anfang der Dreißigerjahre.
In dieser Zeit, erfuhr Ilyapour, wurden viele Bauhaus-Entwürfe industriell gefertigt. Das neue Motto des Bauhauses hieß damals: Volksbedarf statt Luxusbedarf.
„Was möchten Sie für diesen Stoff haben?“, fragten die Frauen. Ilyapour murmelte etwas von „hundert Mark der Meter“. Die Damen waren entsetzt. Das sei doch viel zu billig. Die Stoffe seien mindestens das Drei – bis Vierfache wert. Und das wollten sie auch dafür zahlen. Selbstverständlich.
Ilyapour muss sie verstört angeschaut haben. Diese kleine Begebenheit hat seine Meinung über die Ostdeutschen nachhaltig geprägt. „Ich habe damals viel von den Leuten aus dem Osten gelernt. Da waren Fachleute dabei, die drüben in der Bekleidungsindustrie gearbeitet hatten.“
Seither verwahrt er die Bauhaus-Stoffe an einem diebessicheren Ort.

Ilyapour ist ein Beobachter. Er steht auf der Treppe, saugt an den Zigaretten, die seinen grauen Bart um die Lippen gelb färben und lauscht den Geschichten der Leute.

Manchmal drückt er den Passanten, die bei ihm stehenbleiben, zu Beginn der Plauderei einen Zettel in die Hand. „Da steht was drauf, was du gleich sagen wirst. Ließ das erst, wenn ick es sage.“
Mit dieser ruhigen, tiefen Stimme, die manchmal von weit hinten zu grollen beginnt.
Nach zirka fünf Minuten fordert er seinen Gesprächspartner auf zu lesen. Da steht: Ich muss jetzt weiter. Habe zu tun.
Ilyapour lacht. „Früher wollten die Leute gar nicht mehr weg. Heute haben es alle eilig. Gemütlich darf es nicht werden.“

Manchmal wird es doch gemütlich, zum Beispiel, wenn eine ehemalige Mitbewohnerin aus alten WG-Zeiten vorbei schaut. Sie steigt auf die Fußbank an der Wand mit den Chanel-Knöpfen, um an seine Wange zu reichen und ihm einen Kuss zu geben. Wie früher.
Als habe sich seit damals nichts geändert. Unter den Knittern sitzt dieselbe Qualität, die Träume und das Begehren.

Der Wächter der Stoffe sieht sich auch als Hüter einer Kultur, von der die schlecht gekleidete Generation Turnschuh da draußen nichts mehr weiß. Er steht wie ein Bollwerk gegen den Werteverfall auf der Treppe.
„Ick rede hier nich von Klamotten, wa.“ Eine ernst gemeinte Warnung. Er nimmt das Wort mich höchster Verachtung zwischen die Zähne. Für ihn ist es Synonym der Vernachlässigung und des mangelnden Stils.

Dass man sich heute nicht mehr kleidet, sondern Klamotten trägt, darin sieht Ilyapour den gesellschaftlichen Wandel ausgedrückt, die Entwertung des Menschen, dessen Begabungen und Individualität nicht mehr gefragt seien.

Er hängt die finnischen Op-Art-Kleider an die Tür, exotische Stücke aus hauchdünner, reiner Wolle, per Hand bedruckt in den Sechzigerjahren. Ilyapour interpretiert die großzügigen Motive als Monitore und Netzwerkkabel. Es sind Kleider, mit deren intellektuellen Unschick sich viele Frauen gern umgeben würden, der jedoch die wenigsten kleidet.

Was hat er damals in den Sechzigerjahren gemacht? Wovon träumte er? Wofür hat er gekämpft? Er winkt ab, schüttelt den Kopf. Darüber möchte er nicht sprechen. Wozu auch? Das ist vorbei.

