Kathrins Notiz-Blog 1. Januar 2011

© Illustration Liane Heinze

Am ersten Tag des Jahres fühle ich mich wie auf einem Sprungbrett. Unter mir liegt das Jahr wie eine unbekannte Landschaft ausgebreitet. Das Feiern ist zu Ende. Ich wünsche mir eine Verlängerung des kuscheligen Weihnachtsgefühls, nur ein Stück Stollen noch und einen Glühwein, aber nein: Nach dem ersten Januar brennen die Kerzen am Weihnachtsbaum schneller runter als an den Feiertagen und die Gedanken formieren sich bereits für dieses unbekannte Land, das es ab Montag einzunehmen gilt. Wir müssen uns stellen. Springen. Zu der Ernüchterung passt es, dass die stille, glitzernde Schneedecke im Hof seit gestern schmilzt und mit dem Silvestermüll eine katergraue, dickflüssige Lache bildet.

In den vergangenen Wochen saß ich über dem Entwurf eines Fleischerladens, der zu einem Kieztheater umgestaltet werden soll. Ich habe oft eine Pause bei Leon eingelegt. Mit einem Glühwein, die Füße auf dem kleinen, elektrischen Heizkörper, saß ich in seiner Garage auf der Werkbank und schaute zu, wie er Fahrradteile wie kleine Kostbarkeiten aus den Paketen nahm und betrachtete, als hätte er sie nur bestellt, um sich an ihrem Anblick zu ergötzen. Ich beneide Leon darum, dass er so mühelos mit seiner Arbeit verschmilzt, dass Zeit und Kälte unbemerkt an ihm vorüber streichen. Der Ausdruck „alles im Fluss“ geht mir durch den Sinn. Ich hingegen hatte Angst vor meinem Entwurf. Sobald ich mich daran mache, gerate ich ins Schwitzen und entwickele aller zwei Stunden ein anderes Gelüst: Schokolade, Kaffee, Obst, einen Song von Abba, einen Song von Sting, ein bisschen Renaissance, dann wieder Barock. Unzufriedenheit wird mich quälen bis sich die Überzeugung einstellt, dass endlich alles stimmt. Doch ob und wann dieser Moment kommen wird, ist unvorhersehbar.

Die Weihnachtszeit bedeutet Leon nichts. Er mag es nicht, irgendeinen Tag mit Jahr mit Bedeutung zu füllen und mit Erwartung zu überfrachten. Das führt zu Enttäuschung, sagt er. Entweder du fühlst dich gerade gut mit deinem Leben oder nicht. Du kannst nicht sagen: Heute ist Weihnachten, da bin ich fröhlich.

Bei mir ist das anders. Ich freue mich schon auf Weihnachten, wenn im Spätsommer die ersten Paletten mit Spekulatius im Supermarkt auftauchen. Ich kann das nicht erklären. Es ist ein Naturgesetz. Wie die Bäume zu dieser Zeit aufhören, Chlorophyll zu produzieren, gewinnt eine feierliche Melancholie in meinen Gliedern die Oberhand. Spätestens im Oktober singe ich beim Duschen die ersten Weihnachtslieder. Schon vor dem ersten Advent kaufe ich einen Weihnachtsbaum.

Es ist der Baum, sagte ich, um Leon zu erklären, womit ich das schwindende Chlorophyll draußen in mir kompensiere. Er versteht etwas von Bäumen. Vielleicht ist das sogar einer der wenigen gemeinsamen Nenner unserer Seelen: Die Bäume.

Ich ehre die Bäume das ganze Jahr lang, sagte Leon.  Ich brauche kein Weihnachten dafür.

Der Baum und das Kind, sagte ich. Darum geht es. Deshalb auch die Geschenke. Weil die Bäume wachsen und Früchte geben.

Es fällt mir schwer, Leon nichts zu schenken, aber ich halte mich an die Abmachung. Es stört mich nicht, wenn er in der Heiligen Nacht gegen zehn mit ölverschmierten Fingern aus der Garage kommt. Ich habe schließlich auch immer zu tun. Nach den Feiertagen bringt er plötzlich kleine Pakete an. Und dann kann auch ich mich nicht mehr zurückhalten und hole das Parfüm hervor, das ich im Advent für ihn ausgewählt habe.

Kathrins Notiz-Blog 14. November 10

© Illustration Liane Heinze

Am Donnerstag rief Leon an und sagte, dass er an diesem Wochenende nicht kommen werde. Er habe Jan sechs Fahrräder abgekauft und möchte sie gleich von Amsterdam aus über seinen Webshop weiter verkaufen. Dann brauche er die Räder nicht erst nach Berlin schicken.

