Kathrins Notiz-Blog 7. November 10

© Illustration Liane Heinze

Am Mittwoch habe ich mir eine Wohnung in der Rheinsberger Straße angeschaut. Es ist mir ernst. Ich werde mich von Leon trennen.

Letztes Wochenende war Jan aus Amsterdam hier, neuerdings der wichtigste Mensch in Leons Leben. Er unterhält ein Lager mit Retrobikes, die er in den Vereinigten Staaten einkauft. Als Leon Jans Lager zum ersten Mal betreten hat, ist ihm ein Martinshorn aus der Stirn gewachsen. Seit Leon mit dem Blaulicht auf der Stirn umher läuft, schläft er noch weniger. Mir bleibt nichts anderes übrig, als unter die Decke zu kriechen und meinen Kopf zwischen die Knie zu schieben, um nichts zu hören und zu sehen. Bequem ist das nicht.

Jan ist groß und schlank und fröhlich, aber seine Augen sind klein und seine Lider geschwollen, so dass ich nicht in ihn hinein blicken konnte, als er mich begrüßte. Er war auf der Durchreise von Warschau nach Amsterdam. Männer wie Jan sind vermutlich immer auf der Durchreise. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendwo langsam aufgewachsen ist und dabei Käfer beobachtet und in Bilderbüchern vor und zurück geblättert hat. Männer wie Jan sprechen ja auch nicht über ihre Kindheit. Und das hat einen Grund: Sie wurden nie geboren. Sie sind am Straßenrand aus einem stachligen Gewächs mit einem Knall aufgebrochen und los gelaufen. Auf der Durchreise hat Jan polnisch, englisch und deutsch gelernt.

Bei seiner Ankunft hatte Jan in Überschallgeschwindigkeit ein Tiefdruckgebiet durchbrochen und eine warme Luftwelle aus dem südpolnischen Raum hinter sich her gerissen, die bis zu seiner Abreise in Berlin verharrte. Wir nutzten die Wärme und grillten vor der Garage. Auch Leons Geschäftspartner Frank und seine Frau Martina waren da. Ich hatte Martina noch nie zuvor gesehen. Ich versuchte es mit einem Gespräch über die Energiepolitik. Die Männer hatten ja ihr Thema. Martina sah so aus, als ob sie in ihrem Schrebergarten ein privates Windrad betreibt. Sie kommentierte die Energiepolitik aber nur mit: „Schöne Scheiße.“, dann war das Thema erledigt. Ich versuchte es mit dem Herbst. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Herbst je so geleuchtet und die Blätter so herrlich geraschelt haben. Martina war das aber nicht aufgefallen. Ich fragte, was sie so macht. Sie sagte, sie mache gerade nichts. Ich wurde müde.

Am nächsten Morgen standen zwei volle blaue Müllsäcke in der Küche, in denen unsortiert Teller und Gläser, abgenagte Knochen, Stiele und Strünke steckten. Leon und Jan waren schon in Richtung Amsterdam los geknattert.

Mir wurde klar, dass ich Leon nie wirklich geliebt habe.

In meiner alten Wohnung lebt Jolanda jetzt mit Jakob. Es ist eine gemütliche Vorstellung, dass die beiden dort sind. Ich möchte auch gar nicht zurück. Es wäre ein Schritt in die falsche Richtung. Wenn man eine Beziehung beendet, sollte man irgendwo neu beginnen.

Ich stand im Gewühl der Wohnungsbesichtiger im dritten Stock in der Rheinsberger Straße, dort, wo sie in den Wedding mündet und spürte meine Angst. Blaue Polstermöbel. Ein langer, dunkler Korridor. Der Blick auf graue Neubaufassaden auf der gegenüberliegenden Seite. Das Gefühl, in einer Schlucht zu stecken. Dies war kein guter Ort für einen Neuanfang.