Jetzt ist Zeit für den zweiten Kaffee im Double-Eye nebenan. Er grüßt die Studenten, die immer gut gelaunt, den besten Espresso der Stadt aus der alten FAEMA E 61 holen, den Milchschaum in der Form eines Blattes oben drauf setzen und mit Kakao bestreuen. An den Bistrotischen vor der Tür bietet sich jede Menge neuer Stoff. Das Leben hört nicht auf zu weben. Die alte Maschine rattert. Wer denkt sich nur diese bizarren Muster aus?

Dabei ist es noch gut hier

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Das Magazin Juli 2006

Hauptschüler in der Provinz. Sie haben kleine Träume und große Sorgen. Mit wem können sie die teilen? Mit den Lehrern jedenfalls nicht. Ein Sittenbild aus der Kleinstadt Kreischa.

Mit dem Nachmittag kann man nichts mehr anfangen. Diese Nachmittage gleichen sich. Sie folgen aufeinander wie eine vergilbte Buchseite der anderen. Abgegriffene Zeit. Zu spät, sich unter ein Auto zu legen und zu basteln.
Hausaufgaben haben sie nicht. „Wir haben nie Hausaufgaben“, sagt Robert. Daniel sieht schon wieder auf sein Handy. Der Fahrlehrer könnte jeden Moment anrufen. Vielleicht klappt es morgen mit der Moped-Prüfung. Einmal ist er schon durchgefallen, weil er bei Gelb an einer Baustelle vorbei gebrettert ist. Da, wo er heimlich übt, im Wald und auf dem Acker, stehen keine Ampeln. Er röstet durch Schlamm und über Wurzeln, träumt sich als Moto-Crosser. „In den Sommerferien fahre ich nach Berlin“, sagt er.

Sie hocken auf den alten Tischtennisplatten vor der Bowlingbahn. Ein schöner Platz. Ein grüner Platz. Nebenan plätschert ein Bach.
Daniel rammt seine Ferse in die zerborstene Ecke der Steinplatte. Die bröckelt seit Jahren schon. Die Bänke auf dem Platz sind morsch wie der flache Holzbau der Bowlingbahn. Die Fenster mit Brettern vernagelt.

Daniel ist Sprecher der Klassenstufe 9 Hauptschule und stellvertretender Schülersprecher der Mittelschule Kreischa. Seine Mitschüler haben ihm ihr Vertrauen ausgesprochen. Daniel, der mit seiner Meinung nicht hinter den Berg hält, seinen Widerwillen gegen die Welt ausspuckt, manchmal quer wie eine Wand steht. Groß und breit. Ein Kerl wie ein Bär. Seine Hände beulen die Hosentaschen.

Robert spricht wenig. Der Schulbus nach Maxen, seinem Heimatort, ist längst abgefahren. Er hat es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Er muss erst am Abend in Maxen sein, wenn das Training bei der Freiwilligen Feuerwehr beginnt.

Die Schule steht drüben am Hang. Sie thront über dem Ort. Sonnenlicht flutet durch die Korridore, bleicht Bilder, Landkarten und Wandzeitungen, auf denen in diesem Monat das Römische Reich erklärt wird. Es ist eine saubere Schule. Der Blick aus dem Lehrerzimmer gleitet über den Ort, über Pferdekoppeln und die gelben Häuser der Bavaria-Klinik.
Fachwerk. Trockenblumen und Getöpfertes. Da drüben, der kühne Glasgiebel, wurde mit einer Gardine verhängt. Kreuzworträtsel und Häkelmuster knautschen in den Sesselritzen.
Nach Kreischa ziehen sich Menschen zurück, denen es in Dresden zu laut wird. Die Großstadt mit ihren Theatern, Konzertsälen und Edel-Boutiquen ist dennoch nicht weit.

Die Schülervertreter sind mal auf das Schulamt nach Dresden gefahren. Wegen diesem Lehrer, dem Grabscher, der den Mädchen an den Hintern geht und dabei Dinge sagt wie: „Geiler Arsch.“
Man hat sie wieder nach Hause geschickt. „Wir müssen mindestens fünf Zeugen bringen“, sagt Daniel. „Sie wollen klare Beweise.“ An mehr könne er sich jetzt nicht erinnern. Sei schließlich schon ein halbes Jahr her. Und er sei da auch nur mitgefahren. Habe weiter hinten gestanden, dritte Reihe ungefähr und nicht alles mitbekommen.

