Kathrins Notiz-Blog 25. August 2010

© Illustration Liane Heinze

Kolja hat mich nach der Arbeit zu einem Cocktail eingeladen. Mit Kolja fällt das Reden leicht. Unsere Gespräche sind wie ein Bach, der über Kiesel springt. Die Themen finden kein Ende und werden niemals schwer. Vor dem Gorki-Park saß ein Cello-Spieler auf dem Bürgersteig. Wir hörten ihm eine Zeitlang zu. Es ging gegen zehn. Der Vollmond knallte und erleuchtete den Himmel sommerlich türkis. Ich dachte an unseren Wandschirm hinter dem Bett und wie Leon mich morgens in den Wasserlichtern mit seinem Penis aufweckt. Ich dachte an die drahtigen Locken, die ich als erstes spüre, wenn ich morgens verschlafen nach dem Tier suche. Kleine Tornados. Es macht mir Spaß, sie lang zu ziehen und wieder in ihre Form zurück schnippen zu lassen. Unvorstellbar grausam der Gedanke, dass eine andere Frau ihm so nahe kommen könnte.

Der Himmel funkelte und sprenkelte, als käme dieses Türkis nicht von den Sternen, sondern von weiter her, aus der pulsenden Mitte des Universums.

„Ich möchte mich mal wieder verlieben“, sagte Kolja. „Ich mag dieses Gefühl.“

„Ich auch.“

Einmal hatte ich Leon gefragt, was ein Mann fühlt, wenn er eine Frau liebt. Er hatte gesagt: „Vertrauen.“

„Ach komm, Vertrauen, das fühlt man auch zu guten Freunden.“

Er: „Lass mich in Ruhe, ich kann es dir trommeln, aber Worte habe ich dafür nicht.“

„Sie möchte ein Kind“, sagte Kolja. „Nächstes Jahr. Ehrlich gesagt, habe ich Angst davor.“

Wir schleppten uns den Weinbergsweg hinauf. Kolja sprach vom Älterwerden und seinem besten Freund, der mit Mitte Zwanzig schon Vater geworden war. Wie er sich schlagartig verändert hatte. Eben waren sie noch um die Häuser gezogen. Und nun machte er auf Familie. „Ich will ausgehen, tanzen, einen drauf machen. Hin und wieder brauche ich das. Verstehst du?“

„Hm.“

„Das ist vielleicht die letzte Sommernacht“, sagte Kolja. Er sah übrigens hinreißend aus. Seine blonden Haare sind zwar schon ziemlich dünn geworden, aber Kolja besitzt die Ausstrahlung eines gewieften Dorfjungen, der genau weiß, wo man die besten Pferde stiehlt. Unwiderstehlich. Man rechnet immer damit, dass er einen Frosch aus seiner locker sitzenden Hose hervor zieht, oder mindestens einen Popel. Ich vermute, dass er je älter, umso verwegener aussehen wird.

„Ist Leon nicht eifersüchtig?“

„Er weiß ja nicht, dass ich mit dir ausgehe.“

„Er lässt dich tagelang allein. Glaubt er, du sitzt zu Hause und strickst?“

„Das glaubt er wohl.“

Kolja blieb stehen und musterte mich mit zusammen gekniffenen Augen.

„Früher war ich höllisch eifersüchtig. Ich bin verrückt geworden, wenn meine Freundin allein mit einem anderen Mann war oder bei einem Freund übernachtet hat.“

„Jetzt nicht mehr?“

„Ich habe eine Therapie gemacht. Ich komme damit klar.“ Es klang, als spräche er von seiner Kastration. Er wühlte in der Hosentasche. Laubfrosch? Popel? Nein, eine verschrumpelte Zigarette.

Wir gingen ins Zaza. Ein Windlicht flackerte zwischen uns. Kolja hielt es an die Zigarette und paffte. Sie war offensichtlich feucht.

„Einmal hatte ich Angst, dass Leon sich in eine andere Frau verliebt hat.“

„Und?“ Kolja hielt inne und kniff mich in seine Augenzange, die kalte Zigarette zwischen den Zähnen.