Ich ging zurück nach Hause. Ich schlich. Der Regen fiel mir in den Nacken. Bei dem Altwarenhändler in der Schwedter Straße blieb ich stehen und betrachtete wieder den golden schimmernden Buddha im Fenster, dessen Kleid mit vielen Steinen besetzt ist. Er breitet die Spitzen seines Rocks mit seinen schmalen Fingern aus, erhaben über den kitschigen Kronleuchter über seinem Haupt und den Servierwagen aus Plastik mit den Siebzigerjahre-Tassen neben ihm. Einmal habe ich den Händler nach dem Preis gefragt. Seitdem habe ich Angst, dass einer der neuen Bewohner der Townhouses in der Schwedter Straße auf die Idee kommen könnte, er wäre tatsächlich wertvoll und ihn kauft. Ich muss ihn nicht besitzen, aber ich würde ihn vermissen, wenn er nicht mehr dort steht.

Zuhause warf ich die zwei blauen Säcke mit den Gläsern, Tellern und den Kriebsen und Stielen in die Mülltonne. Auch meine Liebe zu Leon war nicht mehr als ein abgenagter Knochen.

Kathrins Notiz-Blog 28. Oktober 10

© Illustration Liane Heinze

„Du hast nicht angerufen. Ich dachte, es würde dich interessieren, was für eine Note ich habe. Aber du hast nicht angerufen.“

Leon blickte nicht von seiner Arbeit nicht auf. Er montierte ein Schutzblech. Er trug eine geringelte Wollmütze über den Locken. „Doch“, sagte er. „Ich wollte es wissen. Ich habe auf dich gewartet.“ Er zog eine Mutter langsam fest. Dann setzte er den Schraubenschlüssel an der nächsten an.

„Hast du nicht“, schrie ich. „Wenn man auf jemanden wartet, dreht man die Heizung auf, zündet Kerzen an und kocht etwas.“ Ich sprang von der Werkbank, floh ins Haus, verletzte mich an der Pedale eines Rennrades von dem Kunden, der gerade den Hof betrat, aber das sah ich erst später. In diesem Moment fühlte ich nichts. Mein Weinen klang wie ein Lachen. Wenn das Weinen wie ein Lachen klingt, fühlt man nichts mehr. Meine Teetasse lag zerbrochen in der Garage. Ich warf die Wohnungstür hinter mir zu und dann blieb die Zeit stehen.

„Was ist los?“ Leon stand in der Tür.

„Lass mich in Ruhe.“

„Ich möchte mit dir reden“, sagte er.

Jedes an mich gerichtete Wort, erst recht seine Berührung, waren unerträglich. „Geh weg.“

Ich saß in der Küche auf dem Fensterbrett, zusammen geschnürt wie ein Päckchen. Ich musste den ganzen Nachmittag so gesessen haben, denn als ich ruhiger wurde, kroch der Abend in den Hof. Ich schaute nach unten. Die Garage war verschlossen. Leon war nicht da.

Ich wusch mein Gesicht und setzte mich vor den Fernseher. Ich wusste nicht mehr, was ich sah. Es war unwichtig. Später kam Leon und stellte eine Gepäcktasche in die Küche und packte aus: Spaghetti, Parmesan, Sardellen, Kapern, Oliven und Petersilie. „Na komm“, sagte er. „Wir kochen.“ Und setzte den großen Topf mit Wasser auf. Ich zerdrückte die Sardellen und Kapern auf einem Teller und schnitt die Oliven und die Petersilie.

„Ich habe eine Eins bekommen“, sagte ich.

Kathrins Notiz-Blog 26. Oktober 10

© Illustration Liane Heinze

In Westkreuz drängte eine Frau mit einem dünnen, weit ausgeschnittenen T-Shirt in den Regionalexpress aus Potsdam. Über dem Shirt trug sie einen offenen, glänzenden Blouson. Fünf Grad Außentemperatur, und sie war gekleidet wie im Sommer. Ihr dünnes Haar hatte sie zu einem Zopf gebunden. Sie hielt eine geöffnete Cola-Flasche in der Hand. Ihr Körper quoll teigig aus dem Dekolleté. Unter dem Shirt zeichneten sich Fettröllchen ab. Hatte sie keine Zeit mehr gehabt, sich anzuziehen? War sie geflüchtet? An der gleichen Haltestange klammerte eine andere Frau in einer lila und grau karierten Winterjacke. Ihre Schultern waren starr, das Gesicht unbewegt, die Lippen farblos. Wie war sie zu dieser Jacke gekommen? Die Jacke war neu. Hatte sie irgendeine Jacke gekauft, die erstbeste, weil sie nicht gern in Mode-Geschäfte ging? Oder hatte sie die Jacke in einem Discounter aus dem Container gezogen und in ihren Einkaufswagen gelegt? Ein älterer Mann mit braunen Zähnen fragte eine junge Frau, deren schwarze Haare bis zum Po reichten, ob das jetzt Charlottenburg sei. Sie nickte, freundlich. Ich betrachtete sie, ihre schwarze Kleidung, das schwarze Haar, die grauen Kunstlederstiefel. Wurde sie von jemandem geliebt?

