Held der Arbeit

Berliner Zeitung

In Wieland Giebels Buchladen Berlinstory werden nicht nur die Kunden glücklich – sondern auch die Angestellten


Die Berlinstory Unter den Linden 26 ist keine schöne Buchhandlung. Wahrscheinlich ist sie die hässlichste der Stadt. Gleich am Eingang quellen dem Besucher Ampelmännchen und T-Shirts mit Bärennasen entgegen, gefolgt von Nofretete- und Friedrich – Büsten aus Marmorstaub und Alabastergips, in diesem Jahr auch Luisen in allen Größen, gleich neben den Trabis. Es folgen mehrere Stapel dünner Broschüren mit teilweise dünnen Informationen über die Geschichte Berlins. Der Verkaufsschlager „Die Berliner Mauer 1961-1989“, ein Heft mit knapp erläuterten Fotografien aus dem Landesarchiv Berlin, erhältlich in 10 Sprachen, ist zu einem dicken Klotz vom Boden bis in Brusthöhe gestapelt. 9,80 Euro – Geschichte light für den Easy-Jetter.

Die erste Irritation geht von der Kassiererin aus. Obwohl ziemlich viel los ist, bleibt sie freundlich. Ihre Freundlichkeit ist weder angestrengt noch laut, sondern natürlich. Befinden wir uns wirklich in einem Touristenladen Unter den Linden? Kein Zweifel.

In den Sommermonaten ist jedes zweite verkaufte Buch ein fremdsprachiges. Der Tourist wird an den Bücherstapeln zur Linken entlang in das Café verführt. Berliner schweifen nach rechts zu den Büchertischen und Regalen. Dort differenziert und vertieft sich der Blick auf Berlin. Es geht um einzelne Bezirke und kulturelle Ereignisse. Das Angebot ist nach geschichtlichen Epochen und Sonderthemen wie Küche, Krimis und Kinderbücher sortiert. Der Blick einer älteren Dame fliegt hastig über die Neuerscheinungen zu den Hohenzollern. „Hab ich schon…hab ich auch schon“, raunt sie ihrer Begleiterin zu. „Ich gehe hier nicht ohne was raus.“ Ihr Blick bleibt an dem Bildband „Der grüne Fürst“ hängen, streift die Potsdamer Pomologischen Studien und die Friedhofs-Reihe der Edition Luisenstadt. In einem unteren Fach entdeckt sie ein vergessenes Bändchen „Wilhelm II. in Doorn“, Staub wirbelt auf, als sie danach greift. Sie blättert eine Seite auf, wirft es zurück.

Wieland Giebel, der Gründer und Inhaber der Berlinstory, steht hinten am Tresen, hinter dem seine Buchhändler recherchieren und Bestellungen abwickeln. Er ist groß und schlank. Mühelos überblickt er sein Geschäft. Sein kurzes, drahtiges Haar ist weiß. Giebel ist sechzig Jahre alt. Er blickt in seinen Laden, als denke er darüber nach, wieder zu gehen. Den cognacfarbenen Lederblouson hat er noch nicht abgelegt.

„Die Kassiererin heißt Susanne Roder“, sagt Wieland Giebel, der Gründer und Inhaber der Berlinstory. „Sie hat ein rotes Rennrad, das nicht draußen stehen darf, weil es ein ganz besonderes Rad ist. Deshalb müssen wir jeden Tag einen Platz hier drin finden.“ Giebel klingt, als würde er lieber draußen in der Sonne Unter den Linden entlang flanieren, mit Tagebuch und Kamera, seinen ständigen Begleitern, um anschließend bis zum Feierabend an seinem Berlinstory-Blog zu schreiben.

