Rami im Glück mit Bafög

Berliner Zeitung

Ein junger Migrant will Ingenieur werden – genau, was Deutschland braucht. Fast wäre er an dummen Regeln gescheitert

Nur ein einziges Mal hatte Rami das Gefühl, diskriminiert zu sein in Deutschland, weniger Wert als seine Freunde, die hier geboren sind. Das war, als er im letzten Herbst sein Studium begann und erfuhr, dass ihm kein Bafög zusteht.

Rami fand das ungerecht. Nur, weil seine Eltern nicht lange genug in Deutschland gearbeitet hatten. Dabei hatten sie doch von Anfang an arbeiten wollen, aber nicht gedurft.
Seit er zwölfjährig mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester nach Berlin gekommen war, hatte er sich in der Stadt wohl gefühlt. Sofort hatte er Freunde gefunden, Freunde, mit denen er arabisch, Freunde, mit denen er russisch und schließlich Freunde, mit denen er deutsch sprechen konnte, Christopher zum Beispiel. In der Küche von Christopher hatte Rami das erste Mal eine Folienkartoffel mit Würstchen gegessen. Daraufhin hatte er Christopher zu arabischen Reis eingeladen. Von diesem Moment an, da sie sich vergewissert hatten, dass man sowohl deutsches als auch arabisches Essen genießen kann, trennte sie nichts mehr.

Rami ist in Donezk, in der Ukraine geboren. Sein Vater, ein Palästinenser, war zum Studium nach Donezk gekommen und hatte dort seine zukünftige Frau, eine Ukrainerin kennengelernt. Rami hat die großen Augen, die vollen Lippen und das dunkle, glatte Haar seiner Mutter.
Davor hatte die Familie in Libyen gelebt, wo der Vater nach dem Studium eine Anstellung als Arzt bekommen hatte. 1995 musste die Familie sich schnell ein neues Zuhause suchen. Die libysche Regierung ordnete an, dass alle Palästinenser das Land zu verlassen hätten. Es war eine Reaktion auf das erweiterte Autonomieabkommen zwischen Israelis und Palästinensern. Die Familie hatte in Deutschland einige Verwandte. Daher beschlossen Ramis Eltern, hierher zu kommen.

Irgendwann, als er schon fast erwachsen war, hatte Rami im Bücherkarton seiner Mutter ein Buch des Amerikaners Paul C. Bragg gefunden. Bragg schreibt, dass ein Mensch einhundertzwanzig Jahre alt werden kann, wenn er gesund isst, Sport treibt, ausreichend schläft und darauf achtet, immer ein zufriedenes Herz zu wahren. Rami beschloss, das auszuprobieren.

An jenem Tag, als er erfuhr, dass er niemals Bafög bekommen wird, stand sein Ziel, das Alter von einhundertzwanzig Jahren zu erreichen, ernsthaft auf dem Spiel. Der amerikanische Gesundheits-Guru hält Traurigkeit und Wut für ebenso schädlich wie Alkohol und Nikotin.

Deshalb verkniff sich Rami die Trauer und die Wut über diese Ungerechtigkeit wie andere Leute sich das zweite Glas Wein oder die dritte Zigarette verkneifen.

Von diesem Tag an erkannte er, dass Traurigkeit eine Art Luxus für Leute ist, die Zeit haben. Das Lernpensum der Hochschule war happig, aber Rami blieb keine Zeit zum Lernen mehr. Er musste einen Job finden, der ihm seinen Lebensunterhalt sicherte, denn seine Eltern hatten nicht das Geld, ihn zu unterstützen. Sie kamen ja selbst kaum über die Runden.

Rami fand Arbeit bei einer Rechtsanwältin. Täglich sortierte er nach den Vorlesungen ihre Papiere, schrieb Briefe, erledigte Anrufe. Zum Lernen blieb ihm oft nur die Nacht. Er musste die Regeln von Paul C. Bragg in zwei weiteren Punkten vernachlässigen. Er fand nicht mehr ausreichend Zeit zu schlafen. Das Sport-Programm fiel ganz aus.

Ungefähr zu der Zeit, als Rami sich für das Studium der Gebäude -, Energie – und Informationstechnik an der Technischen Fachhochschule beworben hatte, war die Nachricht über die ungerechte Behandlung der Migrantenkinder bei der Bundesregierung angekommen. Sie beschlossen, die Sache zu ändern.

Das Gesetz trat im Januar 2008 in Kraft, kurz bevor Rami zu den ersten Prüfungen antreten musste. Die Hälfte der Prüfungen hatte er bereits nach hinten verlegen können. Zu diesem Zeitpunkt hatte er keine Hoffnung, die Regelstudienzeit von drei Jahren einhalten zu können.

Doch Rami ist ein Optimist, jemand, der die Dinge heiter und positiv sieht. Er hat immer gewusst, dass es so ungerecht nicht zugehen darf, nicht hier in Berlin, wo er sich immer als Berliner gefühlt hat. Er wusste es vor dem Sachbearbeiter auf dem Bafög – Amt. Der schaute ihn verdutzt an und ließ sich die Neuigkeit von dem Student aus dem Internet fischen. Auf den Seiten seiner eigenen Behörde.

Mittlerweile hat Rami das Gesundheitsprogramm nach Bragg wieder aufgenommen. Er trinkt Pfefferminztee, schläft, joggt und lernt. Hin und wieder arbeitet er. Er arbeitet im Büro einer Agentur, die ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland vermittelt. Man schätzt dort seine Sprachkenntnisse.

Paul C. Bragg ist übrigens im Alter von ungefähr neunzig Jahren beim Windsurfen in Kalifornien verunglückt. Möglicherweise war er auch erst achtzig Jahre alt. Über sein wahres Alter wird spekuliert. Es heißt, er habe sein Geburtsjahr zugunsten seiner Theorie gefälscht.

„Man hat seine Organe untersucht und festgestellt, dass sie noch so gut in Schuss waren wie die eines Dreißigjährigen“, sagt Rami.
Rami hat Bragg auf russisch gelesen. Seine Mutter muss das Buch noch in der Sowjetunion erworben haben. Sie hat es mit nach Libyen und später nach Deutschland genommen. Es muss ihr also etwas bedeuten. Rami hat nie mit seiner Mutter über das Buch gesprochen. Seine Eltern haben andere Sorgen. Die Ausländerbehörde zweifelt daran, dass sie für den Lebensunterhalt der Familie sorgen können. Sie warten noch immer auf eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung.

