Politik verzweifelt gesucht

Berliner Zeitung

Héctor Huerga aus Barcelona / Foto: © Pablo Castagnola

Es steht noch nicht fest, ob der Sessel für Angela Merkel aus Leder oder Stoff, ob es eher ein modernes oder ein nostalgisches Modell sein wird. Möglicherweise findet sich ein Sessel aus der DDR, Hellerauer Werkstätten, Bauhaus. Vorerst gibt es den Merkel-Sessel nur als Plan und im Internet. In dem Blog www.merkelchair.wordpress.com ist er aus braunem Leder und schon ein bisschen verschlissen.

Der 39jährige Schriftsteller Héctor Huerga aus Barcelona wird den Sessel für die Kanzlerin in der großen Ausstellungshalle in den Kunstwerken aufstellen und beim Leerbleiben filmen. Er macht sich keine Sorgen, wo er etwas Passendes für die Kanzlerin  finden wird. Wichtiger für ihn ist, dass der Merkelchair-Blog in möglichst vielen Sprachen erscheint, denn dort sollen Bürger der ganzen Welt ihre Fragen an Angela Merkel stellen. Héctor Huerga ist einer der Occupy-Aktivisten, die von den Kuratoren der Biennale Berlin eingeladen wurden. Er ist ein drahtiger Mann mit wachen, dunklen Augen und seegebräunter Haut. Er schaut sich in der großen Ausstellungshalle um. Die 400 Quadratmeter, die der Kurator Artur Zmijewski den Aktivisten zur freien Verfügung gestellt hat, sind noch eine Baustelle. Die Halle soll durch Vorhänge in verschiedene Räume geteilt werden, in denen Vorträge, Videoinstallationen, Workshops und natürlich Asambleas stattfinden. So werden die öffentlichen Versammlungen der Occupy-Bewegung nach dem spanischen Vorbild genannt. Der Sessel wird in der Asamblea für die Kanzlerin reserviert. „Wenn Angela Merkel kommt, werden wir ihr alle Fragen, die wir im Blog gesammelt haben, vorlesen“, sagt Héctor Huerga.

Eine junge Frau, auf deren Kopf sich hellbraune Locken türmen, bittet Héctor, beim Aufbau des großen Zeltes zu helfen. Mit Héctor sind Manu und Laurent nach Berlin gekommen. Auch sie können helfen, das Zelt zu stemmen. Von Occupy Berlin ist kaum jemand da. Die junge Frau nennt sich Mona. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen. Seit einem halben Jahr arbeitet die 23jährige Aktivistin an der Vorbereitung des Biennale-Happenings. Ein Vollzeitjob, sagt sie, aber es ginge gerade. Vor einem halben Jahr habe sie ihren Bachelor in Erziehungswissenschaften abgeschlossen, gerade in dem Moment, als das mit Occupy richtig losging. Mona ist die jüngste von drei jungen, aktiven, gebildeten Frauen, flankiert von einem, maximal zwei Männern, die den Hauptanteil bei der Vorbereitung der Biennale-Aktion geleistet haben.

Occupy Berlin, das sind Aktivisten aus verschiedenen Ländern. Ihre Zahl lässt sich schwer bestimmen. Sie liegt irgendwo zwischen 50 und 100. Das symbolische Camp in der Kunstausstellung ist umstritten, auch in der Bewegung selbst. Einige sprechen von einem Zoo-Effekt. Und wirklich liegt die Ausstellungshalle unterhalb einer Galerie, von der aus die Besucher in den Aktionsraum hinabschauen. Zwei Treppen führen in die Halle, aber nicht jeder Besucher wird diese Barriere nehmen. Die Biennale ist zudem kein öffentlicher Raum. „Wir müssen hinaus auf die Straßen gehen und den Leuten sagen, was hier passiert“, sagt Héctor. „Es ist ja ein Prinzip der Bewegung, sichtbar zu sein. In Spanien haben wir in der Metro laute Dialoge inszeniert, um die Leute zu informieren.“

Der Kurator Artur Zmijewski äußert sich zurückhaltend. Es gäbe immer Leute, die etwas gut finden und andere, die es ablehnen. Zuletzt versicherten Zmijewski und seine Mitarbeiter den Aktivisten in einem langen Brief noch einmal ihre große Sympathie für die Bewegung. Sie beschworen sie, sich die Freiheiten zu nehmen, die sie ihnen als Kuratoren nicht völlig bieten könnten und betonten, dass sie völlig unabhängig von der Kunstausstellung seien. Es klang wie eine ausdrückliche Bitte um Provokation und Widerstand. In seinem Vorwort zur Biennale „Forget fear“ beklagt Zmijewski, dass die Kunst zum Dekor der neoliberalen Gesellschaft geworden ist und so ihre ureigene Kraft verloren hat und dass sich Kunst, der keine Taten folgen, in einer „kreativen Ohnmacht“ befindet. Über die Startseite der Biennale laufen unter dem Titel „art covers politics“ Bilder von den Demokratiebewegungen des letzten Jahres. Kein Zweifel, Occupy ist das eigentliche Thema auf Zmijewskis Biennale.

Héctor Huerga sitzt in der kleinen Mansarde über dem Büro der Kunstwerke. Seine  sehnigen, braunen Hände liegen locker übereinander auf der leeren Tischplatte. „Die Biennale Berlin wird in diesem Sommer das Hauptquartier der Bewegung sein“, sagt er. Er ist einer der ersten Gäste, die eingetroffen sind. Erwartet werden Aktivisten aus der ganzen Welt, viele kommen auf persönliche Einladung der Kuratoren, wie Héctor. Seit die spanische Bürgerbewegung am 15. Mai 2011 begann, arbeitet der spanische Schriftsteller, der bisher zwei Romane veröffentlicht hat, an der Vernetzung und Kommunikation der weltweiten Protestbewegungen. „Es war uns sofort klar, dass es sich nicht um regionale, sondern globale Probleme handelt.“ Er erzählt von Barcelona, von geschlossenen Kliniken und Notfallstationen, überfüllten Hörsälen und von Dreißigjährigen, die zurück zu ihren Eltern gehen, weil sie sich ein eigenes Leben nicht leisten können. Am 29. März, dem Tag des Generalstreiks, seien eine Million Menschen zwischen dem Plaça Catalunya und dem Ciutadella-Park unterwegs gewesen. Die Polizei versuche, die Bewegung zu kriminalisieren, sagt er. Jetzt sei sogar ein Gesetz gegen die freien Asambleas im Gespräch. „Wir kämpfen nicht gegen die Polizei“ , sagt Héctor. „Wir kämpfen auch nicht gegen die Medien. Wir suchen nach Lösungen, wie wir alle gemeinsam auf dieser Erde leben können.“ In Berlin möchte er über die europäischen Schulden sprechen, die Arbeitslosigkeit, die steigenden Mieten, den Zustand der Demokratie und die Freiheit für die Asambleas. Doch, es bliebe ihm noch Zeit zu schreiben. Er arbeitet an einem dritten Buch. Huergas Romane haben immer einen politischen Hintergrund. Er erzählt von einem jungen Senegalesen, der über das Mittelmeer nach Europa flüchtet oder einer Mosambikanerin, die in Südafrika einen Lottogewinn macht, ihn aber nicht einlösen kann, weil sie illegal im Land lebt. Ein Kapitel aus seinem ersten Buch „Radio Puente“ ist auf deutsch in der Anthologie „Meereslaunen“ erschienen. Er hat bei mexikanischen Autoren studiert, unter anderem bei Sergio Pitol und Jorge Volpi. Doch die Arbeit für Occupy ist an die erste Stelle im Leben des Autors getreten. Gelegentlich jobbt er als Korrekturleser, um ein bisschen Geld zu verdienen. Er ist viel unterwegs, nicht nur im Internet, sondern auch in den Asambleas vor Ort, um politische Inhalte zu debattieren.

