Kathrins Notiz-Blog 13. Juli 11

© Illustration Liane Heinze

Kolja hat mich zur Begrüßung nicht gelesen. Sonst überfliegt er mein Gesicht wie eine Titelseite, bevor er mich an sich drückt. Noch immer macht mich seine Aufmerksamkeit verlegen. Heute küsste er an meinen Wangen vorbei. Und holte für mich einen piefigen Hocker aus der Küche, ein Ding mit drei Löchern im Sitz. Sieht aus wie eine geplättete Bowlingkugel. Man kann nicht einmal damit kippeln.

Es geht um eine Wohnung in der Karl-Marx-Allee. Kolja hat sie umgebaut. Ich soll die Inneneinrichtung übernehmen. Es ist der beste Job, den ich jemals hatte, aber das gebe ich vor Kolja nicht zu. Die Wohnung gehört einem Musiker aus Dänemark. Er möchte sie möbliert vermieten und teilweise auch selbst nutzen, wenn er ein Gastspiel in Berlin hat. Er hat weniger die Touristen im Auge, als viel mehr die Leute, die nach Berlin kommen, um sich hier beruflich was aufzubauen.

„Aber…“

„Kein Aber“, sagt Kolja. „Ich weiß, was du sagen willst. Die Spanier, Italiener, Franzosen und Israelis, die in Berlin Jobs suchen, leben in Zelten, Gartenlauben oder zur Untermiete bei Freunden, die gerade in Tel Aviv und New York Jobs suchen.“

„Hast du ihm das nicht gesagt?“, frage ich.

„Ich bin Architekt“, sagt Kolja. Er hängt sich eine zerknitterte Zigarette in den Mundwinkel. Er klickt in dem Vertrag mit dem Dänen herum. „Und du bist kein Unternehmensberater oder Coach“, sagt er.

„Aber ich…“

„Wenn Geld keine Rolle spielt, sollte man nicht weiter fragen“, unterbricht mich Kolja. „Geh einfach davon aus, dass ihm dieses Projekt Spaß macht.“ Er sieht müde aus. Die Zigarette wippt in seinem Mundwinkel und krümelt auf die Tastatur. „Die Einrichtung soll geschmackvoll sein. Der Däne benutzte das Wort: distinguiert.“

Koljas Mutter hatte gesagt, dass Menschen uns ihre dritte Haut anvertrauen. Also muss ich doch etwas über sie in Erfahrung bringen, wissen, woher sie kommen und wohin sie wollen und wie sie sich selbst sehen. Natürlich bin ich dann auch eine Unternehmensberaterin und ein Coach. Andererseits scheint es mir logisch, wie Kolja nicht über das hinaus zu gehen, was im Auftrag vereinbart ist. Um mehr darf es gar nicht gehen. Ich MUSS mich an die Spielregeln halten. Aber sind nicht gerade die Erfolgreichen geübt darin, die Regeln zu brechen? Dieses Dilemma ist typisch für mich. Ich kann mich nicht entscheiden. Zu jedem Argument habe ich sofort ein oder zwei Gegenargumente im Kopf. Alle leuchten mir ein. Ich bewundere Menschen, die für EINE ganz bestimmte Sache eintreten und kämpfen. Das muss ihnen ein wunderbares Gefühl von Sicherheit geben. Vielleicht habe ich die Sache, für die ich eintreten könnte, einfach noch nicht gefunden. Aber mit Anfang vierzig sollte man so weit sein, oder? Liegt es vielleicht daran, dass ich mich nicht traue, für meine Überzeugung einzustehen, dass ich Angst habe, man könnte mich für verrückt halten, weil ich glaube, dass eine Inneneinrichterin auch Unternehmensberaterin und Coach ist? Ich kann die Dinge, mit denen wir uns umgeben, nun mal nicht von ihrer Bedeutung trennen. Ich kann Gedanken nicht von dem lösen, worauf sie sich beziehen, nämlich, WIE wir leben sollten. Wenn ich eine Haltung betrachte, dann immer im Raum. Zum Beispiel drückt es etwas über den Charakter der Europäischen Revolution aus, dass sich die Assamblea immer unter freiem Himmel trifft, auf einem der großen, öffentlichen Plätze der Stadt. Überall auf der Welt finden die Versammlungen der Demokratiebewegung auf der Straße statt. Koljas Mutter würde sofort verstehen, was ich meine. Sie würde sagen: „Probiere es aus! Lass dich überraschen.“

Kolja strengt sich an, unbeobachtet zu tun und so lässig wie möglich auf seine Tastatur einzuhacken. Die Asche krümelt auf seinen Arm.

„Ist deine Mutter immer so – offen und interessiert?“, frage ich. „Nein, nein, warte: offen und interessiert klingt total blöd. Sie ist noch anders. Sie ist – weise. Ich habe noch nie eine weise Frau getroffen.“

„Alle glauben, von ihr geliebt zu werden“, sagt Kolja.

„Dann spielt sie allen etwas vor?“

„Sie ist Schauspielerin“, sagt Kolja.