Die Hände beulen die Hosentaschen. Daniel, der plötzlich nicht weiß, wohin mit diesen Armen und Beinen, diesem großen Körper und seiner Wut.
„Die aus der Zehnten“, erzählt er. „Die sind mal alle zu dem hin, alle Jungs. Da sind solche Kerle dabei.“ Daniel streckt den Arm bis zur löchrigen Dachrinne der Bowlingbahn. „Sie haben dem gesagt, dass sie zum Schulamt gehen oder zu seiner Frau, wenn es nochmal passiert. Seitdem lässt er die Mädchen aus der Zehnten in Ruhe. Wir sind gerade mal acht Jungen. Die in der Zehnten sind sechzehn.“ Daniel sackt zusammen. Er blickt zu Robert, der neben ihm lehnt, klein, die Schultern noch schmal. Fünfzehn Jahre. Daniel ist zwei Jahre älter.
„Sitzen geblieben.“ Robert grinst. „Quatsch“, sagt Daniel. „Ich habe zwei Klassen wiederholt.“
Daniel legt sein Handy jetzt immer auf die Schulbank. Für das Beweisfoto. „Der schmeißt auch einen Stapel Papier runter und fordert ein Mädchen auf, ihn aufzuheben, um ihr in den Ausschnitt zu schauen“, sagt Robert.

Der Bus nach Maxen, Roberts Heimatort, fährt durch Apfelplantagen und Wiesen, vorbei an einem Gestüt. Robert zeigt den Weg zur Naturbühne, das beste Restaurant des Ortes und erzählt von der neu gebauten Moschee. Er weiß, was Gäste interessiert, die nach Maxen kommen.
Die Mädchen hätten jetzt vor den Prüfungen Angst zu sprechen, sagt er. „Wenn der uns reinlegt, ist alles verloren.“
Hilfe von den anderen Lehrern könne man vergessen.
„Dreckfressen“ hätte mal eine geschrien. Und dass sie den qualifizierten Hauptschulabschluss sowieso nicht schaffen. Sie hätten fast alle schon Ohrfeigen einstecken müssen. Manchmal würden sie im Klassenraum eingeschlossen.
Eine Lehrerin sei aber ganz in Ordnung, sagt Robert. Ihr hätten sie sich anvertraut und der netten Dame von der AOK Freital, die das Bewerbertraining mit ihnen gemacht hat.

Robert erzählt von Dynamo Dresden, seiner Lieblingsmannschaft und dass er kein einziges Heimspiel versäumt, dass sein Vater, nicht sein richtiger Vater, deswegen sauer sei, dabei sei er es doch gewesen, der ihn als Kind mit auf den Fußballplatz nach Dresden geschleppt hat.

Der Lehrer schlendert über den sonnigen Gang. Das Linoleum glänzt. Er schwenkt sein Schlüsselbund. Er lächelt. Er sagt zu dem dünnen Mädchen mit den rosa Haaren: „Hallo. Wie geht’s?“ Sie antwortet nicht, federt die Treppe hinab, blickt sich nicht um, weil sie weiß, dass er am Geländer steht und ihr nachschaut.
„Ich habe von dieser Sache gehört“, sagt die Lehrerin mit den großen, wachen Augen. „Man kann nichts machen, solange es keine Beweise gibt.“

Daniel hat einen Ausbildungsplatz. Nicht weit von Kreischa, in einem Restaurant, wird er Koch lernen. Seit einiger Zeit jobbt er hin und wieder im Hotel „Kreischaer Hof“. Er mache dort alles. „Na, alles eben.“ Er zuckt die Schultern, verwundert über die Frage. Was gibt es da zu erzählen? Ist es für irgendwen interessant, ob er den Geschirrspüler einräumt, Gurken schält oder die Tische eindeckt? Man müsse eben bereit sein, alles zu machen und wer arbeiten will, der findet auch eine Arbeit. Es sei doch kein Wunder, dass der Staat pleite ist, wenn so viele Leute nicht arbeiten wollen. „Die schlafen bis elf und saufen schon am Vormittag.“ Er kenne die. Habe selber jemanden in der Nachbarschaft, der auf Hartz IV mache.