Zu seinem Unternehmen gehören außer der Buchhandlung mit Café ein Theatersalon im Untergeschoss, in dem an fünf Tagen in der Woche gespielt wird und der Berlinstory-Verlag auf der Galerie über seinem Kopf, in dem alle zwei Wochen ein neues Buch erscheint. Im August findet wieder die Historiale statt, Giebels eigenes Geschichts-Festival, mit Kino, Führungen, Vorträgen und einer Party. Thema sind in diesem Jahr die Zwanzigerjahre. Im Oktober eröffnet im Untergeschoss das Berlinstory-Museum. Auf 1.600 Quadratmetern regiert Wieland Giebel über 30 Mitarbeiter. Pro Jahr macht seine Buchhandlung 2,4 Millionen Euro Umsatz. Die Berlinstory hat an jedem Tag des Jahres geöffnet. Und Giebel steht am Tresen und plaudert über das rote Rennrad der Kassiererin.

Giebel sagt, es sei eines seiner wichtigsten Anliegen, dass seine Mitarbeiter zufrieden sind. Er möchte, dass sie ihre Begabungen entwickeln, auch über ihre eigentlichen Arbeitsbereiche hinaus. „Jobenrichment“, sagt Giebel. Nach dem Management-Lexikon von Dr. Kraus und Partner bezeichnet „Jobenrichment“ das Bemühen, die Aufgaben eines Mitarbeiters interessanter und abwechslungsreicher zu gestalten, bzw. den Arbeitsbereich durch qualitativ höherwertige Aufgaben auszuweiten. Aus Giebels Mund klingt dieser Begriff aus der Etage der Menschenverwalter seltsam. Er passt nicht zu ihm. Aber er sagt das Wort gern. Es ist das einzige, das er in einer ihm fremden Welt für sich entdeckt hat und nun wie einen kleinen Schatz vor sich her trägt.

Romy Herzog sieht zufrieden aus. In ihrem schmalen Gesicht scheint alles zum Strahlen angelegt: die großen Augen, die fein gezeichneten, vollen Lippen, die makellosen Zähne. Die 31jährige betreut das Kinderbuch-Sortiment. Sie sagt, es sei ihr Herzenskind. An diesem Montag ist der Tisch ziemlich geplündert. Am Wochenende ist Kinderbuch-Zeit. Großeltern schlendern mit ihren Enkeln Unter den Linden entlang, spendieren ihnen ein Eis und was gutes zum Lesen. Der geschäftsreisende Papa greift in Sonntagslaune noch flugs nach einem Mitbringsel.

Romy Herzog wird oft gefragt, wo man die Mauer noch sehen kann und wo der Führerbunker ist. Manchmal wollen Kunden wissen, ob sie in Ost – oder Westberlin geboren ist. Dann erzählt sie, dass sie in Thüringen aufgewachsen ist, in der DDR. Romy Herzog hat einen vierjährigen Sohn. Nach der Elternzeit wollte die Buchhandlung, in der sie bis dahin gearbeitet hatte, sie nicht weiter beschäftigen. Per Annonce suchte sie eine Teilzeitstelle. Sie erinnert sich an den Anruf von Wieland Giebel: „Er sagte: ‚Sie sind doch sicher Mutter. Wir können Sie gut gebrauchen.“ Nachdem sie ein halbes Jahr Teilzeit gearbeitet hatte, entschloss sich Romy Herzog, wieder voll in ihren Beruf einzusteigen. „Es ist das beste Team, in dem ich je war.“

Über ihre Arbeit an dem Mauerbuch für Kinder spricht sie nicht so gern. Es sei doch maßlos übertrieben, dass sie es lektoriert habe. Lediglich an der Gestaltung habe sie ein bisschen mitgearbeitet. „Die Mauer ist ein schwieriges Thema, gerade für Kinder“, sagt sie. „Dass mir in dem Buch etwas fehlte, hängt vielleicht damit zusammen, dass ich aus der DDR komme. Wenn man die Bücher heute anschaut, ist alles grau, aber meine Erinnerung ist bunt. Ich möchte nicht in Ostalgie fallen, aber auch nicht alles schlecht reden. Ich möchte, dass diese Zeit realistisch dargestellt wird.“