Wenige Tage später moderiert er die Asamblea der Biennale-Aktivisten. Er habe gehört, dass es mit der demokratischen Kultur in dieser Versammlung nicht so weit her sei. Das sei an anderen Orten auch so. Einige der spanischen, portugiesischen und griechischen Indignados, die in Berlin leben, hatten sich aus dem Biennale-Projekt zurückgezogen, weil sie die politischen Inhalte und den Respekt in der Asamblea vermissten. An diesem Abend sind einige von ihnen gekommen. Auch Artur Zmijewski und sein Ko-Kurator Igor Stokfiszewski sind da. Der Versammlungsraum im ersten Stock des Vorderhauses der Kunstwerke ist so voll wie selten. Héctor steht am Kopfende des langen Tisches. Er trägt ein braunes Cord-Jackett. Er fragt, ob alle Teilnehmer damit einverstanden sind, dass diese Versammlung in Englisch abgehalten wird. Niemand hat etwas dagegen. Englisch ist die übliche Sprache in den Berliner Asambleas. Dann erklärt er die basisdemokratischen Regeln der Asamblea. Erster Punkt der Tagesordnung sind die Finanzen. Mona hatte darum gebeten. Jetzt tritt sie vor die Versammlung. Ihre Locken lagern auf der linken Kopfhälfte. Von den rund 5.600 Euro, die ihnen die Veranstalter zur Verfügung gestellt hätten, seien noch 500 übrig. Sie schlage folgende Verteilung vor. Mona schreibt die Namen einiger Projekte auf dem Flipchart untereinander und setzt jeweils kleine Summen dahinter. Héctor sagt, er habe in Spanien noch nie in einer Versammlung über Geld gesprochen. Geld sei nicht da. Man könne eben nur das machen, was ohne Geld machbar ist. Eine Spanierin erinnert an eine Email, die vor ein paar Tagen aus Istanbul kam. Ein Aktivist von Occupy Starbucks möchte gern zur Biennale reisen, aber er kann den Flug nicht bezahlen. Sollte man nicht eher ihm das Geld geben? Eine Diskussion um das Geld entbrennt. Einer braucht es für eine lange Leinwand, die von Kindern bemalt werden soll. Ein anderer möchte einen edlen Katalog produzieren. Jetzt möchten auch die Guerilla-Gärtner noch Geld für Pflanzen, um auf der Wiese hinter der Halle etwas anzubauen. Alle reden durcheinander. Héctor erinnert daran, dass die Asamblea nicht der Ort für persönlichen Schlagabtausch ist. Nach und nach ziehen sich die Mitglieder nach nebenan in die Küche zurück, für den persönlichen Schlagabtausch und um zu rauchen. Auch Mona ist verschwunden. Die Kuratoren sind schon lange weg. Anderthalb Stunden lang drehen sich die Wortbeiträge um Geld, dann beschließt die Asamblea eine Pause. Héctor steht mit einer Portugiesin und zwei Spaniern im Hof. Er sieht blass aus, aber er braucht nichts: kein Bier, keine Drogen, keinen Döner. Er trägt ein leichtes, entschlossenes Lächeln auf den Lippen.

Am nächsten Tag sitzt er vor dem aufgeschlagenen Laptop im Café Bravo im Hof der Kunstwerke. Er hat Ringe unter den Augen. Die frische Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen. „Die Bewegung hier hat nicht denselben Geist wie in Spanien“, sagt er. Er wird für die Website der Internationalen Kommission Barcelona, deren Mitbegründer er ist,  einen ersten, persönlichen Eindruck aus dem derzeitigen Hauptquartier der Bewegung, Biennale Berlin schreiben. Ein begeisterter Artikel wird es nicht.

Ein Stück vom Himmel

Hier kann für Virtuosen und Dirigenten der Weg nach oben beginnen: Die Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin gehört zu den renommiertesten Musikhochschulen. 2010 feiert sie ihr 60-jähriges Bestehen.


© Foto Ernst Fesseler

„Der Himmel hängt voller Geigen.“ So sagt man in Deutschland, wenn das Leben süß und leicht ist. Der Himmel über Berlin hängt nicht voller Geigen. Die Luft ist meist klar, doch es weht ein rauer Wind. Baulärm steht am Gendarmenmarkt in der Luft. Und doch: auch Musik. Inmitten des Luxusquartiers, das rings um den Gendarmenmarkt entstanden ist, liegt direkt hinter dem berühmten Konzerthaus die Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin. Die Signatur Eislers aus roten Leuchtröhren über dem Eingang, die Fahrradständer vor dem Haus, die jungen Frauen und Männer, die an den Plastiktischen im Foyer Automatenkaffee trinken, das Durcheinander der Instrumente und Stimmen – „Die Eisler“ setzt einen Kontrapunkt zu den weiß gedeckten Terrassen der Restaurants und Bars an der Charlottenstraße, zu den Edelläden und den vielen Touristen in diesem Viertel.

Jedes Jahr starten 150 Absolventen von hier aus ins Berufsmusikerleben – unter ihnen Stars wie die Cellistin Sol Gabetta. Die Hälfte der Studierenden kommt aus dem Ausland. So auch die Meisterschülerin Anna Alàs i Jové aus Spanien, eine Mezzosopranistin, und Adrian Pavlov aus Bulgarien, der Komposition und Dirigieren studiert. Beide sind auf dem Sprung in die Professionalität. In dieser entscheidenden Phase profitieren sie von den Verbindungen ihrer Lehrer zu den Konzertsälen, Opern und Theatern der Stadt. Zu ihnen gehören so bekannte Künstler wie Gidon Kremer und Thomas Quasthoff. Nikolaus Harnoncourt, Daniel Barenboim oder Zubin Metha haben Orchester – Workshops und Masterclasses geleitet.