„Ich habe ihn gefragt. Nichts. Ich hatte mich geirrt.“

„Männer lügen. Was glaubst du, wie oft ich meine Freundin schon belügen musste.“

Und Frauen durchschauen die Lügen, wollte ich sagen, sprach es aber nicht aus. Ich fand es reizvoll, dass Leons Lüge an diesem Abend eine Möglichkeit blieb.

„Es muss sich lohnen“, sagte Kolja. Er hatte seine Zigarette endlich in Gang gebracht und lehnte sich zurück.

„Was?“

„Das Verlieben. Es muss eine interessante Frau sein. Sie muss so sein, dass ich meine Freundin für sie verlassen würde.” Ich traute mich nicht, Kolja anzuschauen. Ich wünschte mir, diese Frau zu sein, hielt aber für ausgeschlossen, dass er mich meinte. „Meistens ist es umgekehrt“, sprach er weiter. „Die Leute gehen fremd, aber sie haben Angst, ihre langjährige Beziehung zu gefährden. Ich möchte aber nicht nur Sex. Ich möchte verliebt sein. Emotionales Bungee-Jumping.“
In diesem Moment dachte ich, es später darauf ankommen zu lassen. Beim Abschiedskuss ein Stück abrutschen und dabei seine Lippen berühren. Es waren nur ein paar Millimeter, dann würde das Bungee-Seil mit uns in den Abgrund stürzen.

„Sieh mal, die Farben!“ Ich hielt meinen rosa Watermelon-Man neben seinen gelben Ladykiller. Wir schwiegen und saugten. Dann versuchte ich das Gespräch noch einmal auf meine Entwürfe für den Optiker zu lenken, aber Kolja hatte keine Lust, darüber zu sprechen. Wir hatten uns schließlich den ganzen Nachmittag damit beschäftigt.

„In Helsinki hast du die Tür zu deinem Zimmer in der Nacht offen stehen lassen“, sagte Kolja. Meinte er mich doch? Ich hackte mit dem Strohhalm auf die Eiswürfel ein.

„Ich bin klaustrophob“, sagte ich.

„Du hast ziemlich viele Ängste.“

„Du auch.“

„Stimmt. Sagt mein Therapeut auch. Man merkt es mir aber nicht an.“

„Mir auch nicht“, sagte ich.

„Doch“, sagte Kolja. „Ich habe es sofort gesehen, als du die Bürotür geöffnet hast, wie du dich blitzschnell orientiert und keinen Schritt weiter getraut hast.“

„Du spinnst.”

„Es ist wahr. Ich musste aufstehen und dir entgegenkommen.”

„Ich bin ein höflicher Mensch.”

„Warst du als Kind mal eingesperrt oder warum fürchtest du geschlossene Türen?“

„Glaub nicht. Es wird schlimmer mit den Jahren. Ist wohl eher die Angst vor dem Sargdeckel.“

Kolja grinste. „Du bist melancholisch. Wie ich.“ Sein Cocktailglas war leer. Er schlürfte die letzten Tropfen zwischen den Eiswürfeln weg. Eine Kehrmaschine zog träge und laut durch den Rinnstein.

„Was ist Melancholie?“, fragte ich.

„Es gab mal eine Ausstellung“, sagte Kolja. „Da wurde es erklärt.“

Ich erinnerte mich an die Ausstellung. Es war ziemlich lange her. Mir fiel ein, dass ich schon lange keine Galerie, keine Ausstellung mehr besucht hatte. Wir redeten über Gestirne, das Mittelalter, schwarze Galle und Depressionen. Kolja gähnte. Es ging langsam auf drei. Es war kalt. Die Eiswürfel schmolzen nicht mehr.

Kathrins Notiz-Blog 23. August 10

© Illustration Liane Heinze

Leon war hier, jedoch nicht vollständig. Er hat Fahrradteile auf dem Fußboden verteilt, meine Skizzen auf dem Küchentisch aufgewirbelt und ist dann in seiner Garage verschwunden. Er könne nicht mehr schlafen, sagte er, als ich kurz vor Mitternacht in die Garage ging, um nach ihm zu schauen. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Seine Augen schienen ein Stück weiter aus dem Gesicht in Richtung der Ohren gerutscht zu sein. Seine Locken standen in staubigen Bündeln vom Kopf ab. Er war unrasiert.