Am Alex stieg ich aus wie immer, trieb im Strom der müden Leute zur U-Bahn. Meine Schuhe waren staubig. Meine Gedanken fühlten sich an wie hinter schmutzigem Glas. Ich war erschöpft, ein leerer Brunnen in der Sahara, in dem der Wind den Sand aufwirbelt. In den letzten Nächten hatte ich eine Hausarbeit geschrieben und ein Modell des Optikerladens gebaut. Ich hatte eine Eins bekommen. Das Glück darüber stieß von innen gegen meine schlaffe Haut. Erst das Glück machte mir bewusst, wie leer meine Hülle um mich hing. So weich vom Glück und der Müdigkeit taumelte ich zwischen den Leuten, die schubsten und drängten, hin und her. Ich hatte Hunger.

Die Wohnung war kalt. Die Küche sah genauso aus wie ich sie am Morgen gegen sechs verlassen hatte. Auf dem Tisch lagen noch die Schnipsel meiner Nachtarbeit. Der Kühlschrank war leer bis auf einen Rest Butter, eine angefangene Packung Milch und eine halbe Zitrone auf einem Teller.

Aus der Garage im Hof sickerte blaues Licht. Leon war wieder vor dem Computer eingefroren und hatte vergessen, seine Schreibtischlampe anzuschalten. „Nichts“, sagte ich. Das Wort verschwand hinter der Tapete wie ein Schwarm Kakerlaken. Ich wickelte den langen, violetten Wollschal wieder um meinen Hals und verließ die Wohnung. Ich schlich die Straße hinab. Als Jolanda noch klein war, hatte ich manchmal befürchtet, eines Tages eine Bettlerin zu sein, obdachlos. Jetzt war es soweit. Es war nicht so schlimm wie ich gedacht hatte. Ich war eine Bettlerin, die eine Eins bekommen hatte.

Im Spätverkauf an der Ecke trank ich einen Tee und rief Sören an. Er begann sofort zu weinen. Wir verabredeten uns für die Nachtvorstellung im Kino, zwei Obdachlose, die ein Asyl gefunden hatten. Ich streichelte seine Hand. Er lehnte an meiner Schulter. Zwischen unseren Beinen stand ein Eimer Popcorn.

„Du wirst dich wieder verlieben“, sagte ich. „Wetten?“

„Nie mehr“, sagt er so entschieden ernst, dass ich ihm glaubte und Angst bekam.

„Ich habe eine Eins bekommen“, sagte ich.

„Jolanda hatte nur noch diesen dämlichen Abiball im Kopf. Was interessiert mich der Abiball? Als wäre der Ball ihr Leben.“

„Vielleicht war er zu dieser Zeit ihr Leben?“

„Klar, Jakob saß im Komitée.“

„Du hättest ein bisschen an ihrem Leben teilhaben sollen.“

„Blieb mir ja nichts anderes übrig. Sie hat jeden Abend ne Riesenwelle gemacht.“

„Sie wollte dein Mitgefühl provozieren.“ Ich schluckte die Tränen hinunter.

„Mitgefühl? Mit jemandem, der den ganzen Tag im Café gesessen, geraucht, gekichert und geflirtet hat?“

„Es ist doch auch anstrengend, so einen Ball zu organisieren. Sie hat es für euch alle gemacht.“ Die Tränen liefen jetzt wie Bäche über meine Wangen.

„Dieser Scheißball hat mein Leben zerstört.“ Sören klappte schluchzend wie ein Taschenmesser zusammen.

„Nicht weinen“, schluchzte ich. „Ist ja gut.“ Ich fand kein Taschentuch und wischte mein Gesicht am Ärmel meiner schwarzen Cordjacke trocken.

Wir taumelten ins Freie. Ich trug den leeren Popcorn-Eimer am Arm. „Ruf mich an“, sagte ich. Ich schaltete mein Telefon an. Leon hatte nicht angerufen.