Anna Alàs i Jové arbeitet an der Interpretation Alter Musik. Adrian Pavlov, Komponist und Dirigent, vernetzt sich gerade mit der Neue-Musik-Szene Berlins. Anna Alàs i Jové ging nach Berlin, um bei Wolfram Rieger und Anneliese Fried zu studieren. In diesem Jahr gewann sie den zweiten Preis beim Internationalen Gesangwettbewerbs für Barockoper „Pietro Antonio Cesti“. Jetzt hat sie einen Vertrag mit der Staatsoper in der Tasche. Im Herbst wird sie in einer Oper für Kinder singen. Adrian Pavlov wird im Oktober im Berliner Theater HAU 2 eine Kurzoper von Boris Blacher dirigieren. Es ist das elfte k.o.-Projekt (k.o. steht für Kurzoper), das ausschließlich von Studierenden der „Eisler“ und der Universität der Künste inszeniert wird. Professor Claus Unzen, der Leiter des Studienganges Regie an der „Eisler“, betreut die Projektreihe gemeinsam mit Berliner Theaterschaffenden. „Was nützt es, wenn die Studenten nur innerhalb der Hochschule inszenieren und diese Stücke vor den wohlwollenden Eltern aufführen?“, sagt er. „Sie sollten so früh wie möglich lernen, die Kritik des Publikums und der Profis auszuhalten.“

Große Musiker sind oft bescheiden, sogar demütig. Vielleicht liegt es daran, dass sie mit ihrer Kunst dem Himmel, den Göttern am nächsten kommen. Die beiden jungen Musiker sind erfüllt von Dankbarkeit ihren Lehrern gegenüber. Sie möchten das ausdrücken. Es soll in diesem Artikel stehen. Dabei gäbe es „Die Eisler“ beinahe nicht mehr. Als die Berliner sich zu Beginn der Neunzigerjahre daran machten, die geteilte Stadt wieder zu vereinen, stand sie auf der Streichliste. Es gab ja auch noch die Hochschule im Westen, die heutige Universität der Künste. Zu wenig deutete damals darauf hin, dass sich ausgerechnet die vernarbte Frontstadt des Kalten Krieges zum kreativen Zentrum Europas entwickeln würde. Aber die damalige Rektorin Annerose Schmidt verteidigte „Die Eisler“ erfolgreich. Vielleicht hatte sie die Götter auf ihrer Seite. Apropos: Wer war eigentlich dieser Eisler, der vor den Nazis flüchten musste und von den Kleingeistern der Stalin-Ära angefeindet wurde? Inzwischen ist es das Haus am Gendarmenmarkt, dessen Ruhm auf den fast vergessenen Komponisten neugierig macht. Anna Alàs i Jové wusste vor ihrer Ankunft nur, dass er ein Schüler Schönbergs war. Adrian Pavlov hat sich mit den Werken Eislers beschäftigt, schon lange, bevor er nach Berlin kam. Er schätzt es, dass die Hochschule anlässlich ihres 60jährigen Bestehens in diesem Herbst eine Auseinandersetzung mit dem Künstler führen wird. Seit 1993 schreibt sie jährlich den Eisler-Preis in den Kategorien Komposition und Interpretation unter Berliner Studierenden aus. Adrian Pavlov hat ihn 2010 bereits zum fünften Mal bekommen.

Der Lärm aus der Charlottenstraße dringt durch das geöffnete Fenster ins Büro des Rektors Jörg-Peter Weigle. Der Wind klappert mit den Lamellen des Vorhangs. Auf die Frage, was „Die Eisler“ von den 26 anderen deutschen Musikhochschulen unterscheidet, weist er in Richtung Fenster. „Drei Opernhäuser, fünf Orchester, die freie Szene, Berlin als Theaterhauptstadt, die Museumsinsel. Ausgezeichnete Lehrer, die fest im internationalen, künstlerischen Leben stehen, unsere Verbindungen zur Philharmonie und zum Konzerthaus…“ Die Aufzählung wird aus Platzgründen hier beendet. Erwähnt sei noch, dass Sir Simon Rattle schon mehrmals das Sinfonieorchester der Schule dirigiert hat. Rattles Sohn Alexander ist Klarinettist und macht gerade sein Diplom an der „Eisler“.

Neben dem Sinfonieorchester beherbergt die Schule übrigens ein Kammer – und ein Studienorchester, einen Chor und ein Sinfonisches Blasorchester, das Ensemble Eisler Brass für Blechblasinstrumente und Schlagzeug und das ECHO Ensemble für Neue Musik.

Professor Weigle ist selbst „Eisler“ – Absolvent. Er studierte in den Siebzigerjahren Chorleitung und Dirigieren. „Der Unterrichtsstil, wie wir ihn kennengelernt haben, dem Meister alles nachzumachen, der ist weitgehend verschwunden. Heute steht das Finden der eigenen Persönlichkeit, einer eigenen Interpretation im Zentrum der Ausbildung.“

Um den Weg aufs Dach und sein Stück vom Himmel zu finden, braucht es auch in Berlin immer mehr Kreativität. „Ich möchte mich weiter entwickeln, Spaß mit meiner Arbeit haben“, sagt Anna Alàs i Jové. „Aber weit planen können wir nicht.“

„Als Dirigent hatte ich in letzter Zeit hatte ich viele Einladungen von Neue-Musik- Ensembles“, erzählt Adrian Pavlov. „Es gibt immer Möglichkeiten. Ich arbeite auch als Pianist. Ich lebe für die Musik und kann mir gar nicht mehr vorstellen, etwas anderes zu tun.“

Berliner Notiz – Blog 4. September 2010

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Berlin. Oranienstraße 25.

Schwer zu sagen, wie alt sie ist. Sie trägt ein braun gestreiftes Kopftuch und über die ausladenden Hüften einen schwarzen Mantel, der bis zu den Knöcheln reicht.

Sie drängelt mit einem Plastiksack voller Fladenbrote zwischen den tanzenden Frauen und der Tafel hindurch und verteilt das Brot zwischen den Käseplatten und den Schälchen mit Humus, Tomatensalat und Oliven. Ihre Hände sehen jung aus, fast kindlich.

Ich bin ihr im Weg. „Was schreibst du?“ Ein neugieriger, zugleich skeptischer Blick fällt auf mein Notizbuch. „Ich schreibe über das Frühstück“, sage ich und mache ihr Platz. Sie stößt den Brotsack weiter. Sie macht einen Witz über meine Gummistiefel. Die älteren Frauen auf der anderen Seite der Tafel schauen grinsend herüber.

Ich bin zu Gast beim Frauenfrühstück des Vereins AKARSU in Berlin-Kreuzberg. AKARSU kümmert sich um Frauen und Mädchen aus sozial benachteiligten Familien. Fast alle Frauen an der Tafel tragen das Kopftuch. Auch die Anwältin, die eingeladen wurde, um in rechtlichen Fragen weiterzuhelfen. Die Probleme, in denen sie die Frauen am Tisch berät, drehen sich um Familienprobleme und Ärger mit dem Jobcenter.

Die Angestellten des Vereins, typische Kreuzberger Akademikerinnen, zeigen ihr Haar: glatt oder gelockt, meist bis zur Schulter oder länger. Sie tragen Jeans, Pullover und Brille. Auf den ersten Blick kann ich zwischen türkischen und deutschen Frauen nicht unterscheiden. Eine Sozialarbeiterin erzählt, sie sei mit der Rechtsanwältin zur Schule gegangen und erstaunt, dass sie jetzt ein Kopftuch trägt.