Es gibt diesen berühmten Satz von Romy Schneider: Im Leben bin ich eine schlechte Schauspielerin gewesen.

„Es gibt wenig Leute, die sie wirklich kennen“, sagt Kolja.

„Kennst du sie?“

„Ein bisschen“, sagt Kolja.

„Sie hat mich eingeladen“, sage ich.

Kolja zuckt die Schultern. „Seit Vaters Tod ist sie ein bisschen einsam da draußen. Möchtest du ein Foto von Ella sehen?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, holt Kolja das Foto auf den Monitor. Es zeigt ein durchsichtiges, verschrumpeltes, neu geborenes Gesicht. Ich glaube, dass Kolja eifersüchtig ist auf die vielen Leute, die sich von seiner Mutter geliebt fühlen. Es ärgert ihn, dass ich zu ihr gefahren bin.

„Kannst du Ellas Gesicht lesen?“, frage ich Kolja.

Er lacht und auf seinen Wangen erscheinen wieder diese Grübchen. „Da steht noch nichts geschrieben.“

„Doch, es steht schon was geschrieben“, sage ich. Damals habe ich Jolanda stundenlang und immer wieder angeschaut und vieles entdeckt, was sie aus ihrem kleinen Embryonenreich mit auf die Welt gebracht hat.

„Aber du siehst, dass ein Engel einen Finger auf ihren Mund gelegt hat, damit sie uns das Geheimnis nicht verrät.“ Kolja führt die Maus über die Kerbe unter Ellas Nase, die sich unter den Lippen fortsetzt: Der Abdruck des Engelfingers.

„Schade, dass wir diese guten Dinge bei der Geburt zurücklassen müssen“, sage ich.

„Es ist der erste Abschied unseres Lebens“, sagt Kolja. Er wendet sich von dem Bild seiner Tochter ab, zu mir. Er legt seine Hände auf meine Knie. Er muss sich dafür weit in dem Schreibtischsessel nach vorn beugen, weil der Hocker viel niedriger ist.

„Wie viele Abschiede hattest du bis jetzt?“, frage ich.

„Ich habe nicht gezählt“, sagt Kolja. „Viele. Sehr viele.“

Als ich mit den Entwürfen unter dem Arm nach Hause laufe, ruft Leon an. Er sagt, dass er heute Abend kommt. „Was möchtest du essen?“ frage ich. „Egal“, sagt er. Ich beeile mich, lege die Entwürfe zu Hause ab und mache mich gleich auf den Weg, etwas für uns einzukaufen.

Kathrins Notiz-Blog 5. Juli 11

© Illustration Liane Heinze

Jolanda ist schon in der Bibliothek, als ich komme. Ich packe meine Bücher auf den Tisch neben ihr und versuche zu lernen, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Neben ihr sitzen und nicht reden können ist, wie in die offene Tüte Weingummi auf dem Nebentisch starren und nicht hineinlangen dürfen.

Mittags sitzen wir draußen vor der Mensa und trinken Kaffee. Jolanda hat die Beine auf die Bistrobank gelegt und blinzelt in die Sonne. „Wie geht’s deinen Männern? Sie machen dich beide nicht gerade glücklich, oder?“, sagt sie.

„Weiß nicht….Können Männer uns überhaupt glücklich machen?“, sage ich. „Sind es nicht eher die Frauen?“

Jolanda öffnet ein Auge halb wie jemand, der durch eine Jalousie linst, weil ihn ein Lärm draußen geweckt hat. „Hast du umgepolt?“

„Nein. Aber wenn ich zurück denke, war es schon immer so, dass ich die besten Gespräche mit Frauen hatte, von ihnen die schönsten Geschenke bekommen habe und ja…Frauen sind einfach interessanter. Aber es ist mir erst jetzt aufgefallen.“

„Manchmal dauert es eben länger. Wer ist es denn?, fragt Jolanda.

„Koljas Mutter.“ Ich erzähle ihr von der Begegnung. Jolanda kann nicht verstehen, wieso ich abends um acht mit dem Zug nach Müncheberg fahre, um bei einem fremden Menschen am Gartentor zu klingeln. Sie fragt, wieso ich stattdessen nicht zu Bertram und Ludwig gefahren bin.

„Intuition“, sage ich. „Bertram und Ludwig hätten mir in dieser Situation nicht helfen können. Sie sind zwar schwul, aber eben keine Frauen.“

Jolanda schaut unter einer runzligen Stirn hervor und lässt einen Laut verpuffen. Sie breitet ihr Rauchzubehör auf dem Tisch aus und dreht eine Zigarette. Sie hat kleine, feste Hände. Ihre Nägel sind grün lackiert.

„Ich liebe Männer“, sage ich. „Sie gehören dazu. Irgendwie. Ich weiß nicht warum, aber es ist so. Es ist ein Geheimnis. Ohne sie würde etwas fehlen.“

„Und in wen bist du nun verliebt? In Kolja? Seine Mutter? Oder vielleicht doch in Leon?“, fragt Jolanda.