„Dann stehen sie in der Wohnung nicht im Weg. Sie sind zu wertvoll, um sie in der Garage unterzubringen.“

„Kein Problem. Du weißt, ich bin gern allein.“

„Du kannst ungestört lernen“, sagt Leon.

„Ja.“

„Oder möchtest du herkommen?“

„Nach Amsterdam?“

„Das Hotel ist nett“, sagt Leon. „Sie machen ein gutes Frühstück. Man kann es sich auf das Zimmer kommen lassen.“

„Du warst schon dort?“

„Ja.“

Der stille Gang des Hotels. Ein blaugrauer Teppichboden, über den ein goldener Servierwagen rollt. Der Page klopft an unser Zimmer und serviert das Frühstück.

Leon sagt: „Es ist gerade wahnsinnig anstrengend. Ich habe Kopfschmerzen. Ich liege angezogen im Bett. Ich glaube, ich werde krank.“

„Hast du Fieber?“

„Ich habe nicht gemessen.“

Leon allein auf dem weißen Bett. Das Zimmer ist klein und einfach. Er liegt im Dunkeln. Nur sein Laptop surrt und beleuchtet kalt einen Winkel des Bettzeugs. Sein Mund ist schmerzverzerrt und schwarz wie das Mundloch eines Sterbenden.

„Soll ich kommen?“ frage ich.

„Ja, bitte. Komm“, sagt Leon.

„Könntest du…ich meine, teilen wir uns die Fahrtkosten? Es ist ziemlich teuer bis Amsterdam.“ Leon stöhnt. „Immer wieder das“, sagt er. „Das wird nie aufhören.“

Letzte Nacht fiel kein Lichtschein auf unseren Raumteiler. Die Wasserfarben blieben stumm. Ich lag lange wach. Dann träumte ich, dass Leons Hotelzimmer Räder hat und sich wie ein Eisenbahnwagen auf Schienen, immer weiter von mir entfernt. Neben ihm im Bett saß eine Frau, deren Gesicht ich nicht sehen konnte, aber ich hörte ihren Schrei. Sie schrie, dass Leon stirbt. Ich wollte los laufen, dem Wagen hinterher, aber ich klebte an dem Bahnsteig fest. Ich konnte mich nicht rühren.

Gegen Morgen, kurz bevor ich erwachte, war Leon in meinem Traum und hielt mich fest und tröstete mich. Es ist nichts geschehen, sagte er. Gar nichts ist geschehen. Er hielt meinen Kopf und strich mir über das Haar.

In dieser Umarmung blieb ich den ganzen Tag. Und ich bin darin noch immer. Gegen vier Uhr, als ich nach dem Brunch bei Jolandas Großeltern in der späten Wärme mein Fahrrad durch die Straßen schob, als die Fassaden vor den klaren Himmel traten wie Theaterkulissen und die Lichter der Stadt aufflammten, erinnerte ich mich plötzlich daran, einmal gewünscht zu haben, dass Leon eine andere Frau trifft und nicht zu mir zurück kommt. Ich musste weinen, aber ich war glücklich, weil nichts geschehen war.

Kathrins Notiz-Blog 7. November 10

© Illustration Liane Heinze

Am Mittwoch habe ich mir eine Wohnung in der Rheinsberger Straße angeschaut. Es ist mir ernst. Ich werde mich von Leon trennen.

Letztes Wochenende war Jan aus Amsterdam hier, neuerdings der wichtigste Mensch in Leons Leben. Er unterhält ein Lager mit Retrobikes, die er in den Vereinigten Staaten einkauft. Als Leon Jans Lager zum ersten Mal betreten hat, ist ihm ein Martinshorn aus der Stirn gewachsen. Seit Leon mit dem Blaulicht auf der Stirn umher läuft, schläft er noch weniger. Mir bleibt nichts anderes übrig, als unter die Decke zu kriechen und meinen Kopf zwischen die Knie zu schieben, um nichts zu hören und zu sehen. Bequem ist das nicht.

Jan ist groß und schlank und fröhlich, aber seine Augen sind klein und seine Lider geschwollen, so dass ich nicht in ihn hinein blicken konnte, als er mich begrüßte. Er war auf der Durchreise von Warschau nach Amsterdam. Männer wie Jan sind vermutlich immer auf der Durchreise. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendwo langsam aufgewachsen ist und dabei Käfer beobachtet und in Bilderbüchern vor und zurück geblättert hat. Männer wie Jan sprechen ja auch nicht über ihre Kindheit. Und das hat einen Grund: Sie wurden nie geboren. Sie sind am Straßenrand aus einem stachligen Gewächs mit einem Knall aufgebrochen und los gelaufen. Auf der Durchreise hat Jan polnisch, englisch und deutsch gelernt.