Ayla Yilmaz, die Vorstands-Vorsitzende, kommt später. Sie trägt ein buntes Sommerkleid und ein herzliches Lachen. An ihren Ohren glitzern Steine im rötlichen Ton ihres welligen Haares. Ich habe die Geschäftsfrau in einem Salon getroffen. Ich mochte sofort ihre herzliche, offene Art und wie sie sofort meine zwanzigjährige Tochter Selma umarmte, weil sie einen türkischen Namen trägt. Aber Selma ist auch ein jüdischer Name. Wir nannten unsere Tochter nach einer ihrer jüdischen Tanten aus Amerika. Ich glaube, dass Ayla und Selma sich sofort umarmten und den ganzen Abend lang unterhielten, lag an ihrem ähnlichen Temperament. Selma wird auf Grund ihres Namens und ihres Aussehens in Berlin oft für eine türkische Frau gehalten. Sie ist nicht sehr groß und etwas rundlich, hat volles, gelocktes Haar und ausdrucksvolle, hellbraune Augen.

Ayla zog zwei Visitenkarten aus ihrer Tasche, die ihrer eigenen Firma –sie arbeitet als Steuerberaterin- und die des Vereins Türkischer Unternehmer und Handwerker Berlins, den sie mit ihrem Mann Hüseyin gegründet hat. Hüseyin Yilmaz ist auch der Geschäftsführer von AKARSU. Die Yilmaz sind jetzt in den Fünfzigern. Sie haben sich beim Studium in Deutschland kennengelernt. Ihre Töchter sind inzwischen erwachsen.

Als ich Ayla und Hüseyin gegenüber sitze, mit einem süßen, dunklen Tee, dann stelle ich mir vor, dass es früher in Berlin viele solcher engagierten jüdischen Paare gegeben hat. Sie haben die Atmosphäre der Stadt, ihre Dynamik und ihren Witz, nachhaltig geprägt.

Sie habe nichts gegen das Kopftuch, wenn es aus religiösen Gründen getragen werde, sagt Ayla. Auch ihre Mutter habe immer ein Kopftuch getragen. Aber in den letzten Jahren bekomme es immer stärker eine politische Bedeutung, in der Türkei zum Beispiel, wo die konservative AKP regiert und Frauen sich berufliche Vorteile vom Kopftuch versprächen.

Die kleine Frau mit dem Brotsack möchte nicht, dass ich ihren Namen in mein Notizbuch schreibe, aber sie verrät mir ihr Alter: Vierunddreißig. Sie ist geschieden. Ihre Tochter ist zehn Jahre alt. Einen Beruf hat sie nicht gelernt. Sie putzt morgens in einem Café. Sie macht eine wegwerfende Geste. „Was möchtest du gern machen?“ frage ich. „Zu Hause bleiben und schlafen“, antwortet sie. Sie kichert. „Witz“, sagt sie.

Sie sagt, ihre Religion verlange, dass sie das Kopftuch trägt. „Aber es sind religiöse Frauen hier, die kein Kopftuch tragen“, sage ich. Sie zieht die Schultern hoch. „Warum du?“, bohre ich weiter. Sie weist mit der Hand in die Runde der Frauen, als delegiere sie meine Frage weiter. „Muss“, sagt sie. Unter dem Kopftuch sehe ich den lockigen Haaransatz über ihren kleinen Ohren. Sie kommt mir plötzlich bekannt vor, als wäre ich ihr schon einmal begegnet, ohne Kopftuch, beim Fußballgucken in dem Café in meiner Straße, mit einer glitzernden Spange im Haar. Ich meine nicht, dass sie es war. Ich meine, dass ich eine Frau gesehen habe, die genauso schaute, sprach und kicherte wie sie.

Doktor Hoffnung

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In Dresden können Gymnasiasten Esperanto lernen, die Plansprache, die die Welt einmal verbinden sollte. Der Lehrer hat den Traum davon noch nicht aufgegeben und hofft, dass seine Schüler den Kurs durchhalten


© Photo: Stephan Pramme

Doktor Benoît Philippe unterrichtet am Bertolt-Brecht-Gymnasium in Dresden Französisch. Er ist nicht zufrieden. Er findet, dass seine Muttersprache für Schüler in Sachsen nicht wichtiger sein sollte als Sorbisch. Oder Suaheli.

Es ist Montagnachmittag. Herr Philippe wartet vor dem Zimmer 104 auf seine Schüler. Seine schwarze Ledertasche trägt er wie einen Schulranzen auf dem Rücken. Der blau-weiß-rote Sticker auf dem Deckel der Tasche ist schon ziemlich abgegriffen. Doktor Benoît Philippe ist jugendlich schlank, sein kurzer Bart tadellos geschnitten. Ein kleiner, blauer Kragen liegt über dem hellen Wollpullover. Er unterscheidet sich in Gelassenheit und Eleganz erheblich von den anderen Lehrern, die durch die Gänge des modernen Gymnasiums eilen.

Felix, Vivien, Sophie und Carolin aus der Achten treffen zuerst ein. „Saluton“, begrüßt Herr Philippe die Schüler. „Saluton“, grüßen sie zurück. Ein paar Minuten später kommen Janek und Pia aus der Siebten. Der Esperanto-Unterricht kann beginnen.

Der Lehrer rückt vier Tische für die kleine Gruppe zusammen. Er schreibt Worte an die Tafel, deren Endungen die Schüler vervollständigen sollen. Das ist einfach, denn in Esperanto endet jedes Substantiv/Einzahl auf „o“ und jedes Adjektiv auf „a“. Deshalb erinnert die Sprache immer ein wenig an spanisch, obwohl ihr Wortschatz aus vielen europäischen Sprachen stammt. „Vi bone lernis“ – du hast das gut gelernt, lobt der Lehrer, als Vivien einen Satz aus den Wörtern bildet. Vivien ist gegen den Willen ihrer Eltern zu den ersten Esperanto-Lektionen gekommen. Ihre Eltern, sie sind beide Lehrer, finden die Sprache sinnlos. So wie Viviens Eltern denken viele: Warum eine Sprache lernen, in der man in keinem Hotel der Welt ein Frühstück aufs Zimmer bestellen kann? Aber Vivien ist neugierig auf die Sprache, von der Herr Philippe sagt, dass sie sich schneller als Englisch und Französisch lernen lässt. Vielleicht taugt sie als Geheimsprache. Felix lernt Esperanto, um in Französisch besser voran zu kommen. Denn ihr Lehrer, Herr Philippe, hat ihnen gesagt, dass Esperanto eine gute Grundlage für jede europäische Sprache ist. Sophie möchte Dolmetscherin werden. Als zweite Weltsprache kann sie sich Esperanto nicht vorstellen. „Ich könnte niemanden im Internet auf Esperanto anquatschen.“  Pia fällt auf in der Gruppe. Sie ist ein Mädchen mit einem blassen Gesicht und großen, braunen Augen, die nachdenklich und distanziert schauen. Zugleich ist sie sehr präsent. Auch sie möchte später einen Beruf haben, in dem sie Sprachen braucht wie ihre Mutter, die kürzlich beruflich in Afrika zu tun hatte. Pia hat sich ihre Gedanken gemacht über Esperanto, die vor allem als gerecht geltende Kunstsprache. „Da kommt ja so viel aus dem Polnischen.“ Das haben vielleicht ihre Eltern behauptet, die kein Esperanto sprechen. Im Esperanto bündeln sich Einflüsse aus allen europäischen Sprachgruppen. Trotzdem sind Pias Bedenken richtig. Für einen jungen Kosmopoliten bleibt es eine ungerechte, weil europäische Sprache. „Englisch ist irgendwie cooler“, sagt Pia.