„Das ist merkwürdig: Ohne Leon könnte ich Kolja nicht lieben. Ohne Kolja wäre ich seiner Mutter nicht begegnet. Und als ich ihr gegenübersaß, habe ich plötzlich gespürt, wie sehr ich Leon liebe. Es tat mir leid, dass ich ihn an diesem Abend allein gelassen hatte. Alle gehören zusammen. Die Begegnungen greifen ineinander, verzahnen sich mit meinem Leben. Das ist doch schön, oder? Wieso sehe ich unglücklich aus?“

Jolanda schaut mich streng an. „Ach, vergiss es, so schlimm ist es nun auch wieder nicht.“ Wahrscheinlich ist sie zu jung, das zu verstehen. Oder sie hat entschieden, es nicht verstehen zu wollen.

„Und du?“, frage ich. „Wie läuft es mit Jakob?“

Sie bläst den Rauch aus, schaut in die Wolken. Ihr Gesicht löst sich. „Ja“, sagt sie. Und noch einmal: „Ja.“ Jolanda enthüllt ihr Gesicht selten. Wenn es geschieht, bin ich jedes Mal gerührt. Aber heute bin ich ergriffen. Sie bemerkt es, senkt den Kopf, versteckt sich hinter dem Rauch, blickt wieder auf, strahlt. Das Glück ist nur so weit weg wie ein Bistrotisch breit ist. Diese Nähe löst in mir die Angst aus, es könnte weg flattern. Ich wage kaum zu atmen. Die Sonne brennt auf unsere nackten Schultern. Der Kaffee ist ausgetrunken. Ihre Zigarette dauert vielleicht noch zwei Minuten. Zwei Minuten noch, das Glück anzuschauen.

Kathrins Notiz-Blog 23. Juni 11

© Illustration Liane Heinze

Leon hat Witterung mit der Assamblea aufgenommen. Er trabt am Rand der Versammlung auf und ab. Er pappt seine Locken in die Stirn, unentschlossen, ob er die diskutierenden Dreißigjährigen revolutionär oder einfach nur übermütig finden soll.

Als wir abends auf der Werkbank in der Garage eine Pizza aus der Schachtel knabberten, schaute er plötzlich auf und sah mich an: „Ich bin alt. Ich bin nichts Besonderes.“ Es war ein schmerzvolles Bekenntnis, als würde er sagen, dass er soeben Gift genommen hat. Die vorstehenden Augen, die der Fahrtwind im Laufe der Jahre immer weiter aus dem schmalen Gesicht getrieben hatte, sackten nach unten. Sein Mund hing wie ein blasser Faden im Gestrüpp seines Kinns. Ich begann zu reden. Ich redete und redete. Das Gespenst musste fort. Ich konnte jetzt nicht nachdenken. Ich handelte. Ich redete. Ich sagte: „Das ist nicht wahr. Du bist besonders. Du hast jeden Tag zehn neue Ideen. Du hast innerhalb eines Jahres ein Geschäft entwickelt. Du bist der beharrlichste, begeisterungsfähigste und passionierteste Mensch, den ich kenne.“ Vincent saß wie versteinert. „Du hast dich überarbeitet, daher die Depressionen.“ Er hörte mich nicht.

„Du brauchst einen anderen Mann, einen Künstler, einen Intellektuellen“, sagte er.

„Du bist ein Künstler. Du hast in einem Baum gelebt. Du hast unvergleichliche Erfahrungen. Du hast Zugang zu deinen Instinkten. Du bist Musiker.“

„Ich weiß, ich bin eine Art Haustier“, sagte Leon.

„Wie großmütig, Platz für einen anderen zu machen, der besser zu mir passt! Dann geh doch. Hau ab!“ Ich wischte die Pizzaschachtel mit der flachen Hand von der Werkbank. Sie zerbröckelte auf dem Boden. Ich flüchtete ins Haus. Die Wohnung schien mir klein und elend, ich musste raus, weit weg. Ich stürmte die Treppe hinunter. Ohne über mein Ziel nachzudenken, riss ich das Fahrrad aus dem Ständer und fuhr los. Nach einer halben Stunde kam ich auf dem Bahnhof Lichtenberg an. Wie von selbst hatte ich diese Richtung eingeschlagen. Es ging auf acht. Bis zum nächsten Zug nach Kostrzyn waren noch zwanzig Minuten Zeit. Ich kaufte Gummibärchen und aß wie besessen, während ich nachdachte und mir die Begegnung mit Koljas Mutter vorstellte.

Um diese Zeit war der Zug fast leer. Ich fiel aus der Zeit, spürte die Länge der Fahrt nicht, kann mich kaum erinnern, wie ich aus dem Zug und auf das Fahrrad stieg. Erst, als ich vor dem Haus stand, fand ich zurück in die Gegenwart.

Im Wohnzimmer und in der Küche brannte Licht, aber es war niemand zu sehen. Aus dem Wohnzimmer rieselte Licht auf die Terrasse, auf der jetzt Gartenmöbel standen. An einem Spalier neben der Eingangstür neigten sich schwere Rosenblüten.