Rami glaubt, dass er jetzt eine bekommen wird. Eigentlich hätte er sie bereits am 1. Juli in Empfang nehmen können, doch wegen des Streiks im öffentlichen Dienst muss er sich noch ein paar Tage gedulden. Es steht außer Frage, dass er hier bleiben will. Er ist hier zu Hause. Sobald er die dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung hat, wird er die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Auch seine Eltern und seine Schwester werden das tun.

„Meine Schwester hat mehr Glück als ich“, sagt Rami. „Sie ist sechs Jahre jünger. Sie ist nur in Deutschland zur Schule gegangen und hat die Sprache von Anfang an gelernt. Sie wird ein sehr gutes Abi machen.“

Rami achtet darauf, dass seine sechzehnjährige Schwester Anna genügend schläft. Er schickt sie jeden Abend um 22 Uhr ins Bett. Schließlich soll auch sie einhundertzwanzig Jahre alt werden, denn allein macht das keinen Spaß.

Was er sich wünscht, jetzt, da er in der Lage ist, das Leben eines ganz normalen Studenten zu führen? Rami fällt lange nichts ein. „Mal wieder ins Theater. Oder essen gehen mit der ganzen Familie.“

Doch jetzt, vor den Prüfungen, spürt er, dass er noch immer an der Last des ersten Semesters trägt. Teilweise fehlt ihm Stoff aus der Zeit, als er einfach nicht zum Lernen kam. Zum Glück kann er einen Teil der Prüfungen nach den Semesterferien absolvieren.
„Ohne Bafög hätte ich das Studium wahrscheinlich nicht geschafft“, sagt Rami. „Selbst wenn man sehr schlau ist und alles schnell lernt, man braucht die Zeit, um Zeichnungen anzufertigen und im Labor zu arbeiten.“

Viele Jugendliche aus Migranten-Haushalten, die in der Vergangenheit kein Bafög beantragen konnten, brachen ihr Studium irgendwann ab. Rami hat Glück gehabt. Aber das war knapp.

Kultur der Mischung

Berliner Zeitung

Isabelle Bruniquet hat afrikanische, asiatische und europäische Wurzeln. Sie weiß nicht recht, wohin sie gehört

Wegen ihres Akzents glaubt man, sie sei Französin. Sie ist schlank. Sie hat hellgrüne Katzenaugen, rotes Haar und Sommersprossen.
Die Schwarzen im Lumumba, ihrem Lieblingsclub in der Karl-Marx-Allee, sagen: „Du bist doch eine von uns. Hast eben nur die falsche Hautfarbe.“

„Es ist mein Dilemma“, sagt Isabelle Bruniquet. „Ich weiß eigentlich selbst nicht, wer ich bin.“

Isabelle Bruniquet ist Kreolin. Vor 39 Jahren wurde sie auf Réunion geboren, einer Insel im Indischen Ozean, achthundert Kilometer östlich von Madagaskar. Ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern wurden ebenfalls auf Réunion geboren. Doch dann verlieren sich die Spuren der Familie auf drei Kontinenten, in Indien, Afrika und Europa.

Isabelle studierte in der Hauptstadt Saint-Denis französische Sprach – und Literaturwissenschaft. Sie liebt die französische Sprache und Literatur. Sie ist froh, dass Réunion politisch zu Europa gehört. Sonst hätte sie, die Tochter einfacher Leute, kaum die Chance zu studieren gehabt.

Sie war noch Studentin, als sie ein interessantes Angebot aus Deutschland bekam. An der Universität Bamberg arbeiteten Sprachwissenschaftler an der Erforschung der Kreolischen Sprachen. Sie erstellten ein Etymologisches Wörterbuch. Und Isabelle sollte dabei sein.

Das ist ihre Chance, die kleine Insel, um die man im Auto in drei, vier Stunden herum fährt, zu verlassen. Sie weiß schon lange, dass sie hier weg möchte, raus in die Welt, zu den Wurzeln ihrer Familie, ihrer Sprache.

Bamberg erschien ihr engherzig und kühl. Aber immerhin verliebte sie sich. In Bamberg kam ihr Sohn Lucien zur Welt. Nach zwei Jahren wurde ihr die Luft in der fränkischen Stadt zu knapp. Mit Mann und ihrem Sohn ging sie nach Berlin und fand Arbeit als Französisch-Lehrerin in einer privaten Sprachschule.

Einmal saß ihr einer ihrer Schüler auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn gegenüber. „Plötzlich sagte er: ‚Ich wusste es! Sie haben afrikanische Füße. Sie kommen aus Afrika’.“

Ein paar Wochen später blätterte die Französischlehrerin im Wartezimmer in einer Zeitschrift und las, dass Anthropologen nach der Länge des zweiten Zehs in griechische und ägyptische Füße unterscheiden.

Isabelle Bruniquet ärgert sich, dass körperliche Nebensächlichkeiten wie Zehenlängen und Hautfarben in Europa ein Thema sind.

Natürlich unterscheidet man auch auf Réunion die Cafres, die Nachkommen der Afrikaner von den Zarabes, den hellhäutigen Indern aus dem Norden und den dunkleren aus dem Süden, den Malbars. Man nennt die Nachkommen der armen Europäer P’tit blancs und die Kinder der Reichen Grand blancs, man spricht von den chinesischen yabs und den französischen Z’oreilles. Wessen Herkunft nicht mehr klar erkennbar ist, der gehört zu den Créoles. Wie Isabelle. Und niemand macht eine große Geschichte daraus, dass sie ein bisschen heller ist und trotz ihrer roten Haare richtig braun wird im Sommer. Was Haut, Haare und Augen angeht, ist auf Réunion, der Name bedeutet Versammlung oder Zusammenkunft, alles möglich.

Bis ins 18. Jahrhundert lebte kein Mensch auf der Insel. Dann kamen gleichzeitig Europäer, Asiaten, Afrikaner, die einen als Plantagenbesitzer, die anderen als ihre Sklaven und Bediensteten.