Doktor Philippe fürchtet, dass die Schüler aufgeben. Der Kurs ist im letzten Jahr von fünfzehn auf sieben Schüler geschrumpft. Zwar haben in seinen Esperanto-Kursen, anders als in den Spanisch – und Italienisch-AGs, immer einige Schüler bis zum darauffolgenden Jahr durchgehalten, weil sie weniger schnell entmutigt waren, aber schließlich haben die Jugendlichen um diese Zeit schon einen langen Schultag hinter sich. Und er darf keine Zensuren geben. Die leichte Kunstsprache hilft den Schülern also nicht einmal, ihren Abi-Durchschnitt zu heben.

In Deutschland ist Esperanto als Schulfach nicht zugelassen. In Großbritannien, Norwegen, Polen, Ungarn, Bulgarien, Italien, Österreich, Bosnien, den USA, China, Neuseeland und vielen weiteren Staaten ist die Plansprache anderen Fremdsprachen gleichgestellt. Dort werden Lehrer für den Esperanto-Unterricht ausgebildet. Benoît Philippe hat 1980 einen Abschluss als Esperanto-Lehrer in Varna gemacht.

Esperanto sei zweckmäßig und gerecht, argumentiert er. Er zählt die Erfolge seiner Esperantogruppe auf und hält sie gegen die miserablen Französischkenntnisse der Schüler im Allgemeinen. Französisch stehe nur zur Abschreckung auf dem Lehrplan, damit die Schüler sich für das leichtere Englisch entscheiden, sagt er. Zwei, drei senkrechte Falten bilden sich zwischen seinen blauen Augen auf der sonst glatten Stirn. Dann winkt er ab. „Das ist natürlich Unsinn, aber manchmal habe ich solche Ideen.“

Esperanto ist für diesen Lehrer nicht nur ein Argument. Es ist eine Leidenschaft. Er entdeckte die Sprache als Student in Freiburg, im Disput mit einem Freund, der Philippes zunächst ablehnende Haltung mit den Worten konterte: „Du weißt nicht, wovon du sprichst.“ Das habe ihn überzeugt. Seine Begeisterung wuchs mit dem Lernen. Die Dissertation -er studierte Romanistik und Philologie- schrieb er über die Entwicklung der Plansprache. Sein Professor, ebenfalls ein Romanist, hatte keine Mühe, die Sprachbeispiele zu verstehen. Seit vielen Jahren schreibt Benoît Philippe Gedichte in Esperanto. Er gibt eine Zeitschrift heraus und sammelt Literatur.

„Es hat vielleicht mit meiner Geschichte zu tun, dass ich so offen war für die Idee einer gerechten Sprache“, sagt er. „Meine Familie kommt aus dem Elsass, wo abwechselnd Deutsch und Französisch verboten waren, je nachdem, wer gerade an der Macht war.“ Als sein Großvater in den ersten Weltkrieg zog, verließ er ein deutsches Dorf und kehrte heim in ein französisches. Die Eltern wurden während der Annexion durch Hitler in ihrer Kindheit gezwungen, Deutsch zu sprechen. Nach 1945 war die Sprache der Nazis im Elsass unerwünscht.

Benoît Philippe wurde in Baden-Baden geboren. Er wuchs in einer Siedlung für die französischen Besatzer auf. Sein Vater arbeitete dort als Lehrer. „Wir nannten diese Siedlung ‚das Ghetto’, erzählt er. „Das war kein Frankreich. Das war kein Deutschland. Das war…“ Er schaut sich im Schulhaus nach einem Vergleich um. Sein Blick fällt in den verwahrlosten Lichthof im Zentrum des Gebäudes, gleich neben Zimmer 104. „Das war wie auf dem Mond. Die Militärs und ihre Familien blieben maximal drei Jahre. Ich war neidisch auf meine Mitschüler, weil sie wieder gehen konnten. Sie gingen an Orte, die so wunderbare Namen hatten wie Bordeaux oder Marseille. Wenn wir zu Beginn des Schuljahres die Formulare ausfüllen mussten, deckte ich meinen Geburtsort zu. Ich war der Boche, der schmutzige Deutsche.“

Ludwig Zamenhof, der Erfinder des Esperanto, wurde einhundert Jahre vor Benoît Philippe geboren, im Dezember 1859. Er wuchs in der Stadt Białystok an der Grenze des Russischen Reiches auf. Heute liegt Białystok in Polen. Als Ludwig Zamenhof ein kleiner, jüdischer Junge war, wurde in der Stadt Jiddisch, Polnisch, Russisch, Litauisch und Deutsch gesprochen. Ludwig Zamenhof führte die Feindschaft unter den Völkern auf ihre verschiedenen Sprachen zurück. Zamenhof wurde Augenarzt. Er sprach mehrere Sprachen. Mindestens ein Wörterbuch muss er immer unter seinem Arztkittel versteckt haben, das hebräische, lateinische oder griechische. Er wollte den Sprachen an die Wurzel gehen. 1887 veröffentlichte er unter dem Pseudonym „Doktor Esperanto“ –Esperanto bedeutet „Der Hoffende“ – seinen Entwurf einer Lingvo Internacia. Doktor Esperanto war nicht angetreten, die Sprachen der Völker zu verdrängen, sondern sie zu erhalten. Keine Sprache sollte in ihrer Bedeutung über die andere erhoben werden. Esperanto war als Brücke der Verständigung gedacht. Der jüdische Augenarzt hatte eine politische Bewegung ins Leben gerufen.

Die Idee fand schnell Anhänger. Zeitschriften entstanden, Kongresse wurden organisiert. Dresden hat eine reiche Esperanto-Geschichte. 1908 fand hier der Weltkongress der Esperantisten statt. Die Esperanto-Schriftstellerin Marie Hankel lebte in der Stadt. Heinrich Arnold, Sohn des Kunstmäzen und Bankiers Georg Arnold, an den in Dresden noch heute ein Bad erinnert, engagierte sich für die Verbreitung der Plansprache. Er schrieb das Vorwort für die Esperanto-Ausgabe des Buches „Die Waffen nieder!“ von Bertha von Suttner, mit der er auch befreundet war. Zeitgenossen berichten, dass er auf seiner Strandburg an der Ostsee die grüne Flagge der Bewegung hisste. In den Zwanzigerjahren lernten sogar die Dresdner Polizisten Esperanto, um für den Fremdenverkehr gerüstet zu sein.

Die Nazis verboten die pazifistische Sprache. In der DDR wurden erst wieder Mitte der Sechzigerjahre, nach dem Ende der Stalinzeit, Kurse an Volkshochschulen und in Betrieben angeboten.