Ich nahm meinen Mut zusammen und klingelte am Gartentor. Zuerst war im Lichtrahmen der Tür nur die große, schlanke Silhouette von Koljas Mutter zu sehen. Sie trat heraus in den Garten. Sie lief in schmalen Schritten. Ihr Gang war trotz der flachen Sandalen elegant. Sie trug ein Umschlagtuch mit Fransen. Die Fransen pendelten leicht im Rhythmus ihrer Schritte. Ihr Gesicht löste sich aus dem Dunkel. Wie Scheinwerfer waren ihre neugierigen, dunklen Augen auf mich gerichtet. Das Haar trug sie extrem kurz geschnitten, wie, um den großen Augen noch mehr Platz zu lassen.

„Entschuldigen Sie bitte“, sagte ich. „Ich bin eine Kollegin von Kolja.“ Ich nannte meinen Namen.

„Ja?“ Sie öffnete das Gartentor und ließ mich nicht aus den Augen.

„Ich war den ganzen Tag hier unterwegs. Ich habe eine Radtour gemacht. Jetzt, auf dem Rückweg, dachte ich, dass Kolja mit seiner Frau und dem Baby vielleicht hier draußen ist. Ich dachte, ich klingle einfach mal. Hätte ja sein können, ist doch eine gute Umgebung kurz nach der Entbindung: grün und ruhig, erholsam. Es war nur eine Idee, entschuldigen Sie bitte.“

„Kommen Sie doch einen Moment herein“, bat Koljas Mutter.

„Nein, nein, danke, ich muss heute noch zurück nach Berlin und es ist schon spät.“

Sie schaute auf ihre kleine, rechteckige Armbanduhr. „Sie haben noch eine gute Stunde bis zum nächsten Zug.“

Ich hielt die Luft an. „Also gut.“

Ich lehnte mein Fahrrad an den Gartenzaun und folgte ihr über die Wiese ins Haus. Sofort, als ich es betrat, wärmte mich die Erinnerung an die drei Tage, die ich allein hier verbracht hatte.

„Möchten Sie einen Tee?“

„Gern.“

Es lief kein Fernseher und ich konnte keine Arbeit entdecken, bei der ich sie gestört hatte.
Sie nahm eine geblümte Kanne aus dem Küchenschrank und wählte Teebeutel aus einer alten Keksdose. Sie bewegte sich geschmeidig und selbstbewusst, mit der aufrechten, disziplinierten Haltung einer Tänzerin. Ich erkundigte mich nach dem Baby. Koljas Mutter ließ die Teekanne stehen und wandte sich mir zu. „Sie hat so ein ausdrucksstarkes Gesicht“, sagte sie. „Es steht schon so viel über sie darin geschrieben. Ich glaube, sie ist ein heiterer Mensch.“

„Wie Kolja“, sagte ich.

Das herzliche Lächeln ihrer Augen traf mich so unvermittelt stark, dass ich einen winzigen Moment lang daran zweifelte, aber ich musste ihr glauben. Nichts war künstlich an ihrem Ausdruck. Trotzdem fühlte ich mich wie auf einer Bühne. „Ja“, sagte sie. „Ella hat ganz bestimmt Koljas Witz.“ Sie goss den Tee auf. „Sie sind Architektin?“, fragte sie. Ich erzählte von dem Praktikum in Koljas Büro und von meinem Studium.

„Sie sind noch jung“, sagte sie.

„Zwei Jahre älter als Kolja,“ sagte ich.

„Das ist ja kaum zu glauben“, sagte sie temperamentvoll. „Dann haben Sie mit vierzig Jahren ein Studium angefangen. Das finde ich großartig.“ Ihre Natürlichkeit wirkte fein durchdacht. Sie war jemand, der nichts dem Zufall überließ, selbst unangemeldete Besuche.

Als wir uns gegenüber saßen – sie im Sessel, ich auf dem Sofa – schien es mir, als ob sie mich amüsiert betrachtete. „Ihr Haus hat sehr viel Charme“, sagte ich. „Kolja hat es uns einmal gezeigt, als wir einen Büroausflug zum See gemacht haben, im Winter. Er hat uns hier einen Kaffee gekocht.“ Hatte Kolja sich vor ihr über mich lustig gemacht?

Sie reichte mir die Teetasse und hüllte sich ganz in das wollene Umschlagtuch mit den langen Fransen. „Sie haben einen sehr wichtigen Beruf gewählt“, sagte sie und blickte ernsthaft wie eine Lehrerin. „Sie arbeiten ja nicht nur mit Wohnungen, sondern auch mit Menschen, nicht wahr? Sie vertrauen sich Ihnen an. Sie vertrauen Ihnen ihre Wohnungen an. Die Gestaltung einer Wohnung ist doch essentiell wichtig. Sicher erfahren Sie bei dieser Arbeit viel über Menschen.“

„Gewissermaßen bin ich eine Schneiderin für die dritte Haut, die Wohnung, ja. Sie haben Recht, es sind die Menschen, die mich an dieser Arbeit am meisten interessieren.“ Ich staunte, mich das sagen zu hören, denn dieser Aspekt meiner Arbeit war mir noch nicht bewusst gewesen.