Kathrins Notiz-Blog 12. Oktober 10

© Illustration Liane Heinze

„Ich mache mir Sorgen um dich“, sagte Jolanda. „Du klingst wie die meisten Frauen in deinem Alter. Du musst mal raus.“

Ich versuchte, das Telefon so zu halten, dass ich es nicht berührte. Meine Hände waren schmierig. Ich blickte an meinen bekleckerten Arbeitshosen hinab zu den rot-weißen Sneakers, die ich nur noch zum Renovieren trug. Es war die erste Kette, die ich aufzog. Leon war wieder einmal nicht da. Ich vertrat ihn in der Garage. Nur zwei Tage, kein Problem also. Ich hatte gerade nicht viel für die Uni zu tun, nicht soviel, dass ich nicht von Zeit zu Zeit in der Garage aushelfen konnte.

Als Jolanda aufgelegt hatte, versetzte ich dem Fahrrad einen Tritt.

An diesem Abend ging ich mit ihr, Jakob und Jakobs allein lebenden Vater in die Sophiensäle. Das Stück hieß „Barnes-Dance“ nach dem amerikanischen Verkehrsingenieur, der die Kreuzung erfunden hatte, bei der alle Fußgänger gleichzeitig über die Kreuzung laufen. Wie an der Kreuzung hinter dem Checkpoint Charlie. Auf dieser Kreuzung spielten sich immer wieder die gleichen Szenen ab. Zwei Frauen sprachen ständig dieselben Sätze, ein Schwarzer wurde angerempelt und ein Türke verlor eine Familienpackung Orangen. Einmal half ihm eine japanische Touristin, die Orangen wieder aufzusammeln. Das war eigentlich die schönste Szene des Stücks. Sörens Vater fand „Barnes-Dance“ poetisch. Ich fragte mich, was poetisch daran ist, angerempelt zu werden, Obst zu verlieren und immer das gleiche zu reden. An der Bar im Foyer betrachtete ich meine Hände. In den Rillen hockte noch immer der Schmutz von der Kette. Meine Fingernägel hatte ich auch nicht richtig sauber gekriegt. Nichts war poetisch.

In der Nacht rief Leon an und fragte, ob in der Garage alles in Ordnung sei. „Übrigens geht es mir gut“, sagte ich. „Danke der Nachfrage.“

Wenige Tage später gingen Bertram und ich ins Radialsystem, zum Musikfestival „Nordlichter“, das die ganze Nacht dauerte. Es störte mich, dass in den Konzertsälen Bier getrunken und Gulasch gegessen wurde. Bertram fand das gut. Er fand, es sei ein Fortschritt gegenüber der steifen, bürgerlichen Konzertatmosphäre. Wir stritten über die Heiligkeit der Kunst. „Wieso nimmst du das so schwer? Was ist mit dir los?“, fragte Bertram.

„Beim Sex isst man auch keinen Gulasch“, sagte ich.

„So unkreativ kenne ich dich gar nicht“, sagte Bertram. Er lachte mich aus.

Hatte es etwas mit dem Alter zu tun, dass mich Gulasch-Geruch während eines Konzerts wütend machte? War ich etwa verbittert? Wieso nervten mich die Leute auf der Barnes-Kreuzung, die doch nur taten, was alle in dieser Stadt tun?

Gegen Morgen verließ ich das Festival. Ich rief Jolanda an. „Kann ich zu dir kommen? Wir könnten zusammen frühstücken. Ich bringe Croissants mit.“

„Komm vorbei“, sagte Jolanda.

Wir hatten beide die ganze Nacht nicht geschlafen. Jolanda war mit Jakob in einem Club gewesen. Wir saßen zu zweit in der Küche und tranken Kaffee und freuten uns, mit verschmierter Schminke in die Morgensonne zu blinzeln.

Kathrins Notiz-Blog 23. September 10

© Illustration Liane Heinze

Leon hat mir den Rücken zugewandt. Es ist das erste Mal, dass er sich nachts von mir abwendet, statt wie gewohnt meinen Po an seinen Bauch zu ziehen und dann alle freien Stellen zwischen unseren Körpern luftdicht abzuschließen.