Heute ist von dem einstigen Enthusiasmus nichts mehr in der Stadt zu spüren. Es gibt einen Stammtisch und einen Freundeskreis Esperanto, den der Leiter des Dresdner Esperanto-Archivs ins Leben gerufen hat. Zwei Lehrer fallen Benoît Philippe ein, die wie er Esperanto in Dresden und dem Umland unterrichten.

Die Weltsprache ist Esperanto eben nicht geworden. Man schätzt, dass es fünf Millionen Sprecher weltweit gibt, genaue Zahlen sind nicht bekannt. Die Schätzung beruht auf einem Vergleich der Wikipedia-Einträge auf Esperanto mit denen anderer Sprachen.  So betrachtet, liegt Esperanto irgendwo zwischen Dänemark und Litauen. In Litauen leben über drei Millionen, in Dänemark zirka fünf Millionen Menschen. Die aktiveren Esperanto-Gruppen findet man in den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Es sind junge Intellektuelle, die in der Geburtsstadt Zamenhofs den Fernsehsender Bjalistoko Esperanto betreiben.

Esperanto ist heute zu einem Sprachsport geworden, ausgeübt von Sprachbegabten bei regionalen und weltweiten Treffen. Doch was motiviert zum Lernen? Esperanto hat keine Landschaft, kein Haus, kein Lied. Benoît Philippe würde sagen: Esperanto hat alle Landschaften, alle Häuser alle Lieder. Doch das läuft auf dasselbe hinaus. Die Entscheidung für eine Sprache erfolgt aus Notwendigkeit oder Liebe. Es ist heute nicht notwendig, Esperanto zu lernen. Wen oder was lieben Menschen, die sich für Esperanto entscheiden? Eine Idee? Ein Spiel?

Jonne Saleva ist ein Austauschschüler aus Rovaniemi, der Hauptstadt Lapplands. Er ist siebzehn Jahre alt. In seiner Muttersprache spricht man das „o“ in seinem Namen weder kurz noch lang. Man hält das „o“ ein wenig, man schaukelt es wie ein Baby, bis der Name eine kleine, unbekannte Melodie erzeugt, die es sonst in keiner anderen europäischen Sprache gibt. Man muss das üben. Es hilft, sich einen dunklen Wintertag in Lappland dabei vorzustellen. Es hilft, sich ein Haus in das verschneite, flache Land zu denken und darin ein Feuer.

„Es war komisch, allein Esperanto  zu lernen, ohne zu wissen, wofür“, erzählt Jonne. Sein Deutsch hat einen starken sächsischen Einschlag. Er hat die Besonderheiten dieses Dialekts längst analysiert. „In Lappland gibt es nur zwei Leute, die Esperanto sprechen: Mein Lehrer Pekka und ich. Eines Tages rief Pekka an und sagte, dass sein Freund aus Japan da sei. Dieser Japaner sprach nur Japanisch und Esperanto. Es war das erste Mal, dass ich jemanden traf, mit dem ich mich nur auf Esperanto verständigen konnte. Das war großartig.“

Zum zweiten Mal besucht Jonne den Stammtisch der Dresdner Esperantisten. Benoît Philippe organisiert die Treffen im „Neustädter Diechl“, einem Restaurant in der Äußeren Neustadt, dem Szeneviertel Dresdens. Überwiegend ältere Herren sind um die Tafel versammelt. Als Jonne gegen neun Uhr im Gastraum sein Hütchen lüftet und die graue Filzjacke auf das Kanapee wirft, machen sich die ersten Besucher bereits auf den Heimweg.

Die meisten der Akademiker beherrschen wie Jonne zwei oder mehr Sprachen perfekt. Ein stämmiger Lateinlehrer mit dunklen Haaren und breiten Hosenträgern spricht fließend Spanisch, Russisch und Arabisch. Jetzt lernt er Chinesisch und unterrichtet das auch schon an seiner Schule. Sein Tischnachbar hat in der DDR Ökonomie studiert. Seit vielen Jahren ist er arbeitslos. Langeweile hat er nicht. Er übersetzt Computerprogramme ins Nieder – und Obersorbische. „Um die Sprachen zu pflegen“, sagt er.

Ein buntes Hündchen mit spitzer Nase wedelt um den Tisch, wenn wieder ein knuspriges Bauernfrühstück oder ein Schnitzel serviert wird. In dieser Runde passiert es, dass die Männer aus dem Esperanto heraus ins Sächsische fallen. Je weiter sie von Benoît Philippe entfernt sitzen, desto ausgiebiger. Mi krokodilas – ich krokodiliere, sagen Esperantisten, wenn sie miteinander in ihrer Landessprache sprechen. An diesem Abend kämpft Benoît Philippe nicht allein gegen das Krokodilieren. Sein langjähriger Freund Hubert Schweizer, ein Heilpraktiker und altkatholischer Priester, sitzt am anderen Ende des Tisches. Die beiden achten darauf, dass am Tisch nicht wieder von der Aufgabe des Abends abgewichen wird. Doktor Philippe hat eine Liste mit Wörtern vorbereitet, für die es noch keine Entsprechung auf Esperanto gibt, das Wort „piercing“ beispielsweise. „Korpo traboraga“, lautet ein Vorschlag, der durchbohrte Körper, „pikornamo“ ein anderer, Stechschmuck. Man plaudert über die Traditionen des Piercing auf anderen Kontinenten, -es scheint ein spaßiges Thema zu sein- und diskutiert, ob eher das Verb bohren oder pieken zutrifft. Die erarbeiteten Übersetzungs-Vorschläge schickt Benoît Philippe nach Leipzig, an den Herausgeber des Wörterbuch Deutsch-Esperanto, Professor Erich-Dieter Krause. Um die Auflage des Werkes wird ein kleines Geheimnis gemacht. Der Verlag will nur verraten, dass sie irgendwo zwischen 1000 und 3500 Exemplaren liegt. Eine ähnliche Zahl liest man auch über den Weltbund der Esperantisten: 1300 Deutsche sind dort als Mitglieder erfasst.

Am nächsten Montag wartet Doktor Philippe wieder vor Zimmer 104 auf seine Schüler. Jonne steht neben ihm und knetet seinen Hut. Fast alle kommen, um den Gast aus Lappland kennenzulernen: Sophie, Vivien, Felix, Carolin und Janek. Jonne soll etwas über seinen Alltag in Finnland erzählen. Doktor Philippe hat bereits eine Finnland-Karte aus dem Geographie-Kabinett geholt. Pia hat abgesagt. Sie muss zur Orchesterprobe. Sie denkt sowieso darüber nach, die AG aufzugeben. Sie möchte sich stärker auf Englisch konzentrieren.

Zielfahnder: Auf der Suche nach der Tupperdose

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In seiner freien Zeit streift Timo durch die Gegend, um an schwer zugänglichen Orten versteckte Mitteilungen zu finden. Er ist ein Geocacher. Er bevorzugt Schwierigkeitsstufe 5, die gefährlichste. 