Ihre Nähe machte schwerelos. Schon war ich bereit, alles über Kolja und mich zu erzählen. Aber ich hielt mich zurück, erzählte von Jolanda, den Erdbeerfeldern und Leon.

„Sie werden ihren Weg gehen, weil sie ein offenes Herz haben“, sagte sie.

„Wie meinen Sie das?“

„Mit vierzig Jahren haben doch viele schon Vorurteile. Sie glauben, die ganze Welt zu kennen. Das macht die Leute alt. Aber Ihr Geist ist frisch. Sie wagen neue Wege. Sie glauben an sich.“

„Oh, nicht immer“, sagte ich.

„Zweifel sind auch wichtig. Ohne Unzufriedenheit kommen wir ja nicht weiter. Aber wenn die Unzufriedenheit dazu führt, dass wir an uns arbeiten, sollten wir uns glücklich schätzen.“

Ich blickte in meine Teetasse. „Kolja hat mir sehr geholfen“, sagte ich. „Vielleicht hätte ich nicht gewagt, das Studium zu beginnen, wenn ich ihn nicht getroffen hätte. Er hat mir Mut gemacht. Man braucht Leute, die einem Mut machen.“ Sie lehnte sich zufrieden in ihrem Sessel zurück. „Kolja bedeutet mir viel“, sagte ich. Sie blickte mich an. Ihre Augen scannten mich, fanden den wahren Grund meines Besuches.

Ich verabschiedete mich spät. Ich musste den letzten Zug nach Berlin erreichen. Sie bot mir nicht an, bei sich zu übernachten. Sie sagte, sie würde sich freuen, mich wiederzusehen. Ich hatte erwartet, dass sie mich umarmt, aber sie blieb distinguiert, eine Dame, die ihre Herzlichkeit dosiert einsetzte.

„Bitte grüßen Sie Kolja“, sagte ich.

Immer noch schwerelos, flog ich im Mondlicht über das grobe Pflaster der Landstraße zurück zum Bahnhof. Ich spürte nicht, dass ich fror. Wieder fiel ich aus der Zeit. Der Zug rauschte langsam durch das Land. In Berlin fand ich zurück in die Nacht, fragte mich, ob Leon auf mich gewartet hatte. Ach Worte! Warum hatte ich ihn nicht in den Arm genommen und seinen Mund wieder weich geküsst? Die Stadt war lauwarm und laut und staubig. Leon schlief. Das Mondlicht funkelte in unserem Wandschirm. Ich zog mich schnell aus, schlüpfte ins Bett drückte mich dicht an ihn.

Kathrins Notiz-Blog 12. Mai 2011

© Illustration Liane Heinze

Nachdem Kolja gegangen war, spürte ich eine schmerzhafte Sehnsucht nach Leon, kein schlechtes Gewissen, aber den Wunsch, mit ihm zu sein, weil er niemals ging, sondern jeden Abend anrief, egal, ob er in Amsterdam war oder in Brüssel oder in irgendeinem belgischen Dorf. Weil er mich brauchte. Ich rief Leon an. Er war nicht mehr in Amsterdam. Er war weiter gefahren, nach Verviers.

Eine ganze Nacht lang war ich unterwegs, bevor der Zug morgens durch eine enge Felsenschlucht und wenig später in dem kleinen, quirligen Bahnhof von Verviers einfuhr. Leon auf dem Bahnsteig hatte Ringe unter den Augen. Sein Hemd war schief geknöpft. Ich musste auf der Plattform des Zuges warten, denn eine starke, in ein safrangelbes Gewand gewickelte Frau brauchte fast den gesamten Aufenthalt des Zuges, um Lederkoffer und karierte Gepäckbeutel aus dem Zug zu reichen, ein riesiger Berg an Gepäck. Ihr Mann auf dem Bahnsteig nahm sie entgegen und baute den Berg draußen wieder auf. Daneben warteten ihre Kinder. Ich überlegte, ob ich die Frau um den Mann, die Kinder und das Gepäck, um diese Fülle von Leben, an der sie schleppte, beneidete.

Leon pappte die Locken in die Stirn, küsste mich fahrig und zog mich rasch hinter sich her. „So!“, sagte er vor dem Bahnhof und räusperte sich mehrmals nervös. Das erste Mal reiste ich zu ihm, wenige Stunden nachdem ich mit Kolja geschlafen hatte, doch sofort übernahm er unseren gewohnten Rhythmus. Leon schien die Veränderung an mir nicht wahrzunehmen.