„Es ist nicht so, dass aus der Mischung eine neue Identität entsteht“, widerspricht Isabelle Bruniquet dem Kulturtheoretiker Edouard Glissant, als er im Französischen Kulturzentrum in Berlin zu Gast ist. Glissant hat eine Vision von der „Kreolisierung“ der Welt, die Theorie, dass sich die Kulturen im Zuge der Globalisierung so weit miteinander vermischen, dass die Identität der Menschen nicht länger aus tief verwurzelten Traditionen und Gebietsansprüchen genährt wird, sondern aus dem Geflecht der Begegnungen und Mischungen. Glissant glaubt, dass daraus neue kulturelle Ausdrucksmöglichkeiten entstehen. Dabei kritisiert er den „Kulturimperialismus“ der Kolonisatoren.
Isabelle sieht die Kolonialmacht Frankreich ambivalent. „Jeder auf Réunion ist froh über das Gesundheits – und Bildungswesen. Ich liebe die französische Kultur. Aber bin ich eine Französin? Nein. Obwohl ich in Berlin fühle, wie französisch ich bin.“

„Nimm dir von allem das Beste“, rät ihr Glissant, doch die rothaarige, weiße Kreolin findet darin keine Antwort. „Das beendet doch nicht diese Quälerei“, sagt sie.

Die Quälerei fing schon in ihrer Kindheit an. Obwohl in ihrem Elternhaus Kreolisch gesprochen wird, verbietet die Mutter Isabelle, draußen, auf der Straße oder in der Schule kreolisch zu sprechen, nicht, weil der Einwanderer-Mix, für den es keine einheitliche Schrift gibt, als offizielle Sprache verboten ist, sondern weil sie sich dafür schämt. „Wer kreolisch spricht, ist ein Depp“, sagt die Mutter. Kreolisch ist nicht die Sprache der Gebildeten. Ende der Siebzigerjahre existiert noch keine kreolische Literatur. Auf kreolisch werden Märchen von Generation zu Generation weiter gegeben. Es ist die Sprache der Sänger und der einfachen Leute, der Arbeiter, der Bauern. Als Isabelle zur Schule geht, publiziert lediglich die kommunistische Zeitung der Insel Artikel auf kreolisch. In den Siebzigerjahren kämpfen einige Intellektuelle dafür, dass die Sprache eine einheitliche Schrift bekommt, die sich möglichst von Französisch unterscheiden sollte. Sie gelten als radikal.

„Es ist meine Sprache“, sagt Isabelle. „Und es waren die Franzosen, die diese Sprache unterdrückt haben.“

Ihre Eltern verstehen bis heute nicht, dass sie sich ernsthaft mit ihrer Muttersprache auseinandersetzt, sie erforscht und sogar an einem Wörterbuch mitgearbeitet hat.

In der Berliner Wohnung von Isabelle stehen Regale voller französischer Literatur, zwischendrin Skulpturen und Instrumente aus Afrika. Sie lernt jetzt afrikanisch trommeln und tanzen. Sie hat sich auf die Suche nach Leuten von Réunion gemacht und tatsächlich einige gefunden. In Berlin sind sie zu dritt, es gibt noch jemanden in Dresden und mehrere im Rheinland. Sie haben den Verein „Reunion der Kulturen“ gegründet, den Verein zur Förderung der Kultur Réunions e.V.

In einer Ecke ihres Zimmers hat sie die Fotos ihrer Familie aufgehängt. Ihr sehr weißer Sohn Lucien neben dem dunklen Großvater. Die indische Urgroßmutter im Kreis ihrer Kinder.

„Auf Réunion“, sagt sie, „lebt man mehr in der Gemeinschaft. Wir lernen von klein auf, die Tabus der anderen zu respektieren. Es gibt jede Religion und eine Menge Aberglauben. Die Kirchen läuten, die Muezine rufen von den Moscheen. Und niemand beschwert sich, wenn er wegen einer religiösen Prozession im Stau steht. Wenn ich früher zu meiner Großmutter gegangen bin, habe ich darauf verzichtet, einen Ledergürtel zu tragen, weil es ihre religiösen Gefühle verletzt hätte. Sie glaubte, dass Kühe heilige Tiere sind.“

Es sieht aus wie ein kleiner Altar für ihre Ahnen, ein Ort der Sehnsucht. Vielleicht brechen Menschen auf und begeben sich an andere Orte, damit ihre Sehnsucht Namen bekommt. Die Namen der verlassenen Orte. Die Namen der Menschen auf den Fotos und den Gräbern.
In den Forts von Senegal, Ghana, Benin und Mosambik, an den Orten, an denen die Gefangenen Afrikas auf Schiffe verladen wurden, endet ihre Identität im Nichts.

Isabelle war erst einmal in Afrika. In Burkina Faso, der Heimat ihres Freundes. „Sie haben mich dort wie eine Einheimische behandelt“, erzählt sie. „Nicht wie eine französische Touristin. Niemand hat versucht, mich übers Ohr zu hauen.“ Sie spricht von der Solidarität der Afrikaner, dem Familiensinn, der ihr näher ist, als die zentrifugalen Ego-Kräfte Europas. Sie denkt, dass sie eher nach Afrika gehört als nach Europa.

Sie möchte dorthin zurück, die sogenannte Sklavenroute abfahren. Sie weiß, dass es unmöglich ist, die Wege der Sklaven nach Réunion nachzuvollziehen, aber sie hat in Erfahrung gebracht, auf welchen Wegen die Bevölkerung verschachert wurde, dass auch Schwarze Schwarze verkauften, die Stärkeren die Schwächeren. Sie hat gehört, dass es eine Route über Südafrika an die Ostküste gab, dass viele der Sklaven auch aus dem Landesinneren kamen, nur weiß keiner, aus welchen Ländern. In Burkina Faso hat sie Leute aus dem Tschad getroffen und Worte aus dem Kreolisch ihrer Heimat aufgespürt, mit derselben Bedeutung. Das ist noch kein Beweis. Es ist nur ein Gefühl, dass ihre Vorfahren möglicherweise von dort…?