© Photo: Stephan Pramme

Timo sucht das Codewort. Er ist nicht wegen der morbiden Schönheit des Gebäudes hier.

Timo Schygulla, 27 Jahre, aus Berlin-Reinickendorf, ist gekleidet und ausgerüstet wie für eine Expedition auf einen unbekannten Kontinent. Dabei streift er nur durch Brandenburger Land. Er trägt feste Schuhe und eine Hose mit vielen Taschen, in denen er seine Ausrüstungsgegenstände, GPS-Gerät, Telefon, Taschenlampe, Spiegel und feuerfeste Handschuhe, unterbringen kann. In seinem Rucksack stecken ein Wasserbeutel, aus dem er sich über einen Schlauch direkt bedient, und eine Kletter ausrüstung. Timo ist Geocacher. Er ist auf der Suche nach dem »Cache«, dem Versteck.

Geocaching ist ein relativ neuer Zeitvertreib. Gerade erlebt es einen Boom. Call-Center-Angestellte, Wissenschaftler, Verkäuferinnen, Informatiker, Rentner und Schüler sind unterwegs, um Tupperdosen in die Landschaft zu legen, mit einem Logbuch darin, in das der Finder seinen Namen und einen hübschen Spruch schreiben kann. Außer einem GPS-Gerät braucht man das Internet. Unter der Adresse www.geocaching.com werden die Koordinaten der Verstecke veröffentlicht. Dort wird auch registriert, wie oft jedes Versteck gefunden wurde und von wem. Daraus folgt das Punkte-Ranking der erfolgreichsten Cacher landes- oder weltweit. 860 000 Dosen, von fingerkuppenkleinen »Nanos« bis zu Munitionskisten, liegen auf allen fünf Kontinenten der Erde, einschließlich der Antarktis. Es ist allerdings anzunehmen, dass der prozentuale Anteil der Geocacher in Deutschland höher ist als beispielsweise in Patagonien. Genaue Zahlen gibt es aber nicht. Etwa 500 Geocacher streifen beispielsweise durch den Berliner Raum, schätzen Insider. Kaum noch eine Straße in der City, in der nicht unter einer Parkbank oder in einem Telefonhäuschen eine Dose klebt. Solche einfachen Verstecke sind aber nur der Anfang. »Multicaches« führen über mehrere knifflige Stationen zur Ziel-Dose, von den Cachern »Final« genannt. Der Ort, den Timo heute sucht, liegt 52 Grad, 15 Minuten und 704 Milliminuten nördlicher Breite und 12 Grad, 55 Minuten und 482 Milliminuten östlicher Länge.

Wir stehen vor der Ruine des Chirurgie-Pavillons einer ehemaligen Lungenheilstätte, im Flügel der Frauen. »Vom Eingang müssen wir 300 Meter peilen, direkt in die Mitte des Gebäudes«, sagt Timo. Unsere Schritte knirschen über Schutt und Glas. Ein langer Kreuzgang führt auf das Skelett einer zweiflügeligen, halbrunden Tür zu. Es zieht gewaltig, denn sämtliche Fenster sind zerbrochen. Links des Ganges gehen die ehemaligen Krankenzimmer ab. Die Türen wurden entfernt, weggetragen, wahrscheinlich waren sie schön, wie die Flügeltür am Ende, wie die leeren Fensterrahmen zum Park, deren Anstrich in so filigranen Blättchen vom Untergrund bricht, dass es wie ein Muster wirkt, wie feine Spitze. Die Gebäude wurden im 19. Jahrhundert gebaut. Beelitz-Heilstätten, das Sanatorium, rund 60 Kilometer südwestlich von Berlin, ist ein architektonisches und technisches Meisterwerk seiner Zeit. Nach 300 Metern befinden wir uns kurz hinter der Flügeltür, vor einem leeren Aufzugsschacht. Das Eisengitter rostet, gilbt, grünt. Der Verfall wirkt wie inszeniert. Nur noch Fragmente des geschmiedeten Geländers um den Aufzugsschacht, Blüten, Blätter und gedrehte Stäbe, sind geblieben. Sie wurden zersägt und abgebrochen. Der Aufzug hängt zwei Stock werke höher, eingerostet, wie für die Ewigkeit.

»Wichtig ist eine gute Story«, sagt Timo. Er führt Taschenlampe und Spiegel durch Entlüftungs- und Heizungsschächte und über offen liegende Rohre, um einen Hinweis auf Heinrich zu finden, der in einem der Pavillons von Beelitz-Heilstätten verloren gegangen ist. So weit die Story. Barbie & Bruettler haben den Multicache in Beelitz-Heilstätten gelegt. Geocacher arbeiten mit »Nicknames«. Timos Deckname lautet »Ultralist«. Auf www.geocaching.com ist zu lesen, dass Barbie & Bruettler in Kassel leben und seit 2006 knapp 4000 Funde gemacht haben, meist in hohen Schwierigkeitsstufen. Das Foto im Nutzerprofil zeigt eine rothaarige Schaufensterpuppe in Seidenwäsche. In einem nostalgischen Spiegel neben ihr ist der nackte Oberkörper des dazu gehörenden Schaufenstermannes zu sehen.

Nach 20 Minuten Suche schiebt sich ein Satz, mit schwarzem Edding auf ein Rohr geschrieben, in Timos Spiegel: »Woher kommt das viele Licht? Bin ich etwa noch im grünen OP? Heinrich.« Die Suche nach dem grünen OP führt durch mehrere zugige Gänge, von denen ehemalige Bäder, Toiletten und Krankenzimmer abgehen. »Ein lauschiges Plätzchen zum Vögeln« hat jemand auf die weißen Kacheln über ein Sofa gesprüht, das so aussieht, als hätte es schon mehrere Landregen aufgesogen. Das Dach des Gebäudes ist längst nicht mehr dicht. »In der Bildersafari für den großen Multi ist dieses Bild mit drauf«, sagt Timo. »Allerdings nur als Ablenkung.«

Auf keinen Fall möchte Timo sich ablenken lassen. Er nimmt die Besonderheit dieses Ortes zwar wahr, das Blut auf den blauen und rosa Kacheln, die ausgequetschten Ketchup-Flaschen in den Pfützen auf dem Betonboden, das verrostete Metallbett unter der altertümlichen OP-Lampe mit den blinden Augen, doch anders als die Fotografen und Filmleute, die in Beelitz-Heilstätten das Interieur des Schauders suchen, genießt Timo die besondere Herausforderung seines Caches. Nur das. Schwierigkeitsstufe fünf. Die höchste. Die Symbole auf der Web- site, ein Totenkopf, eine Kletterwand und eine Taschenlampe, sind die Indikatoren der Verstecke, die ihn interessieren. Wie die Figur in einem Computerspiel bewegt er sich in dem alten Krankenhaus. Glatt. Geschickt.