Wir erreichten ein kleines Hotel an einem belebten Boulevard. Die Dame an der Rezeption lächelte Leon freundlich an. Sie begrüßte ihn schon von weitem mit Namen. Das Gesicht unter der gelackten Frisur bekam einen warmen Ausdruck, als empfange sie in ihrem Reihenhäuschen zu Weihnachten einen lieben Gast. Sie löste sich schlank von der Wand am Tresen und reichte Leon den Schlüssel, ohne mich anzuschauen. Leon erwiderte ihre Freundlichkeit nicht. Er nahm den Schlüssel und zog mich hastig weiter zum Aufzug.

Ich stellte meine Tasche im Zimmer ab. Die Sonne war verschwunden. Die Gardinen erzeugten ein kalkiges Licht im Raum. Ein herannahendes Gewitter verdichtete die Luft.

Leons Hand fühlte sich schwer und warm an. Ich legte sie an meine Wange. „Was ist?“, flüsterte er. Ich schüttelte den Kopf. „Gar nichts.“ Er setzte sich auf die Bettkante und schaute mich endlich an. Seine Hände lagen auf meinem Po, aber er hielt die Distanz und betrachtete mich weiter. Jetzt fiel ihm auf, dass ich verändert war. „Du siehst müde aus“, sagte er. „Steht dir gut, diese Erschöpfung.“ Es war aber nicht die Erschöpfung, sondern die wieder gewonnene Fähigkeit, in alle Himmelsrichtungen zu denken.

Ich begleitete ihn zu einem Fahrradhändler auf ein kleines Dorf. Während die Männer arbeiteten, lag ich draußen auf der Wiese und versuchte, Jun’ichiro Tanizakis „Lob des Schattens“ weiter zu lesen. Immer wieder schweiften meine Augen in der schwülen Wärme ab, durch einen Wald aus Grashalmen und Gänseblümchen blickte ich auf den grauen Putz des Hauses hinter der verlassenenen Dorfstraße. Ich dachte an die Frau am Tresen. Immer wieder lief der Film ihrer rätselhaften Freundlichkeit bei unserer Ankunft im Hotel vor meinen Augen ab und wie Leon ihr auswich. Ich war sicher, dass er nichts mit ihr hatte und dennoch eifersüchtig.

Am Abend spazierten den Boulevard hinauf. Wir gingen in ein kleines, orientalisch eingerichtetes Bistro, das Pommes Frites in zirka vierhundert Variationen anbot. Während wir die Pommes aßen, lief im Radio eine Ostermesse. Leon begann, auf die Heuchelei des Papstes zu schimpfen, der immer noch Kondome verbot. Die Pommesbäcker hinter dem Tresen gaben ihm Recht. Man wisse ja, dass die Ringe der Kinderschänder bis in den Vatikan reichen, murmelte ein rothaariger, blasser Mann in den Fünfzigern neben uns in seinen heißen Frittenberg. Die Polizei sei bestochen, sonst würde man die Verbrecher doch endlich finden, rief ein kleiner, kugliger Mann aus der Ecke. Es habe doch schon so viele gegeben, die denen auf der Spur gewesen seien. Schließlich mischten sich alle in das Gespräch. Katholische und muslimische Belgier schimpften gemeinsam mit Leon auf den Papst. Draußen begann es heftig zu regnen. Der Regen trommelte auf die Markise. Autoreifen schmatzen hell über den Asphalt. Das Bistro verwandelte sich in eine helle, von den Frittiermaschinen aufgewärmte Insel.

„Habe ich es dir nicht gesagt?“ Leon tänzelte mit einer Zeitung auf dem Kopf die Straße hinab. Er hatte mir sein Jackett gegen die kühle Regenluft gegeben. „So etwas wirst du in Berlin nie erleben.“ Ich wusste jetzt, warum ich auf die Frau am Tresen eifersüchtig war. Die Atmosphäre dieser Stadt passte Leon wie angegossen. Klatschnass kamen wir im Hotel an und krochen unter die heiße Dusche. Ich fürchtete, dass das Neonlicht im Badezimmer mich bloß stellen, dass Leon jetzt sehen würde, was geschehen war, aber er dampfte und stöhnte, seifte und schrubbte an sich und mir herum, eine Tortur, die jede Spur verwischte. Niemals würde ich ihn überrachen können. Er war der launenhaftere von uns.

Kathrins Notiz-Blog 26. April 11

© Illustration Liane Heinze

„Diese christlichen Feiertage bedeuten uns doch nichts“, hatte Leon am Telefon gesagt. Für ihn waren es vier Tage, an denen die Garage geschlossen bleiben musste. Eine gute Gelegenheit, um sich mit Jan in den Niederlanden umzuschauen.

Am Karfreitag saß ich morgens in der Küche, las Zeitung, hörte Radio und trank Kaffee. Meine Füße auf dem Tisch wurden immer kälter, obwohl die Sonne darauf schien. Es war ein schmerzhaft schöner Tag. Er verursachte mir Herzrasen. Ich sehnte das Ende der Feiertage herbei, das Ende der Stille. Dabei hatte ich mich darauf gefreut, in Ruhe zu schlafen und in Ruhe meine Hausarbeit abzuschließen. Aber ich hatte keine Ruhe, keine Ruhe zu lesen, keine Ruhe nachzudenken. Ich ging nach draußen, um der Einsamkeit zu entkommen. Das grelle Licht schien wie geschwärzt.