„Aber solange ich auch suche“, sagt sie. „Ich werde es nie wissen.“

Die Schrittmacherin

Dagmar Gail kämpft um jeden Zentimeter Mensch

Ihr antiker Schreibtisch ist überladen mit Paragraphen und deren Deutungen, Entwürfen, Lexika, Briefen und Fachzeitschriften. Die Ordner stapeln sich nebenbei auf dem Teppich. Pfeif auf die Papiere. Das Telefon klingelt ununterbrochen an diesem Vormittag.

Eine Frau aus Suhl möchte sterben. Dagmar Gail kennt diesen Wunsch. Sie kann die Frau verstehen. Sie sagt: „Umbringen können Sie sich immer noch. Jetzt gehen wir erst einmal den nächsten Schritt. Das wird nicht einfach. Das wird weh tun. Danach sehen wir weiter.“ Sie schiebt die weißen, kurzen Haare flach aus der Stirn, bis sie ihr zu Berge stehen. Die Augen treten leicht hervor.

An den Wänden Fotos von Kongressen und Empfängen, wieder Briefe, besondere Briefe, Zeichnungen. Medizinische Plakate mit grafischen Darstellungen des menschlichen Gefäßsystems. Die Flüsse und Deltas der Adern. Rotes Blut. Blaues Blut. Blut, das fließt. Blut, das stockt.

Auf dem Empfangstisch für Gäste zwischen Orangen und Schokolade liegt das kleine Modell der Arterie, die sich im Bauch in zwei Arme, besser Beine, teilt und die unteren Extremitäten versorgt. Eine kleine, rote Hose zum Aufklappen. Drinnen wächst Plaque an den Wänden, dick und gelblich wie Zahnbelag. Periphere Arterielle Verschlusskrankheit heißt das und kostet jährlich ungefähr fünfzigtausend Deutschen ein Bein. Das will niemand hören. Das ist das Schlimmste. Lieber sterben als das.

Eine Frau mit kurzen, dunklen Haaren und weißen Perlen am Ohr bringt Kaffee von nebenan. Nadine Borchert ist noch keine dreißig Jahre alt. Sie hat Sozialarbeit studiert. „Wenn ich Freunden erzähle, dass ich für die Amputierten-Initiative arbeite, dann sehen sie mich meist erschreckt an. Ich habe sogar den Eindruck, dass sie ein Stück von mir abrücken.“

Die Dame mit den weißen Haaren hat aufgelegt. Sie wählt sofort die nächste Nummer. „Wenn Sie die Prothesenversorgung ablehnen“, erklärt sie, „wird die Patientin gerichtlich dagegen vorgehen. Ich werde Ihnen Urteile faxen, die Amputierten in der Vergangenheit das Recht auf eine wasserfeste Prothese zugestanden haben. Ich weise Sie darauf hin, dass Richterrecht nicht durch die ökonomischen Interessen der Krankenkassen verworfen wird.“

Vor sechzehn Jahren hat Dagmar Gail die Amputierten-Initiative e.V. in Berlin gegründet. Seit Beginn leitet sie den Verein ehrenamtlich. Die Amputierten-Initiative e.V. hat ihren Sitz in einem modernen Haus zwischen den Villen am Schlachtensee. Es ist der einzige Verein in Deutschland, der sich um die Bedürfnisse Amputierter kümmert und durch Aufklärung Amputationen zu verhindern hilft.

Einst, als sie auf zwei gesunden Beinen im Leben stand, leitete Dagmar Gail eine Künstler – und Konzertagentur. Berühmtheiten wie der Schauspieler Karl-Heinz Böhm waren bei ihr unter Vertrag. Doch als sie ihre zweite Karriere als Juristin aufbauen wollte, sie war Mitte vierzig, begannen die Schmerzen im Bein. Wahnsinnige Schmerzen.

Heute weiß sie, dass die Amputation hätte verhindert, zumindest aber um einige Jahre verzögert werden können. Heute weiß sie alles über Untersuchungen wie ABI, den Knöchel-Arm-Index oder CW-Dopplersonographien und präventive Maßnahmen wie Infusionen und Bypässe.

Damals musste sie die Fehldiagnose auf Gelenkkapselentzündung hinnehmen und falsche Medikamente schlucken, anschließend mehrere Bypass-Operationen über sich ergehen lassen, bis der Unterschenkel doch amputiert wurde.

Dagmar Gail spricht über dringend notwendige Aufklärungsmaßnahmen und Ärzte, die einfache Gefäßuntersuchungen anstellen könnten, es aber nicht tun und über Spezialisten und Gefäßkliniken, mit denen der Verein zusammenarbeitet. Sie spricht ohne Punkt und Komma, immer wieder unterbrochen vom Telefon. Auflegen. Weiter. Als wäre das ihre letzte Gelegenheit, jenes Wissen, das rings um ihren Schreibtisch gestapelt liegt, nach draußen zu geben, auf dass es die Gesunden erreicht. Doch für die Jogger und Nordic-Walker da draußen tönt das Wort Amputation wie ein düsterer Kanonenschlag von längst überwucherten Schlachtfeldern her. Wie jeden Morgen sporteln sie an dem Haus vorbei zum Grunewald.

Allenfalls hat man vom Raucherbein gehört. Ein Wort, dass augenblicklich den nächsten Aufklärungsschwall bei Dagmar Gail auslöst. Eine Schuldzuweisung sei diese Bezeichnung, zumal nicht allein das Rauchen die Ursache des sogenannten Raucherbeins sei, sondern eine Vielzahl anderer Faktoren.

Dann schweigt sie. Sie steht auf und läuft. Sie muss sich auf jeden Schritt konzentrieren. Jeder Schritt schmerzt. Sie steht noch immer mit beiden Beinen im Leben, nur dass es jetzt langsamer vorwärts geht, was normalerweise kein Nachteil sein müsste. Starrer und schmerzhafter als das Bein aus Holz und Draht sind die ökonomischen Zwänge der Gesellschaft, die mehr und mehr von Eng – und Kleindenkern vollstreckt werden. Wieso sie sich für einen Mann engagiere, der dem Krankenhaus täglich fünftausend Euro koste?, herrschte sie kürzlich ein Arzt aus Dresden an. Und der außerdem sein Leben lang geraucht habe.