Timo ist Wirtschaftsingenieur, spezialisiert auf Multi-Media-Systeme, das heißt, auf die Anwendungen des Web 2.0 und Enterprise 2.0, also Blogs, Foren und Twitter. »Als Wirtschaftsingenieur hat man einerseits das technische Know-how und andererseits BWL«, erklärt er. Sein Studium hat er er folgreich abgeschlossen. Kürzlich hatte er ein Bewerbungsgespräch bei der Telekom. Es lief gut. Jetzt bereitet er sich auf die Prüfung im Accessmentcenter vor. Timo strahlt Leichtigkeit aus, die Sicherheit desjenigen, der gewohnt ist, dass ihm die Dinge gelingen. Schwer vorstellbar, dass ihm irgendwo ein peinlicher Satz entwischt. Es gibt Menschen, denen die Welt wie maßgeschneidert sitzt. Timo fährt Mountainbike, er paddelt und trainiert jetzt die Jugendgruppe seines Vereins am Tegeler See. Er löst Sudokus, hört die Nachrichten und geht zur Wahl. Seine Freundin Isabel studiert Mathematik. Geocaching langweilt sie. »Sie findet Finden schön«, sagt Timo. »Aber Suchen nicht.« Bei den Stammtisch-Treffen der Berliner Geocacher bleibt Timo alias »Ultralist« vornehm zurückhaltend. Vereinsmeierei ist ihm zuwider. Er mag keine Bier- und Weinseligkeit. Er ist am Austausch von Fakten interessiert.

Geocacher kommen aus allen Altersgruppen und Schichten der Bevölkerung. Es gibt ganze Familien, die cachen gehen, zum Beispiel der Diplomingenieur »Geolink«, seine Hausfrau »Lupini« und ihre gemeinsame Tochter »Midna«. Die Berliner »Gartenzwerge«, ein blasses, in Schwarz gekleidetes Paar, bezeichnen sich als Genusscacher. Was auch immer sie genießen, der gefährliche Multi in Beelitz- Heilstätten gehört sicher nicht dazu. »Jack Sparrow«, ein älterer Herr, der die Welt bereist und eine sagenhafte Punktezahl gesammelt hat, wird von vielen bewundert. Es gibt den Notarzt, der komplett auf einen Nickname verzichtet und sich einfach Jan Wagner nennt, als hätte er gar keine Lust, auch mal jemand anders zu sein als er selbst, und »Moenk«, den Geo-Informatiker, ein Star der Szene, ein Typ wie Timo: sportlich, sympathisch, klug und schön. Unter www.cachetalk.de betreibt er einen Podcast.

Timo hat die nächste Koordinate gefunden. Sie ist mit roter Farbe auf die Unterseite eines Fensterschenkels geschrieben. Die Spur führt hinaus aus der Chirurgie, durch den Park, zu einer gigantischen Ruine, noch immer im Flügel der Frauen. Die Ruine schiebt sich wie ein Kasten aus dem Park, rechts, links, unten und oben von Bäumen umgeben. Wir trauen zunächst unseren Augen nicht, doch dann bestätigt sich dieser erste wunderliche Eindruck: Im zerstörten oberen Stock werk des Gebäudes wachsen hohe Bäume. Ein Gang, verschüttet mit Holzbalken und Schutt, führt auf eine riesige Halle zu, deren Fenster zerstört sind, deren Fußboden von Steinen und Erde bedeckt ist, als wäre der Wald bereits erfolgreich gegen die Mauern vorgerückt. Die marode Treppe führt durch die Stockwerke hinauf in den Wald. Wie kommt ein kompletter Wald mit Nadeln, Moos, Ebereschen, Ahornbäumen und schlanken Kiefern in den vierten Stock eines Hauses? Die Treppe bricht in Höhe der Ebereschen ab. Timo hat keine Idee, wie der Wald hier rauf kam. Interessiert es ihn? Erstaunt es ihn? Gibt es überhaupt etwas, das ihn staunen macht, ihn entsetzt, auf die Palme bringt? War er jemals richtig wütend? Vertauschte Ziffern in Koordinaten hätten ihn schon verärgert, sagt Timo. Möglicherweise schleuderte die Bombe, die das Gebäude im Zweiten Weltkrieg zerstörte, einige Kilo Erde, ein Samenpaket, durch die Luft. Möglicherweise reichte das dem Wald aus, sich hier oben auszubreiten. Egal. Dieses Wissen wird im Multicache nicht abgefragt, ist also nicht von Belang. Hier kommt es lediglich darauf an, ein Loch im Waldboden zu finden, durch das Timo sein Kletterseil über den darunter liegenden, eisernen Balken der großen Halle fädeln kann. Im grünen Mooslicht der großen Halle, vielleicht ein ehemaliger Turn-, Fest- oder Speisesaal, in dem Vorträge über gesunde Lebensweise gehalten oder Konzerte aufgeführt wurden, legt Timo seinen Klettergurt um, befestigt zwei Reepseile an dem dicken Seil, in die er seine Füße stellt, und klettert wie auf einer mobilen Treppe unters Dach. Leicht sieht das aus. Das sind die Momente, die er an diesem Hobby liebt, Momente, in denen sein besonderes Können gefragt ist. Er muss jetzt nicht mehr suchen. Alle Rätsel sind gelöst. Er ist kurz vor dem Ziel. Er entspannt sich beim Klettern. »Es ist die Heraus forderung an Kopf und Können«, sagt er.

Als Nächstes möchte er gern den Cache auf dem Betonschiff in der Wismarer Bucht lösen. »Ich stelle mir das gut vor. Zuerst musst du da rüber paddeln, dann über die Bordwand klettern und dich drüben wieder abseilen.« Er würde auch gern mal nach Nepal reisen. »Die hohen Berge«, sagt er. »Der K2?« Er schüttelt den Kopf. Keine Extreme. Kein zu großes Risiko. Keine Besessenheit.

Wir finden Heinrich im Keller neben einer Metallkiste mit altem Röntgengerät. Natürlich keineLeiche, kein Skelett. Nur eine Tupperdose mit einem Logbuch drin. Außerdem befinden sich in der Dose ein kleines Spielzeugauto, ein leeres Jojo, ein alter Computerstecker, ein Button mit der Aufschrift »No War« und ein Geo-Coin. Diese Münzen stellen in der Szene einen Sammlerwert dar und werden nicht selten geklaut, weswegen von einigen Coins nur Kopien in Umlauf gegeben werden. Den Besitzer eines Coins kann man anhand der Ziffer über das Internet finden. Die amerikanische Firma www.geocaching.com verkauft die Geo-Coins. Die Hersteller der Münzen müssen an Groundspeak Tantiemen für die Vergabe der Nummern zahlen. Weitere Gewinne erzielt Groundspeak durch die Einnahme aus den Premium-Mitgliedschaften. Premium-Mitglieder zahlen für besondere Service-Leistungen und für die Exklusivität einiger Caches.

Wer war Heinrich? Ein langhaariger Kämpfer für den Frieden? Spielte er Jojo, um sich das Rauchen abzugewöhnen? Liebte er Autos? Wann kaufte er seinen ersten Computer? Barbie & Bruettler, die Erfinder von Heinrich, äußern sich dazu nicht. Das Spiel ist hier zu Ende, die Teile in der Dose sind zufällig. Sie bedeuten nichts.