Ich lief an geschlossenen Läden vorbei und überlegte, wen ich anrufen könnte, ohne dass es ein oberflächliches Palaver bleiben würde. Jolanda war mit Jakob nach Prag gefahren. Ich scrollte durch meine Telefonnummern. Kolja erschien in der Liste. Szenarien gingen mir durch den Sinn: Kolja mit seiner Frau im Flugzeug auf Osterreise. Kolja und seine Frau auf einem Waldweg. Kolja und seine Frau im Garten seiner Mutter. In dem Haus, in dem ich drei Tage gelebt hatte. Die Erinnerung brauste wie ein Balsam in mein Herz. Ich blickte auf und sah ein junges Paar mit Kindern, die ihre Eltern durch den Kiez führten. Die Straßen waren voller junger Paare mit Kindern und Eltern, die auf Besuch gekommen waren. Im nächsten Coffeeshop staute sich eine Familie. Ich stellte mich hinter der amorphen Menge an und wartete, betrachtete Erwachsene und Kinder. Es war nicht ganz klar, wer zu welcher Generation gehörte. Ich beneidete die Verkäuferin, weil es ein ganz normaler Tag für sie sein durfte. In ihrem Laden lief Barockmusik. Ich war von allen Feierlichkeiten ausgeschlossen. Kein Ostergras. Nirgends.

Kolja klang entspannt, träge. Er liege im Garten und lese. Ja, bei seiner Mutter. Ich sah ihn auf der Wiese vor dem Haus in einem der Liegestühle aus Holz und blau-weiß gestreiften, verschlissenen Baumwollstoff, aber er war mir seltsam fremd in diesem Familienidyll. Schon verflog meine Lust auf Osternester. Im Grunde verabscheue ich das gut bürgerliche, selbstgefällige Familienleben, besonders an den Feiertagen. Darin bin ich Leon wirklich ähnlich. Sofort sehnte ich mich danach, dass er neben mir stehen und seine Locken in die Stirn pressen und unruhig auf der Stelle traben und sich umschauen und „So!“ sagen würde, als Zeichen, dass es endlich weitergehen müsse.

„Dieses helle Grün“, sagte ich. „Es bekommt mir nicht. Ich bin kurz davor, wahnsinnig zu werden.“

Kolja erkundigte sich nach Leon. „Er ist nicht da“, sagte ich. „So!“ sagte Kolja, aber es klang ganz anders als das „So!“ von Leon. Bei Kolja klang es neutral, wie eine Bestandsaufnahme. Leon war nicht in der Lage, auch nur ein einziges neutrales Wort zu sagen, genauso wie er nicht in der Lage war, einen Satz einfach nur als Information zu begreifen. Er interpretierte alles sofort als ein „dafür“ oder „dagegen“, meist als ein „dagegen“.  Wenn er mit Menschen ins Gespräch kommt, die er noch nie vorher gesehen hat, hält er sich nicht mit Small Talk auf, sondern greift sie pauschal an (außer Frauen, die ihm gefallen). Die meisten kommen damit nicht klar.

Ich fragte nicht nach Koljas Frau, auch nicht nach dem Baby, das in wenigen Wochen geboren wurde, ein Mädchen. „Ich möchte dich gern sehen“, sagte ich.

Kolja knurrte wohlig und tief, wie ein Kater, der von einem Streicheln geweckt wird.

„Wohin soll ich kommen?“, sagte er.

„Zu mir nach Hause“, sagte ich.

„In zwei Stunden bin ich da“, sagte Kolja.

Ich habe den Fahrplan im Kopf. Die Züge nach Berlin fahren immer 14 Minuten vor der vollen Stunde. Es war 13:24 Uhr. In zweiundzwanzig Minuten würde Kolja in den Zug steigen. Was erzählte er seiner Familie, wo er so schnell hin müsste? Ich würde ihn nicht danach fragen.

Ich ging nach Hause und betrachtete die Wohnung mit Koljas Augen. Noch immer wird sie von Leon dominiert. Überall stehen seine Fahrräder. Mein Platz ist an dem Tisch in der Küche. Immerhin habe ich ihn auf seine maximale Länge ausgezogen. Auf dem Fensterbrett dahinter türmen sich meine Unterlagen und Bücher.

Ich betrat das Zimmer und schaute mit Koljas Augen auf das Bett. In dem Wandschirm dahinter funkelten die Wasserfarben im Sonnenlicht. Es würde unmöglich sein, mit Kolja in diesem Bett zu liegen. Es war der Ort, der Leon und mir gehörte, ein heiliger Ort.