„Das Ziel unserer Arbeit ist, Beine und Arme zu retten“, sagt sie, als sie den kleinen Gästetisch erreicht und Platz genommen hat. „Die meisten Amputationen könnten nämlich verhindert werden, wenn man rechtzeitig untersuchen und präventive Maßnahmen einleiten würde.“

Betroffenen will der Verein helfen, auf die Ersatz-Beine zu kommen, Schritt für Schritt ein verändertes Leben zu erlernen, einen neuen Sinn zu begreifen. Die Amputierten-Initiative vermittelt an Geh-Schulen, Psychologen, Physiotherapeuten und andere Spezialisten sowie an Gefäß-Kliniken, die sich um den Erhalt des gesunden Beines bemühen.

„Wissen Sie, was das beste Erlebnis für den zwölfjährigen rumänischen Jungen war, der bei einem Unfall beide Beine verloren und jahrelang nur im Rollstuhl gesessen hatte? Als er mit den Prothesen laufen konnte, dieser Moment, als er endlich ohne Begleitperson zur Toilette gehen konnte, hat ihm ein neues Selbstbewusstsein gegeben.“

Mehr als eintausend Anfragen gehen pro Jahr bei der Amputierten-Initiative ein. Dagmar Gail weiß, welche Hilfsmittel es gibt und steht den Betroffenen zur Seite, wenn sie um ihre Rechte kämpfen müssen. Sie akzeptiert nicht, dass die Mitglieder gesetzlicher Krankenkassen zunehmend von den Errungenschaften des medizinischen Fortschritts ausgeschlossen werden. Dafür legt sie sich mit Krankenkassen und Oberärzten an.

Da ist die Sechsundziebzigjährige, die morgens sieben Uhr von einer Gutachterin aus dem Bett geklingelt wird. Unangemeldet. Sie wolle sich ein Bild machen, wie die Patientin mit ihrer Morgentoilette zurecht käme.

„Haben Sie keine Fantasie?“, schimpft Dagmar Gail in den altmodischen, weißen Hörer. Ihre Augen treten noch ein Stück weiter aus den Höhlen. „Können Sie sich nicht vorstellen, wie eine ältere Dame mit einem Bein morgens aufsteht und zur Toilette und ins Bad geht?“

Mit Spardruck von oben redet sich die Sachbearbeiterin der Krankenkasse am anderen Ende heraus. Man müsse Maßnahmen zur Prüfung der Fälle abrechnen.

„Wir fühlen uns mehr und mehr abgeschoben, in eine Ecke gedrängt“, sagt Dagmar Gail. „Und jetzt ist der Bart ganz ab.“

Gestern abend habe sie den Entwurf des neuen Hilfsmittelverzeichnisses von den Spitzenverbänden der Krankenkassen bekommen und noch in der Nacht überflogen. „Ich bin zusammen gebrochen“, sagt sie. Man glaubt es der ungemütlichen Fünfundsechzigjährigen nicht so recht, dass auch sie, deren Ehrenamt darin besteht, permanent zu nerven, zusammenbrechen könnte. Bereits heute hat sie ihre Wut gebündelt und sämtliche Einsprüche in einem Brief formuliert.

In dem neuen Verzeichnis finden sich Sätze wie der folgende: „Das Wirtschaftlichkeitsgebot schließt eine Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenkasse für solche Produkte aus, deren Gebrauchsvorteile nicht die Funktionalität, sondern in erster Linie die Bequemlichkeit und den Komfort betreffen.“ Doch wer legt fest, wo Funktionalität aufhört und Bequemlichkeit anfängt? Wer darf sich anmaßen, über die Lebensqualität eines anderen zu entscheiden? „Respektlosigkeit gegenüber dem demokratischen System der Bundesrepublik Deutschland“, wirft Dagmar Gail den Spitzenverbänden vor.

Dagmar Gail referiert regelmäßig auf Fachkongressen. Nadine Borchert, die junge Sozialarbeiterin, hielt in diesem Jahr ihr erstes Referat zur psychosozialen Bewältigung nach Amputationen auf dem Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie.

Richard von Weizsäcker schickt regelmäßig aufmunternde Worte. Der Verein erhält Briefe wie jenen von Professor Diehm aus dem Klinikum Karlsbad-Langensteinbach: „Im übrigen sehe ich überall die Spuren Ihrer Arbeit. Ich kann Sie dafür nur beglückwünschen. Sie bewerkstelligen politisch mehr als viele große andere Organisationen.“ Schöne Worte, doch die Vereinskasse füllen sie nicht.

Draußen joggen die Gesunden vorbei. Der Computer an ihrem Knöchel mißt Puls, Herzfrequenz und Energieverbrauch. Dagmar Gail fühlt sich immer häufiger am Ende ihrer Kraft. Sie zweifelt, ob ihre kleine Widerstandszelle ausreicht, immer und immer wieder gegen die Ausgrenzung derer, die nicht mehr effizient funktionieren, anzukämpfen.

Wie lange sie den Verein noch halten, wovon sie ihre junge Mitstreiterin Nadine Borchert in den nächsten Jahren bezahlen soll, das weiß sie noch nicht.

Das Herz, das nicht leuchtet

Berliner Zeitung

Christopher sucht die Liebe und läuft vor ihr davon. Könnte ja das Ende der Kindheit sein

Noch eine letzte Diode, dann ist die zierliche Kette komplett. Christopher setzt den Lötkolben ab. Er montiert die zwei Hälften des Leuchtbuchstaben zusammen. Es ist ein rosa S. Sein Auftraggeber möchte es einer Freundin zum Geburtstag schenken. Es ist der Anfangsbuchstabe ihres Namens. Sarah? Selma? Samantha?

Christopher schiebt eine Haarsträhne, die sich aus seinem dunklen Pferdeschwanz gelöst hat, hinters Ohr.

Gestern stand seine Annonce wieder in der Zeitung. Bis jetzt hat sich noch niemand gemeldet.

Die Zeit vergeht schnell. Die Jahreszahlen klappern hintereinander weg und nichts geschieht.