Ich nahm seinen Kopf in meine Hände und drückte ihn an meinen Bauch. Er blickte mich von unten an, aus einer großen Entfernung. Später versuchte ich zu schlafen, allein vor unserem Wandschirm, auf den das Mondlicht fiel, aber ich fand keine Ruhe.

Kathrins Notiz-Blog 7. Juli 10

© Illustration Liane Heinze

Im Radio sprach ein Physiker über die Zeit. Er wurde gefragt, ob die Zeit auch unabhängig von uns Menschen existiert. Er sagte, man wisse es nicht so genau, vermute es aber. Auf jeden Fall sei die Zeit nicht das, was wir dafür halten und was Uhren und Kalender messen.

Diesen Verdacht, dass die Uhren nicht stimmen, habe ich schon lange. Es gibt Zeitphänomene, die das beweisen. Phänomen Nummer eins (ich nenne es das Schildkröten-Phänomen): Zeit gewinnt man nicht, indem man sich beeilt. Unsere Sprache drückt den Zeitgewinn korret aus. Man muss ich Zeit-lassen oder Zeit-nehmen.

Aber der Physiker im Radio war der Meinung, dass wir zu schlampig mit dem Wort: Zeit umgehen. Wir sagen: Ich habe keine Zeit, aber eigentlich müsste es heißen: Ich bin nicht frei. Oder: Ich bin beschäftigt. Denn jeder Mensch hat gleich viel Zeit.

Ich habe den ganzen Tag über der Skizze des Optikerladens gesessen. Morgen gehe ich damit zu Kolja. Er hat versprochen, mir bei der Umsetzung zu helfen.

Während ich meine Skizzen in eine Mappe packte, dachte ich, dass nur die Zeit, in der wir einen anderen Menschen lieben, wahrhaft gelebte Zeit ist. Dazwischen ist nur ein Polster aus etwas, aus dem man die Luft auch rauslassen, das Ding zusammenlegen, hinter einen Schrank schieben und vergessen kann.

Leon war in einem Fahrradgeschäft in Quatre-Chemins, als ich anrief. Er war völlig aus dem Häuschen, weil er gerade eine Campagnolo-Schaltung gefunden hatte. Ich fragte, ob er immer noch ein Kind mit mir haben möchte.

„Jetzt?“, sagte er. „Das ist vielleicht nicht der richtige Moment, oder?“

„Vor ein paar Wochen wolltest du unbedingt.“

„Möchtest du?“, fragte er.

„Ja“, sagte ich.

Kathrins Notiz-Blog 28. Juni 10

© Illustration Liane Heinze

Die Oper war großartig. In der Pause spendierte der Optiker ein Glas Sekt und zitierte sämtliche Feuilletons über die Inszenierung. Er musste sich den ganzen Nachmittag via Google vorbereitet haben. „Aber wie gefällt es Ihnen? Was ist Ihre Meinung?“ Diese Frage brachte ihn aus der Fassung. Er wurde rot. Das reizte mich, ihn noch mehr zu quälen. Ich entdeckte einen sadistischen Zug an mir. „Das wichtigste ist doch, berührt zu werden“, sagte ich. Er fing sich wieder und zitierte einen Intellektuellen über die Kraft der Bühne.

Morgen würde er mir sagen, dass er sich das mit dem Laden noch mal überlegt hat. Dabei hatte ich schon Ideen. Die Skizzen steckten in meiner Tasche. Ich hatte sie ihm in der Nacht zeigen wollen, oder nach unserem gemeinsamen Frühstück. Das hatte sich erledigt. Ich trug sie wieder mit nach Hause. Meinen ersten Auftrag hatte ich verpatzt.

Ich ließ mich erleichtert auf das Bett fallen. Ich war allein zu Hause. Es war kurz nach Mitternacht. Ich dachte an Leon, den ich seit Tagen nicht erreicht hatte. Ich trank Wein und tanzte durch die Wohnung. Gegen vier erreichte ich ihn endlich.

„Was ist passiert?“, fragte er.