Ich bin aufgestanden, aber er ist davon nicht erwacht. Sonst spürte er sogar im Tiefschlaf, wenn ich versuchte, mich aus seiner Umarmung zu lösen. Er wurde unruhig, umklammerte mich, hielt sich an mir fest.

Es ist eine mondlose Nacht. Ich taste mich in die Küche, zum Fenster, schiebe mich auf dem Fensterbrett in den Rahmen, die nackten Sohlen gegen die Wand gepresst. Ich weine nicht. Ich war darauf gefasst. Aus unserer Beziehung ist endgültig die Luft raus. Leon hat mich vergessen. Er vergisst mich schon lange, beim Einkaufen. Er vergisst, mit mir zu kochen und wenn ich es allein tue, weil mein Magen weh tut und ich nicht länger warten kann, lässt er das Essen kalt werden. Er vergisst, dass ich studiere, Hausaufgaben habe, Pläne für meine Selbständigkeit mache. Er vergisst meinen Vorschlag, mal wieder in die Sauna zu gehen, jetzt, da der Sommer vorbei ist und es draußen kühler wird. Und nun hat er sogar meinen Po vergessen. Dieses Verschmelzen unserer Körper in der Dunkelheit war es, das mich bis jetzt gehalten hat. Ich will schon lange gehen, weil ich mich vergessen und verloren fühle, aber wenn ich nachts in seinen Armen daran denke, ist es, als ob mir jemand bei lebendigem Leib das Herz heraus reißt.

Ich taste mich zurück, lege mich wieder neben Leon, aber meine Gedanken werden nicht ruhig, sie wandern durch die Jahre mit ihm, suchen den Tag, an dem das Vergessen begann. Wieder stehe ich auf, schleiche zum Küchenfenster, blicke hinaus in den dunklen Garten.

Ich könnte morgen nach Jerichow fahren. Das ist schon lange mein Wunsch. Das hängt mit meinen Großeltern zusammen. Sie hießen wie die kleine Stadt in der Altmark: Jerichow. Opa und Oma Jerichow haben sich geliebt, ein ganzes Leben lang. Als ich klein war, lebten wir in einem Haus. Ruhige Tage, in denen mein Großvater pfeifend in Keller und Garten unterwegs war und die kleinen, harten Schritte meiner Großmutter, treppauf, treppab, den Rhythmus des Alltags bestimmten. Sie haben einander nie vergessen. Eines Nachts, viele Jahre nach dem Tod meines Großvaters, ich war inzwischen erwachsen, bin ich aus einem Club nach Hause gekommen und im Zimmer meiner Großmutter brannte noch Licht. Die Tür stand halb offen. Sie saß im warmen Licht der Schreibtischlampe an ihrem Sekretär und schrieb in ein kleines Buch. Von Zeit zu Zeit blickte sie auf und sprach mit jemandem. Es musste mein Großvater sein. Ich sah es an ihrem gelösten, mädchenhaften Ausdruck. Wahrscheinlich saß er auf dem Klavierhocker an seinem Flügel. Ich konnte ihn nicht sehen, weil die Tür nur halb geöffnet war. Vor zwei Jahren ist auch Großmutter ihm an den unbekannten Ort gefolgt. In ihrem Sekretär fand ich einen ganzen Stapel der kleinen Liebeschroniken aus jenen Nächten. Ich bewahre sie in meinem Kleiderschrank auf.

Meine Großeltern waren nie in Jerichow. Der Ort hat sie nicht interessiert. Aber ich denke an sie, wenn ich diesen Namen höre. Er hat einen warmen Klang und eine satte, erdige Farbe. Namen verbinden. Sie hinterlassen Spuren und wecken Erinnerungen. Ich sehne mich nach etwas Vertrautem, einem Trost.

In der Morgendämmerung hole ich den karierten Wanderrucksack aus der Abstellkammer. Bald darauf erscheint Leon mit kleinen Augen. Er zerrt das T-Shirt über seinen Penis. Als hätte er vergessen, dass ich die Frau bin, die jede Nacht neben ihm liegt.

„Was ist denn los?“ fragt er.

„Ich fahre nach Jerichow“, sage ich.