Als Kolja am Bahnhof Lichtenberg aus dem Zug stieg, war ich da um ihn abzuholen. Er schlenderte über den leeren Bahnsteig, die Hände in den Taschen einer dunkelgrünen Leinenhose, mit einem Rotzjungen-Grinsen im gebräunten, blond gestachelten Gesicht. Gleich würde er mir sagen, dass er den Zug gekidnapped und zum Alex weiter gezwungen hätte, wenn ich nicht hier aufgetaucht wäre. Wir liefen die lange Schräge vom Bahnsteig hinunter. „Vielleicht ist das neurotisch“, sagte ich. „Aber ich kann es nicht bei uns zu Hause machen.“

„Du machst dir zu viele Gedanken“, sagte er und zog mich an den Schultern fester zu sich, eine kumpelhafte Geste, die ich nicht mochte. „Du nimmst dir alles zu sehr zu Herzen.“

„Kann man dagegen was tun?“, fragte ich.

Kolja machte auf der Höhe seines Herzens eine grabende Bewegung und krümmte sich. „Das Herz verkaufen“, sagte er und hielt es mir in der Schale seiner Hand hin. „Und durch einen Stein ersetzen.“ Er lachte eisig, dieser Holländer-Michel. Nicht lustig.

„Wir können zu mir gehen“, schlug Kolja vor, aber das mochte ich nicht. Plötzlich fiel mir ein, dass ich den Schlüssel zu Jolandas Wohnung hatte, die ja immer noch auch meine Wohnung war. Aber ich wollte sie zumindest vorher anrufen. Doch weder Jolanda noch Jakob gingen ans Telefon.

„Warum machst du alles so kompliziert?“ sagte Kolja.

„Würdest du es gut finden, wenn in deiner Abwesenheit….“

„Nein, aber warum gehen wir nicht zu dir?“

„Hab ich dir doch gesagt. Ich muss das trennen.“ Wir standen auf dem Bürgersteig.

„Du trabst wie ein Pony“, sagte Kolja.

„Was?“

„Ja, das ist süß.“ Er holte eine verbeulte Zigarette aus seiner Hosentasche.

„Das ist doch nur ein Trick“, sagte er. „Du belügst dich selbst, indem du versuchst, etwas zu tun und gleichzeitig nicht zu tun.“

„Gib mir mal einen Zug. Ich muss nachdenken.“ Ich nahm ihm die Zigarette aus der Hand. Eine Großfamilie schlängelte sich im Gänsemarsch um uns herum.

Von einem intelligenten Mann durchschaut zu werden, ist ein gutes Gefühl für eine Frau.

„So“, sagte ich. „Gehen wir.“

Die Sonne fiel warm ins Zimmer. Die Trommeln glitzerten. Ich öffnete die Fenster. Der Wind bewegte die Baumkrone im Hof. Von irgendwo wehte das trockene Geräusch von Klanghölzern. Ich zog mich schnell aus und setzte mich nackt neben Kolja auf das Bett. Er rauchte und schaute mich an. Er berührte mich hier und da, an den Brüsten, der Taille, dem Arm. Er zeichnete mit der flachen Hand den Bogen vom Po zu den angewinkelten Oberschenkeln nach. Seine Berührungen erregten mich nicht. Ich fühlte mich wie ein wertvoller Bildband, in dem Kolja hin und her blätterte, mit ästhetischen Vergnügen und der sinnlichen Neugierde auf das Geheimnis des Schönen.

„Erdige, knuffige Rundungen“, sagte er. „Würdest du essen, wärst du dick.“

„Ich esse“, sagte ich.

„Zu wenig“, sagte er. „Du darfst dir nichts vorenthalten. Nimm dir, worauf du Hunger hast.“

„Du bist wie eine Mutter“, sagte ich. Er grinste und wurde rot. Ich strich an seinem Bart entlang, der bei genauer Betrachtung nicht mehr blond, sondern grau war. „Wie ist es jetzt da draußen?“

„Schön“, sagte er. „Lenk nicht ab. Angezogen siehst du viel dünner aus. Warum versteckst du dich?“

Er stand auf. In der Küche warf er seine Zigarette in den Müll und wickelte einen Kaugummi aus dem Papier. Ich streckte mich auf dem Bett aus. Plötzlich war ich nicht mehr unglücklich, weil meine Beckenknochen nicht vorstanden und meine Brüste Beulen in den T-Shirts hinterließen. Bisher hatte mich beides geärgert.

„Wann fahren wir in das Haus?“ fragte ich.

„Wann immer du willst.“

Kolja trug nichts unter seiner Leinenhose. „Ziemlich gewagt“, sagte ich.

„Es ist Sommer“, sagte er. „Es ist heiß.“

„Noch ist kein Sommer“, sagte ich. „Ich kann das Sommergefühl kaum erwarten.“

Kolja betrachtete mich aufmerksam, die ganze Zeit. Durch den Schleier meiner Wimpern sah ich, wie er mich beobachtete, bis ich immer höhere Wellen schlug und ihn schließlich dicht an mich heranzog und mit meinen Beinen umarmte und wir zur Seite kugelten. Er röchelte wie ein Kranker, wie ein Sterbender.