Man kann ganz gut allein leben in Berlin. Tut nicht weh. Es gibt Cafés, Clubs, Läden und immer was spannendes im Radio. Trotzdem. Nee, es geht ihm um viel mehr als Sex. Sex kann er an jeder Ecke kaufen. „Ich hätte ein so beschissenes Gefühl, dafür bezahlen zu müssen“, sagt Christopher. „Als ob ich so häßlich bin, dass ich es nicht auch anders haben kann.“

Ist schon ziemlich lange her, dass er Lust hatte, einer Frau das Wort ENGEL aus naturweißem, mattem Plastik auf seinem CNC-Bohrer zu schneiden und anschließend zum Leuchten zu bringen. Dabei ist alles da: Dioden, Kabel. Die Folienrollen und Kunstoffplatten in frischen Farben stapeln sich an den Wänden seiner Werkstatt. Es kann also los gehen. Doch Christophers Herz bleibt ausgeknipst.

Er schlägt das rosa S in Seidenpapier und packt es in einen kleinen Karton. Werbeschilder, Leuchtbuchstaben und – Tafeln – die Aufträge reißen nicht ab. Sie kommen aus ganz Deutschland. Meist von Firmen. Über die Breite zweier unbenutzter Sessel liegt ein halbfertiges Ladenschild. Christopher hebt es auf den Arbeitstisch zwischen die Computer.

Die Frauen, die auf seine Annonce schreiben, schicken gewöhnlich zuerst eine SMS. Er antwortet umgehend. Dann folgt eine weitere SMS. „Dieses Scheiß-Gesimse nervt“, sagt er. „Was soll ich mit einer Frau, die keine Lust hat, mit einem Typen zu reden?“ Einmal hat eine Frau sofort angerufen. Sie haben sich gut verstanden. Sie wollte ihn noch am selben Abend treffen. Christopher ist wieder raus aus dem Bett und losgezogen. „Naja, war nicht so mein Typ.“

Die meisten Frauen langweilen ihn. „Die gehen jeden Tag ins Büro, einmal in der Woche ins Kino, aber eigentlich interessiert sie nichts. Außerdem sind sie gekleidet, als sei es ihnen egal, was sie früh aus dem Schrank zerren. Kein bißchen sexy. Keinen Mut aufzufallen.“

Christopher sticht auch nicht gerade durch Originalität ins Auge. Sweatshirt, Jeans, Stiefel – alles in schwarz. „Ok, das ist jetzt mein Alltagslook, aber wenn ich in einen Club wie das K17 gehe, trage ich schon mal ein Lackhemd.“

In die Gothic-Läden geht er kaum noch. „Da sind doch nur Leute, die sich über ihre Klamotten und Musik definieren, im Grunde auch Spießer.“

Wichtiger findet Christopher, miteinander reden zu können, über die vielen Themen, die ihn beschäftigen: Kultur im weitesten Sinne, nicht die Theater und Museen, sondern die Straße, die Leute, gesellschaftliche Phänomene, Liebe natürlich. Er möchte Radio machen, so rotzig frech wie Thommy Wash, sein Lieblingsmoderator auf Fritz, eine Sendung wie BlueMoon, wo alle anrufen können, reden, diskutieren, lästern. Radio im Web.

Er hält sich für schräg, provokant, zu wenig angepasst. Bei der Zielgruppe käme das nicht gut an. Auch optisch entspreche er eben nicht dem Geschmack der Masse.

Seine Lippen sind schmal, kein Kussmund wie aus der Werbung und auch sonst ist er nicht gerade ein Alphatier, ein normaler Mann also, nicht schöner und nicht weniger sexy als sieben Achtel aller Berliner. Er ist groß und schlank, die vollen Haare sind frisch gewaschen, die Cowboystiefel geputzt. Er ist bereit.

Seine Traumfrau sollte auf keinen Fall älter als dreißig Jahre alt sein, schön und schlank, stilvoll und gebildet. „Warst du jemals in einer Partnerbörse im Internet? Wenn du siehst, wie oft Frauen unter dreißig angeklickt werden, kannst du als Typ nur noch einpacken. Du musst eine junge Frau sein. Dann wirst du überall angemacht.“

Zu spät, sich auf die Seite der Zielgruppe zu stehlen und eine junge Frau zu werden. Christopher ist dreiundvierzig Jahre alt. In der Annonce mogelt er sich jünger. Glaubhaft. Die Geste, mit der er das volle, schwarze Haar aus dem Gesicht wirft, gerät so unbeschwert wie vor zwanzig Jahren.

Er glaubt, dass eine Frau seines Alters nicht zu ihm passt. „Die haben doch längst das ganze Programm hinter sich: Scheidungen, Streit um die Kinder und den Unterhalt.“ Er verzieht leicht angewidert den Mund. „Die tolle Ausstrahlung ist dann weg. Das erste Leben, in dem alles unkompliziert und lustig war, ist ein für allemal vorbei. An dem Spruch: ‚Trau keinem über dreißig‘ ist schon was dran.“

Er selbst ist die Ausnahme. Logisch. Er hat das Programm ja noch nicht einmal in Ansätzen absolviert. Keine seiner Beziehungen hielt länger als ein Vierteljahr. Was dauerhaftes wäre beengend. Es würde nach der Normalität des Programms stinken, das Pippi-Langstrumpf-Gefühl gefährden. „Ich baue mir die Welt, wie sie mir gefällt“, zitiert er. Seine Augen blitzen kindlich.

Der Balkon vor seiner Werkstatt ist ungenutzt, die dünne Schneedecke verharscht. Er geht da nicht raus, guckt den anderen nicht in die Zimmer -er würde entdecken, dass es bei den meisten Singles ganz ähnlich aussieht- er döst nicht über die Dächer, träumt nicht einfach so ins Blaue, etwas Neues, eine Frau in seinem Alter beispielsweise, die sich locker jünger mogeln kann und das Programm noch nicht hinter sich hat.

Er bleibt über die Leuchtbotschaften auf den Schildern gebeugt, schneidet, bohrt, lötet und grübelt sich die Welt, wie sie ihm nicht gefällt.