„Ich komme mit“, sagt Leon. Zuerst will ich protestieren. Ich halte ihn für unwürdig, diesen Ort zu betreten. Er hat kein Recht auf Jerichow. Der Name gehört mir, meinen Großeltern, die einander nie vergessen haben. Aber dann denke ich, dass es doch schön wäre, noch eine gemeinsame Abschiedstour zu unternehmen.

Das Besondere an der Altmark ist der Horizont, eine leuchtende Linie, die über dem Land zu schweben scheint. Die Wolken hängen tief über den endlosen Wiesen. Die Elbe fließt träge und schwer in ihrem Bett. Schrebergärten, Kuhherden und Menschen schrumpfen in den Wiesen, aber alles, was sich über diesen Horizont erhebt, wirkt stark: Die Windräder und Greifvögel, eine Brücke und die Türme des still gelegten Kraftwerks. Wir wedeln auf unseren Rädern dicht hintereinander, bleiben manchmal stehen, um zu schauen und sprechen kaum. Wenn Leon mich vergisst, schreie ich gegen den starken Wind, aber kurz vor Tangermünde reicht meine Kraft zum Rufen nicht mehr aus. Die Entfernung zwischen uns wächst. Wir verlieren uns.

Ich fahre allein durch die kleinen Straßen von Tangermünde, halte Ausschau nach Leon, aber er ist nicht da. Am Marktplatz kaufe ich ein Caramel-Eis und radele weiter, bis sich vor mir wieder der Horizont ausbreitet. Die zwei spitzen Türme der romanischen Kirche von Jerichow ragen im Dunst darüber hinaus. Ich lehne mein Fahrrad an einen Feldstein und lasse mich daneben ins Gras sinken. Kurze Zeit darauf bremst Leon neben mir. Sein Gesicht ist schmutzig, als hätte er sich in Staub und Sand gewälzt. „Wo warst du?“ fragt er.

„Du warst plötzlich weg, hast mich nicht mehr gehört, dich nicht mehr nach mir umgesehen, mich einfach vergessen.“

„Quatsch! Ich habe dich überall gesucht.“ Er nimmt den Helm ab und wischt sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. „Ich bin die halbe Strecke zurückgefahren“, sagt er.

„Dann müssen wir dicht aneinander vorbei gefahren sein“, sage ich und denke, dass das typisch ist für Paare, die aneinander vorbei leben.

Leon packt das Picknick aus seinem Rucksack. Er wirft mir die kleinen Schachteln vor die Füße. Ich habe sie heute Morgen mit Sandwiches, Karotten und Gurken gefüllt. Natürlich habe ich auch kleine Süßigkeiten eingepackt, wie immer, auch Servietten und eine Thermoskanne mit starkem Kaffee. Wir hocken uns im Schneidersitz auf die Regenjacken und essen.

„Okay, wir haben uns also wiedergefunden“, sage ich. „Zuhause finden wir uns nicht wieder. Seit wann ist das so, dass du mich einfach vergisst?“

„Was?“ Leon sieht auf. Der Schweiß hat kleine Flussbetten in seinem staubigen Gesicht hinterlassen. „Wie kommst du darauf? Ich habe dich noch nie vergessen.“

„Gestern hast du dich von mir abgewandt vor dem Einschlafen.“

„Ich habe gerade den Kopf sehr voll. Es passiert so viel.“

„Und warum sprichst du nicht darüber?“, frage ich. „Früher haben wir über alles gesprochen. Ich möchte nicht, dass wir aneinander vorbei leben. Wann hast du das letzte Mal nach mir gefragt?“

„Wann hast du denn das letzte Mal nach mir gefragt?“, sagt Leon.

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Mist! Ich greife nach einem Schokoriegel. „Früher haben wir zusammen gekocht. Wir sind zusammen einkaufen gegangen oder in die Sauna. Jetzt habe ich gar keine Gelegenheit mehr, nach dir zu fragen. Wenn du nach Hause kommst, verkriechst du dich sofort in der Garage.“

„ Weil ich sehe, dass du in der Küche sitzt und lernst oder Modelle bastelst. Ich will dich nicht stören“, sagt er.

„Du lügst“, sage ich. „Du schaust nicht in die Küche. So weit kommst du gar nicht. Du gehst sofort in die Garage. Du siehst nicht einmal, ob ich Kuchen gekauft oder etwas zu essen gemacht habe. Es interessiert dich nicht. Du bist gar nicht da. Wo bist du eigentlich? In den belgischen Fahrradläden?“

„Ich bin nirgendwo“, sagt Leon. Er blickt irgendwie dramatisch. Ich greife nach dem nächsten Schokoriegel. „Ich bin ein Umherirrender“, sagt er.