Robert ist still. Selbst, wenn er anderer Meinung wäre als Daniel, würde er den Mund halten, sich nicht mit diesem Brocken anlegen, der mit dem Mundwerk allen voraus ist. Also denken sie über alles gleich. Ist einfacher so. Über Hip-Hopper: „Sieht doch bescheuert aus, wenn die Hosen bis in die Knie hängen.“ Über Ausländer: „Nichts dagegen, wenn die arbeiten.“ Schwule: „Pervers.“ Was das Wort bedeutet, weiß Daniel nicht. „Ich meine doch nur, dass es eklig ist, wenn die vor mir knutschen, während ich gerade esse.“

Robert ist noch auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Er möchte später ein eigenes Restaurant führen.
Am nächsten Tag bringt sie ein Bus übers Land. Schulexkursion. Sie sollen sich Betriebe anschauen, in denen Metall verarbeitet wird.
Nach dem ersten Betriebsrundgang weist der Geschäftsführer darauf hin, dass er nur Abiturienten und Realschüler ausbildet. „Wir können arbeiten“, ruft einer der Hauptschüler. Der Geschäftsführer zerrt an seinem Kragen unter der Krawatte. Sein Gesicht ist rot. Er entscheide nach Noten. Eine andere Wahl habe er nicht. Vierzig Bewerber, aus denen er einen auswählt. Sie könnten aber ein Betriebspraktikum machen. In der zweiten Firma empfängt sie eine ältere Frau. Sie hält die Hände vor dem tonnenförmigen Leib gefaltet, während sie erklärt, dass sie keine Mädchen ausbildet, weil Mädchen Kinder bekommen und dann nicht mehr am Abend und in der Nacht arbeiten könnten. Das rechne sich nicht. Die Maschinen müssten Tag und Nacht laufen. Mit den Hauptschülern, da müsse man sehen. Sie hätte auch Arbeiter mit Hauptschulabschluss.
Die Fußböden der Fabrikhalle schwitzen ölig. Aus einem Abfall-Container quellen rötlich und weiß glänzende Spiralen aus Edelstahl. Zwei Mädchen bleiben stehen und suchen die schönsten aus. Wie die Lockenpracht eines Fauns, dessen Kopf man nach der Enthauptung in diesen Behälter gequetscht hat.

„Man muss vorsichtig sein mit dem, was die Hauptschüler manchmal erzählen“, sagt die junge Lehrerin. „Sie reagieren so sensibel. Die bilden sich auch schnell mal etwas ein. Sie neigen zu Übertreibungen.“
In den letzten Jahren sei es immer schwieriger geworden, sie zu unterrichten. Inhalte könne sie kaum noch vermitteln. Hausaufgaben gibt sie schon lange keine mehr auf. Die Auseinandersetzung zu Beginn der Stunde, wer wieder nichts gemacht hat, raube zuviel Zeit und Kraft. „Manchmal, wenn ich in die Klasse komme und nicht lächele, werde ich von der Seite angemacht: ‚Schlechte Laune heute?“

Der Bus bringt die Schüler nach der Exkursion zurück nach Kreischa. Vorbei am Bäcker, am Döner-Laden, dem über hundertjährigen Textilhaus Schauer und der Drogerie am Buswendeplatz. Im Schaufenster der Drogerie bröseln verblichene Heilpflanzen. Drinnen lehnt die Drogistin an der hohen Eichenwand und blickt durch die Kunden hindurch zur Tür hinaus, die Hände zwischen Rücken und Wand, als stützten sie sich gegenseitig. Seit man denken kann, lehnt sie dort. Ihr Haar ist staubig geworden im Laufe der Zeit. Aber ihr Blick ist unverändert, egal, ob die Schüler Brausepulver oder Kondome kaufen. Sie könnten nach Cyankali oder radioaktiven Uran fragen, sie würde mit der gleichen Miene antworten: „Tut mir leid.“