Das Problem sei, dass sie ihn manchmal für einen großen Jungen hielten. Und wenn sie dann miteinander ausgingen und erlebten, wie schräg und provokant er wirklich drauf sei, dann war’s das eben. „Habe schon öfters gehört, ich sei verletzend.“

Er trifft durchaus spannende Frauen. „Begegnungen, bei denen sofort ein Funke überspringt, ein Wort das andere gibt, wo alles stimmt, ohne dass man sich groß anstrengen muss.“

Es ist noch gar nicht lange her, dass er in einem Club eine Gleichgesinnte kennengelernte, eine von diesen Frauen, die sich nirgends langweilen. Nennen wir sie Lisa. Lisa ist vierunddreißig, aber alle halten sie für fünfundzwanzig. Sie tanzen die ganze Nacht. Lisa sagt, dass sie ihn unbedingt wiedersehen möchte. Am nächsten Tag bestätigt sie es in einer SMS: „Lass uns einen Kaffee trinken, sobald ich wieder in Berlin bin.“

Lisa ist dann nach Thüringen gefahren. Nicht für ein Semester nach New York, auch nicht zu einem Praktikum nach Melbourne. Einen Moment lang blickt Christopher, als hätte er das ganze Programm längst hinter sich. Egal, ob Lisa eine Tante besucht hat oder auf dem Rennsteig wandern ging, die Reise nach Thüringen bestätigt wieder mal das Naturgesetz, dass schöne, sympathische Frauen jede andere Beschäftigung einem Rendezvous mit ihm vorziehen würden. So hat er es festgelegt. Da kann sie funken, solange sie will, er ruft nicht zurück.

Aus Angst vor Enttäuschung? „Habe nicht so gute Erfahrungen mit anrufen gemacht.“ Christopher springt schnell zum nächsten Thema. Könnte ja sein, dass der Gefühlssturm der unerfüllten Erwartungen und verletzten Gefühle wieder losbricht, wenn Mann es sich gerade gemütlich machen will. Frauen sind unberechenbar.

Er trudelt in seinem Schreibtischstuhl hin und her. Über seinem Kopf hängt in lila Leuchtbuchstaben das Wort: SALE.

Christopher hat niemals einen Beruf gelernt. Das Abi schmiss er kurz vor den Prüfungen. Danach machte er sich als Siebdrucker selbständig. Er flüchtete aus seinem Heimatort in Hessen nach Berlin, weil die Jungs in der Vier-Mächte-Stadt vom Wehrdienst befreit waren. In Berlin führt er ein Fotosatzstudio, nach der digitalen Revolution im Druckgewerbe baute er Möbel und verkaufte sie in einem eigenen Laden. Mit den Werbeschildern hat er vor drei Jahren angefangen.

Alle Handwerke hat er sich selbst beigebracht. Und immer allein gearbeitet. „Man muss sich etwas einfallen lassen, um oben zu bleiben. Ich liebe diese Herausforderung. Ich konkurriere gern mit anderen. Das heizt die Phantasie an. – Ach komm, mit Kunden, das ist doch ganz anders als mit Frauen. Man kann das nicht vergleichen. Das ist so daneben wie diese Verkaufs – und Vermarktungsseminare, bei denen sie den Leuten beibringen, sich zu verbiegen, um Kohle zu machen. Lieber fahre ich nur ein kleines Auto und bleibe ich selbst.“

Lisa hat wieder eine SMS geschickt. Er öffnet sein Telefon und klickt sich durch die Kurznachrichten bis zu ihrem Gruß. Er hat sofort geantwortet. „Jetzt lass uns endlich wie normale Menschen kommunizieren. Schick mir doch deine Email-Adresse.“ Er hat Lisa eine Mail geschrieben, sie um ein Date gebeten. „Nichts.“ Sein Gesicht gerät zerknirscht. „Ich will mich da nicht investieren. Eigentlich interessiert sie mich nicht mehr. Wenn jemand immer nur SMS schickt…was ist das für eine Art, miteinander umzugehen?“

Letztes Wochenende hat er im Duncker eine Frau getroffen. Sie haben die ganze Nacht gequatscht. Blieb kaum Zeit für ein zweites Bier. Am Ende sagte sie, dass sie einen Freund hat.

Noch in derselben Nacht hat er ihren Namen in eine Internet-Suchmaschine getippt und ihre Firma mit sämtlichen Telefonnummern gefunden. Er wisse ja, dass er sich von der Sache mit dem Freund nicht abschrecken lassen sollte. Schließlich sei sie allein tanzen gegangen. Vielleicht läuft zwischen den beiden gar nichts mehr. Einen Versuch wäre es wert.

„Ich glaube allerdings, ihr Typ hängt mit in der Firma drin. Was soll ich am Telefon sagen, wenn er rangeht?“

Christopher blickt verunsichert auf das Telefon in seiner Hand. Er wendet es hin und her wie ein heißes Brötchen. „Ich werde ihr eine SMS schicken. Nur ein einziges Wort: Duncker.“

Der Engel an seiner Seite

Edgar Andrés Chauta ist ein besonderer Weihnachtsmann. Er ist niemals ohne seinen Engel unterwegs.

Jeder Weihnachtsmann verdient pro Bescherung achtundzwanzig Euro Cash. Väter und Mütter zahlen das, ohne mit der Wimper zu zucken. Bei den Engeln hingegen fangen sie an zu knausern.

In der Heiligen Rush-Hour 2007 klingeln fast vierhundert Weihnachtsmänner durch die Berliner Wohnstuben. Aber nur 35 Engel haben einen Job an ihrer Seite.

Edgar redet sich den Mund fusselig. „Ein Engel hat eigentlich viel mehr Gesprächsthemen mit den Kindern, wissen Sie. Weil Engel nämlich das ganze Jahr lang arbeiten, wir Weihnachtsmänner dagegen nur im Winter.“
Einige Eltern lassen sich überreden, buchen seinen Engel und zahlen zähneknirschend das Doppelte. Andere sparen am falschen Platz. Den Engel Lena bekommen sie trotzdem gratis dazu. So ungerecht läuft das Christfest in Berlin ab.
Aber was bleibt Edgar übrig? Ohne Lena macht er sich nicht auf den Weg. Sie chauffiert ihn im eigenen Wagen durch die Nacht. „Ich habe keinen Führerschein“, sagt Edgar. Außerdem hilft ihm Lena, die Säcke mit den Geschenken zu tragen. „Du glaubst ja nicht, wie schwer die manchmal sind!“ Die Geste demonstriert zirka das Zweifache seines Körperumfangs. Edgar ist nicht sehr groß und ziemlich schlank. Damit sein weihnachtlicher Auftritt an Gewicht gewinnt, stopft er sich mit Jacken und wattierten Hosen aus. So verpackt schwitzt er in der wabernden Hitze der Kerzen, dass der Schweiß ihm die helle Schminke über seinen Brauen weg zu spülen droht.