Bei seiner Ankunft hatte Jan in Überschallgeschwindigkeit ein Tiefdruckgebiet durchbrochen und eine warme Luftwelle aus dem südpolnischen Raum hinter sich her gerissen, die bis zu seiner Abreise in Berlin verharrte. Wir nutzten die Wärme und grillten vor der Garage. Auch Leons Geschäftspartner Frank und seine Frau Martina waren da. Ich hatte Martina noch nie zuvor gesehen. Ich versuchte es mit einem Gespräch über die Energiepolitik. Die Männer hatten ja ihr Thema. Martina sah so aus, als ob sie in ihrem Schrebergarten ein privates Windrad betreibt. Sie kommentierte die Energiepolitik aber nur mit: „Schöne Scheiße.“, dann war das Thema erledigt. Ich versuchte es mit dem Herbst. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Herbst je so geleuchtet und die Blätter so herrlich geraschelt haben. Martina war das aber nicht aufgefallen. Ich fragte, was sie so macht. Sie sagte, sie mache gerade nichts. Ich wurde müde.

Am nächsten Morgen standen zwei volle blaue Müllsäcke in der Küche, in denen unsortiert Teller und Gläser, abgenagte Knochen, Stiele und Strünke steckten. Leon und Jan waren schon in Richtung Amsterdam los geknattert.

Mir wurde klar, dass ich Leon nie wirklich geliebt habe.

In meiner alten Wohnung lebt Jolanda jetzt mit Jakob. Es ist eine gemütliche Vorstellung, dass die beiden dort sind. Ich möchte auch gar nicht zurück. Es wäre ein Schritt in die falsche Richtung. Wenn man eine Beziehung beendet, sollte man irgendwo neu beginnen.

Ich stand im Gewühl der Wohnungsbesichtiger im dritten Stock in der Rheinsberger Straße, dort, wo sie in den Wedding mündet und spürte meine Angst. Blaue Polstermöbel. Ein langer, dunkler Korridor. Der Blick auf graue Neubaufassaden auf der gegenüberliegenden Seite. Das Gefühl, in einer Schlucht zu stecken. Dies war kein guter Ort für einen Neuanfang.

Ich ging zurück nach Hause. Ich schlich. Der Regen fiel mir in den Nacken. Bei dem Altwarenhändler in der Schwedter Straße blieb ich stehen und betrachtete wieder den golden schimmernden Buddha im Fenster, dessen Kleid mit vielen Steinen besetzt ist. Er breitet die Spitzen seines Rocks mit seinen schmalen Fingern aus, erhaben über den kitschigen Kronleuchter über seinem Haupt und den Servierwagen aus Plastik mit den Siebzigerjahre-Tassen neben ihm. Einmal habe ich den Händler nach dem Preis gefragt. Seitdem habe ich Angst, dass einer der neuen Bewohner der Townhouses in der Schwedter Straße auf die Idee kommen könnte, er wäre tatsächlich wertvoll und ihn kauft. Ich muss ihn nicht besitzen, aber ich würde ihn vermissen, wenn er nicht mehr dort steht.

Zuhause warf ich die zwei blauen Säcke mit den Gläsern, Tellern und den Kriebsen und Stielen in die Mülltonne. Auch meine Liebe zu Leon war nicht mehr als ein abgenagter Knochen.

Kathrins Notiz-Blog 28. Oktober 10

© Illustration Liane Heinze

„Du hast nicht angerufen. Ich dachte, es würde dich interessieren, was für eine Note ich habe. Aber du hast nicht angerufen.“

Leon blickte nicht von seiner Arbeit nicht auf. Er montierte ein Schutzblech. Er trug eine geringelte Wollmütze über den Locken. „Doch“, sagte er. „Ich wollte es wissen. Ich habe auf dich gewartet.“ Er zog eine Mutter langsam fest. Dann setzte er den Schraubenschlüssel an der nächsten an.

„Hast du nicht“, schrie ich. „Wenn man auf jemanden wartet, dreht man die Heizung auf, zündet Kerzen an und kocht etwas.“ Ich sprang von der Werkbank, floh ins Haus, verletzte mich an der Pedale eines Rennrades von dem Kunden, der gerade den Hof betrat, aber das sah ich erst später. In diesem Moment fühlte ich nichts. Mein Weinen klang wie ein Lachen. Wenn das Weinen wie ein Lachen klingt, fühlt man nichts mehr. Meine Teetasse lag zerbrochen in der Garage. Ich warf die Wohnungstür hinter mir zu und dann blieb die Zeit stehen.

„Was ist los?“ Leon stand in der Tür.

„Lass mich in Ruhe.“

„Ich möchte mit dir reden“, sagte er.