„Was hält uns hier?“ fragt Daniel trotzig. Sie sitzen im Bäckerladen neben dem Supermarkt. Die Frage klingt nicht nach Aufbruch, nicht einmal nach einer kleinen Radtour ins nahe Dresden, wo die Clubs, die sie hier vermissen, zahlreich sind. Die Frage ist als Vorwurf gemeint und als Ausrede, sitzen zu bleiben.

Draußen auf dem Parkplatz werden Autos abgefüllt, mit Dingen zu essen und Getränkestiegen, mit Dingen für das Haus und Dingen für den Garten. Behäbig röhren sie die Auffahrt zur Landstraße hinauf. Wenn er den Führerschein schon hätte, sein Moped, Daniel würde das Vorderrad in die Höhe reißen und an ihnen allen vorbei jagen. Der Fahrlehrer hat wieder nicht angerufen.

Bei der Freiwilligen Feuerwehr gibt es keinen Unterschied zwischen Haupt – und Realschülern. Da können sie zeigen, was in ihnen steckt. Wie damals, 2002, als die Flut kam. Sie waren als Helfer unterwegs. Robert in Mühlbach, Schlamm aus den Kellern schaufeln und Trümmer beseitigen, Daniel in Freital, in dem Supermarkt, in dem seine Mutter als Kassiererin arbeitet. Er hat die Kunden einzeln mit der Taschenlampe zu den Regalen geführt, bis es wieder Strom gab.

Einen Vater hat Daniel nicht. „Den brauche ich nicht mehr“, sagt er. Der Vater hat die Mutter geschlagen und ist abgehauen, zu Weihnachten war das, vor einigen Jahren. Daniel will ihn nicht mehr sehen.
Robert hat einen Vater, aber es ist nicht sein eigener. Seinen eigenen Vater, das hat die Mutter entschieden, soll Robert nicht treffen. „Meine Oma ist auch strikt dagegen“, sagt er. „Ich habe ihn mal im Internet gesucht, aber nicht gefunden.“

Die junge Lehrerin sagt, dass sie die Probleme manchmal mit nach Hause nimmt und dass ihr Mann das alles gar nicht mehr hören kann. „Dabei ist es noch gut hier in Kreischa. Es ist eine kleine Schule. Wir Lehrer verstehen uns. Wir helfen uns.“
Sie erzählt von dem Zirkus-Projekt, wieviel Spaß es den Kindern gemacht hat, in der Manege zu stehen und kleine Kunststücke vorzuführen. Sie stützt den Kopf auf, das lange Haar fällt über den Handrücken. Sie blickt aus dem Fenster, dahin, wo im letzten Sommer für einige Wochen das Zirkuszelt auf der Wiese stand.
Sie wisse, dass Eltern in der Schule waren wegen der Vorfälle mit dem Lehrer. Dass sie ihn zur Rede gestellt hätten.
Der Vater eines Mädchens aus ihrer Klasse sei mal in die Schule gekommen, sagt Robert. „Ein Kerl wie ein Baum. Ein Rocker. Überall tätowiert. Und der Lehrer hat den ausgelacht. Hat gesagt, dass seine Tochter lügt. Der sagt, die Mädchen bilden sich das nur ein. Er sagt, sie übertreiben.“
Und wenn wieder etwas ist, sollten sie sofort zu ihr kommen, habe die junge Lehrerin gesagt. Ihr Klassenlehrer auch. Sie waren bei beiden. Passiert ist nichts.
Der Schülerrat, die Elternvertreter, alle wissen es. Der ganze Ort weiß es. Alle, die früher hier zur Schule gingen. Er ist schon lange hier, dieser Lehrer. Vielleicht erinnert sich sogar die Drogistin.

Aber nichts ist jemals geschehen.