Einmal ist es geschehen, dass ihm ein Dreijähriger an den Bart ging. Der Junge wollte wissen, wieso dem Weihnachtsmann am Kinn weiße, über den Augen aber schwarze Haare wachsen. Vater, Mutter und Oma sprangen sofort schützend vor Edgar. Lena verkroch sich prustend hinter den ausgestopften Schultern des Weihnachtsmannes.
Das ist zum Glück nur ein einziges Mal passiert, ganz am Anfang.

Wie man in Deutschland ein erfolgreicher Weihnachtsmann wird, hat Edgar von seinem Bruder Jorge gelernt. Jorge war einige Jahre vor ihm zum Studium der Politikwissenschaften von Bogotá nach Berlin gegangen. Jorge schenkte seinem kleinen Bruder einen roten Plüschmantel und einen weißen Bart und ließ ihn bei den Bescherungen assistieren.
Lena, sie hatte gerade mit dem Studium der Sozialwissenschaften begonnen, war damals wie Edgar neu auf dem Markt.
Als Edgar seinen Sprachkurs beendet und gelernt hatte, sich die Augenbrauen wasserfest zu überschminken, ging Jorge nach Australien und überließ seinem kleinen Bruder das Geschäft. Dass ein Engel an die Seite des Weihnachtsmannes gehört, hat er natürlich auch von Jorge gelernt.

Jetzt ist Edgar sechsundzwanzig Jahre alt. Er ist gerade im Hauptstudium der Politikwissenschaften angekommen.
Er sagt, dass sein Vater verärgert sei, weil das Studium der beiden Jungen so lange dauert. „Seht mich an“, sagte er letzten Sommer, als Jorge und Edgar die Eltern in Bogotá besucht hatten. „Wie weit ich es gebracht habe. In eurem Alter habe ich längst Geld verdient.“ Papa stammt aus einer einfachen Bauernfamilie und hat als einziges Kind studiert. Er ist Rechtsanwalt geworden. Auch Edgars Mama ist Anwältin.

Edgar steht frierend neben dem Kettenkarussell auf dem Weihnachtsmarkt. „Papa versteht nicht, dass wir erst deutsch lernen und anschließend zum Studienkolleg mussten, weil unser Abitur ja in Deutschland nicht anerkannt wurde. Da waren dann schon drei Jahre weg.“
Er blickt der Lichtgirlande der Gondeln melancholisch nach. Er muss sich nicht so große Sorgen um seinen Lebensunterhalt machen. Mama und Papa überweisen regelmäßig Geld. Im Winter ist der Weihnachtsmann sein einziger Job. Im Sommer arbeitet er hin und wieder in einem Café oder verteilt Werbeflyer.
Edgar kennt andere Weihnachtsmänner, die hart arbeiten, um ihr Studium zu finanzieren. Sie ackern am Fließband in einer Fabrik, in Läden und Kneipen oder stehen als Werbeplakate auf der Straße. Auch im Winter. Sie sind auf jeden Auftrag angewiesen und können sich keinen schlecht bezahlten Engel an ihrer Seite leisten, mit dem sie den Erlös und die Süßigkeiten fifty-fifty teilen, wie er und Lena.
Wenn Edgar nach den Bescherungen mit Lena ins vorgeheizte Auto plumpst, sich den Bart abreißt und sie Lebkuchen mampfen, ahnt er, dass ein Engel einen gewissen Luxus bedeutet.

In diesem Jahr hätte Edgar sogar einen zweiten Engel haben können. Seine zwölfjährige Tochter Maria-Camilla. Maria-Camilla verbringt ihre Weihnachtsferien in Berlin. Sie brannte darauf, Edgar und Lena zu begleiten. Edgar musste ihr erklären, dass er Ärger mit dem Oberweihnachtsmann bekommt, wenn er sein Team eigenmächtig aufstockt. Es sei eben eine Frage der Versicherungen und Verträge, erklärte er ihr. Weihnachtsmann sei eine ernsthafte Arbeit, so ähnlich wie Rechtsanwalt.
Wenn Egar über die Zeit spricht, als seine Schul-Freundin mit Maria-Camilla schwanger war, wird sein melancholischer Blick unsicher. Hat eine Menge Ärger gegeben damals. Sie waren ja gerade erst vierzehn Jahre alt.
Maria-Camilla lebt abwechselnd bei ihrer Mutter und bei Edgars Eltern. Mama und Papa zahlen die teure katholische Privatschule für ihre Enkelin. Edgar würde gern, dass Maria-Camilla zu ihm nach Berlin kommt, aber die deutschen Behörden haben etwas dagegen, weil er von seinem bisschen Weihnachtsmann und Kneipen – Geld nicht richtig für sie sorgen kann.

In diesem Jahr feiern sie alle zusammen kolumbianische Weihnachten, Maria-Camilla, Edgar, sein Engel Lena, seine Schwester, die in Italien lebt und eine Cousine, die in Spanien studiert. Sie treffen sich alle in Berlin. Nur Jorge ist die Reise bis hierher zu teuer. Mama und Papa auch.
„In Kolumbien beginnt man erst spät am Abend zu feiern“, erzählt Edgar. „Nicht vor einundzwanzig Uhr. Eine Stunde vor Mitternacht ißt die Familie zusammen und dann wird bis in die Morgenstunden gefeiert. In Bogotá findet jedes Jahr zu Weihnachten ein großes Feuerwerk statt.“
Geschenke sind nicht so wichtig. Edgar legt Wert darauf, dass Maria-Camilla das versteht. „Hauptsache, wir sind alle zusammen.“