„Das wollte ich dich fragen. Wieso ist dein Telefon seit Tagen ausgeschaltet?“

„Der Akku war leer.“

„Achso.“

„Was ist los?“ bohrte Leon. „Du klingst verloren.“

„Ich habe mir Sorgen gemacht.“

„Kathrin!“ Er dehnte meinen Namen wie eine Stange Lakritz. „Ich bin nicht aus der Welt. Ich bin in Verviers. Wie gesagt: Mein Akku war leer.“

„Und wieso ist er jetzt wieder voll?“

„Heute habe ich ein Kabel gekauft.“

„Warum hast du nicht angerufen? Du hast doch gesehen, wie oft ich es versucht habe.“

„Ich war in der Stadt unterwegs, dann war es schon spät.“ Er sagte, er müsse jetzt öfter nach Belgien fahren. Es gäbe dort wirklich eine Menge zu entdecken.

Wir schwiegen. Ich lauschte in die Stille. Nach einigen Sekunden begannen wir gleichzeitig zu sprechen, brachen beide wieder ab und begannen dann wieder gleichzeitig.

„Sag du!“

„Nein, du.“

„Du hast dein Handy aufgeladen und mich stundenlang nicht angerufen.“

„Ich habe das Handy zum Laden im Hotel gelassen. Ich hatte es gar nicht mit in der Stadt. Als ich zurückkam, war es kurz nach zwölf, ich dachte, du schläfst vielleicht schon. Wieso bist du noch wach?“

„Ich habe gerade von meiner Beerdigung geträumt. Darüber bin ich wieder aufgewacht.“

„War es so schlimm?“

„Zuerst nicht. Sie spielten Jaques Offenbach. Aber die Luft im Sarg war schlecht. Ich hatte Angst zu ersticken.“

„Hmmm!“

Wieder lauschte ich in das Schweigen.

„Ich liebe dich“, sagte Leon. Es klang so feierlich, dass ich alle Angst verlor und ihm beinahe von dem Abend mit dem Optiker erzählt hätte und dass ich meinen ersten Auftrag verpatzt hatte.

Aber schließlich war er allein in einem belgischen Hotel in einer Stadt, die niemand kennt außer den Menschen, die dort leben. Das war schlimm genug.

Kathrins Notiz-Blog 14. Juni 10

© Illustration Liane Heinze

Ich wünsche mir einen Tag, an dem nichts geschieht. Einen Tag, an dem Leon nicht bis Mitternacht im Netz nach Waren für seinen Online-Shop sucht, einen Tag, an dem ich kein Formular für Froschkinn ausfüllen muss. Ich wünsche mir eine Nacht, in der Leon nicht sofort wach wird, wenn ich mich aus seiner Umklammerung löse und einen Sonntag mit einem Frühstück in der Sonne, einer Zeitung und Kaffee zu zweit.

Gestern habe ich Leons kalten Kaffee gegen Mittag wieder weg gekippt, weil er, noch immer nackt und unrasiert und ohne Frühstück, im Schneidersitz auf den Dielen mit seinem Laptop saß.

Nur ein einziger Tag, an dem wir an die Ostsee fahren und im Sand schlafen. Ein einziger, langsamer Tag, an dem ich ihm endlich zuvor komme, an dem ich ihn verführen muss. Wenn er neben mir schläft. Wenn er sich auf die Seite rollt. Wenn ich mich über ihn beuge und seine Augen mit meinen Haaren kitzle, wenn er sich knurrend auf den Rücken dreht, verschwitzt, voller Sand, lecke ich seine Lippen weich, küsse die Mittellinie seines Körpers vom Hals bis zu den Oberschenkeln, die sich unter den Leisten hervor wölben, rau und rund, mit kupfernen Haarkringeln darauf, die nach Sonne schmecken. Dort ruhe ich am liebsten, auf diesem weichen Fleck zwischen den Hügeln neben dem kleinen Tier, das, zurück gezogen in seine Höhle, schläft. Ich locke es, rufe und streichele und küsse es. Wenn wir so weiter machen bis zum Abend… Und Leon danach ins Hotel geht, fernsehen und ich allein am Strand entlang laufe und Steine in die Ostsee werfe.

„Ich werde nach Belgien fahren und nach alten Fahrrädern suchen“, sagte Leon am Abend. „Wir wollen uns auf Mountainbikes aus den Achtziger- und Neunzigerjahren spezialisieren, auf die europäischen und amerikanischen Manufakturen, die es alle nicht mehr gibt.