„Was soll das heißen?“

„Ich weiß nicht, wohin ich gehöre.“

„Was?“

„Es stimmt, ich gehe nicht in die Küche, weil du mir am Telefon bereits gesagt hast, dass du lernst, arbeitest, Modelle baust, eine Prüfung vorbereitest oder einen Wettbewerb….“

„Das ist nicht wahr“, sage ich. „Du übertreibst maßlos. Du versuchst mir die Schuld an zuhängen. Das ist eine ganz fiese Nummer.“

„Dieses Hin und Her zwischen Belgien und Berlin, das hat viel ausgelöst in mir. Ich habe begonnen, über mich nachzudenken. Mir wird gerade vieles klar. Über mich.“

„Das sind doch nicht deine Worte“, sage ich. „Ich kenne dich. Das sind die Worte einer Frau. Oder machst du etwa eine Therapie?“

Leon springt auf. „Ich brauche doch keinen Therapeuten.“ Er trabt in den Stoppeln auf und ab.

„Mit wem sprichst du denn über dich?“ frage ich.

„Mit niemandem.“ Er pappt sich die Locken in die Stirn. „Ist noch Schokolade da?“

„Nein, alles weg.“

„So“, sagt er.

„Übrigens werde ich mich von dir trennen. Ich sage es dir lieber gleich. Ich habe jemanden kennen gelernt.“

„Spinnst du?“ Leons Gesicht ist plötzlich gefroren, seine vorstehenden Augen klein und starr. Auf seinen Lippen hockt ein verächtliches Wort. Er spricht es aus, leise. Das Wort zischt wie ein halb geöffnetes Ventil. Er läuft durch die Stoppeln, hin und her. Ich fange an zu weinen. Ich kann ihn nicht verletzen, ohne mir selbst weh zu tun. Ich heule wie ein Gespenst, klemme meinen Kopf zwischen die Knie. Ich will diesen Schmerz nicht mehr, diese absolute Nähe, diesen luftdichten Verschluss zwischen uns.

„Warum kehrst du mir den Rücken zu?“ schreie ich. Keine Antwort. Es ist ganz still. Ich springe auf. Leon ist noch da. Er steht im Feld und starrt rüber nach Jerichow.

Ich springe ihn fast an, wie eine Katze. Wie in Zeitlupe legt er seine Arme um mich. Ich küsse sein staubiges Gesicht. „Es gibt niemanden. Es ist gar nichts. Ich bin nur mal mit jemandem ausgegangen letzte Woche. Ich wollte es dir schon die ganze Zeit erzählen. Ich will kein Geheimnis vor dir haben, aber es gab keine einzige Gelegenheit zu reden.“

Wir halten uns umklammert wie Schiffbrüchige. „Ich bleibe bei dir“, sage ich. Zwischen unseren Wangen sammeln sich staubige Tränen. Es ist das erste Mal, dass ich ihn verführen muss, ihm zuvorkomme, ihn dringend brauche und ich einen Platz für uns suche. Auf den Regenjacken in den Stoppeln. „Ich bin so froh“, sage ich schließlich. Wir liegen nackt in der Sonne neben dem Feldstein, Bauch an Bauch. „Du siehst, auch ich kann mal den Anfang machen“, sage ich.

„Du kannst immer anfangen“, sagt Leon.

„Das wird nichts, du kommst mir eh wieder zuvor.“

„Ich meine, du kannst auch anfangen zu reden“, sagt er. „Du kannst alles anfangen, was du willst.“

Ich lasse mich neben Leon rollen und blicke in den Himmel. Seltsam. Das war mir gar nicht klar, dass ich alles beginnen kann, wenn ich möchte.

Wir ziehen uns langsam an. Es ist Nachmittag geworden. Wir beschließen, nicht mehr nach Jerichow zu fahren. Es ist zu weit. Wir sind zu erschöpft. Wir steigen auf die Räder und wedeln langsam zurück nach Tangermünde.

Nach Jerichow kann ich immer noch fahren, mit Leon oder allein.