Jedes an mich gerichtete Wort, erst recht seine Berührung, waren unerträglich. „Geh weg.“

Ich saß in der Küche auf dem Fensterbrett, zusammen geschnürt wie ein Päckchen. Ich musste den ganzen Nachmittag so gesessen haben, denn als ich ruhiger wurde, kroch der Abend in den Hof. Ich schaute nach unten. Die Garage war verschlossen. Leon war nicht da.

Ich wusch mein Gesicht und setzte mich vor den Fernseher. Ich wusste nicht mehr, was ich sah. Es war unwichtig. Später kam Leon und stellte eine Gepäcktasche in die Küche und packte aus: Spaghetti, Parmesan, Sardellen, Kapern, Oliven und Petersilie. „Na komm“, sagte er. „Wir kochen.“ Und setzte den großen Topf mit Wasser auf. Ich zerdrückte die Sardellen und Kapern auf einem Teller und schnitt die Oliven und die Petersilie.

„Ich habe eine Eins bekommen“, sagte ich.

Kathrins Notiz-Blog 12. Oktober 10

© Illustration Liane Heinze

„Ich mache mir Sorgen um dich“, sagte Jolanda. „Du klingst wie die meisten Frauen in deinem Alter. Du musst mal raus.“

Ich versuchte, das Telefon so zu halten, dass ich es nicht berührte. Meine Hände waren schmierig. Ich blickte an meinen bekleckerten Arbeitshosen hinab zu den rot-weißen Sneakers, die ich nur noch zum Renovieren trug. Es war die erste Kette, die ich aufzog. Leon war wieder einmal nicht da. Ich vertrat ihn in der Garage. Nur zwei Tage, kein Problem also. Ich hatte gerade nicht viel für die Uni zu tun, nicht soviel, dass ich nicht von Zeit zu Zeit in der Garage aushelfen konnte.

Als Jolanda aufgelegt hatte, versetzte ich dem Fahrrad einen Tritt.

An diesem Abend ging ich mit ihr, Jakob und Jakobs allein lebenden Vater in die Sophiensäle. Das Stück hieß „Barnes-Dance“ nach dem amerikanischen Verkehrsingenieur, der die Kreuzung erfunden hatte, bei der alle Fußgänger gleichzeitig über die Kreuzung laufen. Wie an der Kreuzung hinter dem Checkpoint Charlie. Auf dieser Kreuzung spielten sich immer wieder die gleichen Szenen ab. Zwei Frauen sprachen ständig dieselben Sätze, ein Schwarzer wurde angerempelt und ein Türke verlor eine Familienpackung Orangen. Einmal half ihm eine japanische Touristin, die Orangen wieder aufzusammeln. Das war eigentlich die schönste Szene des Stücks. Sörens Vater fand „Barnes-Dance“ poetisch. Ich fragte mich, was poetisch daran ist, angerempelt zu werden, Obst zu verlieren und immer das gleiche zu reden. An der Bar im Foyer betrachtete ich meine Hände. In den Rillen hockte noch immer der Schmutz von der Kette. Meine Fingernägel hatte ich auch nicht richtig sauber gekriegt. Nichts war poetisch.

In der Nacht rief Leon an und fragte, ob in der Garage alles in Ordnung sei. „Übrigens geht es mir gut“, sagte ich. „Danke der Nachfrage.“

Wenige Tage später gingen Bertram und ich ins Radialsystem, zum Musikfestival „Nordlichter“, das die ganze Nacht dauerte. Es störte mich, dass in den Konzertsälen Bier getrunken und Gulasch gegessen wurde. Bertram fand das gut. Er fand, es sei ein Fortschritt gegenüber der steifen, bürgerlichen Konzertatmosphäre. Wir stritten über die Heiligkeit der Kunst. „Wieso nimmst du das so schwer? Was ist mit dir los?“, fragte Bertram.

„Beim Sex isst man auch keinen Gulasch“, sagte ich.

„So unkreativ kenne ich dich gar nicht“, sagte Bertram. Er lachte mich aus.

Hatte es etwas mit dem Alter zu tun, dass mich Gulasch-Geruch während eines Konzerts wütend machte? War ich etwa verbittert? Wieso nervten mich die Leute auf der Barnes-Kreuzung, die doch nur taten, was alle in dieser Stadt tun?

Gegen Morgen verließ ich das Festival. Ich rief Jolanda an. „Kann ich zu dir kommen? Wir könnten zusammen frühstücken. Ich bringe Croissants mit.“

„Komm vorbei“, sagte Jolanda.

Wir hatten beide die ganze Nacht nicht geschlafen. Jolanda war mit Jakob in einem Club gewesen. Wir saßen zu zweit in der Küche und tranken Kaffee und freuten uns, mit verschmierter Schminke in die Morgensonne zu blinzeln.