Der Band „Die Mauer war immer ein Schnitt in meinem Herzen“ ist eins von drei Kinderbüchern des Autorenpaares Magdalena und Gunnar Schupelius. Gunnar Schupelius ist Kolumnist und Reporter der Berliner Boulevardzeitung BZ. Vor einer Wand mit dem Memo-Spiel DDR, dem DDR-Quiz und dem DDR-Puzzle, dem Bastelbogen „King of Kebab“ und den „Berlintussen“ zum Ausschneiden und Anziehen, liegen die drei Neuerscheinungen auf einer Palette, je vier kniehohe Stapel der rot gebundenen Luise-Biografie und der blauen Friedrich-Biografie. Auf der anderen Seite acht Stapel des Mauerbuches. „Die Sache mit dem Pioniergeburtstag zum Beispiel.“ Herzog blättert auf Seite 46. „Ich wollte dieses Foto von einem Pioniergeburtstag einfügen, damit klar ist, dass das eine Massenveranstaltung war und nicht eine Geburtstagsfeier, wie die Kinder sie heute kennen.“ Auf Anregung der Kinderbuchhändlerin wurden ein Vorwort und weitere Fotos hinzugefügt und die Illustrationen mit Sprechblasen versehen. Herzog empfahl, den Kindern in einem Infokasten zu sagen, dass man den Luftbrücke-Flughafen Gatow und die Mauergedenkstätte heute noch anschauen kann. „Kinder gehen doch gern auf Entdeckungsreise.“

Im Café der Berlinstory sitzt die Buchhändlerin Antje Werner vor ihrem Laptop. Antje Werner ist 46 Jahre alt, eine zierliche Frau mit Friesellocken. Sie sieht zufrieden aus. Sie hat gerade eine Woche Urlaub in Barcelona hinter sich. In der Berlinstory betreut sie die Sortimente Architektur, regionale Bezirke, das moderne Antiquariat und die Kollektion Buddybären. Heute ist ihr freier Tag, aber sie ist trotzdem gekommen. Sie arbeitet an einem Taschenkalender für 2011. Sie schloss dafür einen Autorenvertrag mit dem Verlag Berlinstory. Wie hoch die Provision ist, die sie pro verkauftes Exemplar erhält, hat sie vergessen. Es sei ihr nicht wichtig. Und ob sie die Überstunden, die sie für den Kalender macht, je abfeiern wird, weiß sie auch noch nicht. Die Arbeit an dem Kalender mache ihr einfach Spaß.

Buchhändlerinnen als Autorin und Lektorin, der Praktikant Arthur aus Hongkong als Übersetzer des Mauer-Buches ins Kantonesische, die zwei Mitarbeiterinnen des Salons, die selbst auch auf der Bühne stehen – was stimmt nicht mit diesem Wieland Giebel, der ausgebildete Buchhändlerinnen fest anstellt, sie auch noch nach Tarif bezahlt und offenbar keine größere Sorge hat, als dass sie sich langweilen könnten?

Giebel sagt, er möge eben gern zufriedene Menschen um sich. Aber würden das nicht auch die vielen Ladeninhaber sagen, die qualifizierte Buchhändler aus Kostengründen durch studentische Hilfskräfte ersetzen? Obwohl in Deutschland kein Buchhandelssterben zu beobachten ist, und sich die Umsätze, zumindest in den vergangenen drei Jahren, auf einem stabilen Niveau halten, nimmt die Zahl der Beschäftigten kontinuierlich ab. Es mag an den gestiegenen Kosten liegen, die nicht mehr vom laufenden Umsatz gedeckt werden können. Vielleicht reizt viele Buchhändler aber auch nur die Einsparung, die durch den Einsatz von 400-Euro-Kräften möglich wird.

An Giebel bewahrheitet sich eine buddhistische Weisheit. Er hat gefunden, was er niemals suchte. Als er einmal eine Ausstellung der Gesellschaft historisches Berlin betreute, deren stellvertretender Vorsitzender er damals war, verkaufte er dort einige Bücher und stellte verwundert fest, dass ihm das Spaß macht. „Das habe ich mir als protestantischer Maoist niemals vorstellen können, dass ich eines Tages etwas verkaufe, Sachen verhökere, unter die Händler gehe, die Jesus aus dem Tempel getrieben hat.“ So kam es 1997 zur Gründung der Buchhandlung Berlinstory. Giebel ist kein Buchhändler. Er hat kein Problem mit dem „Non-Book“, jenem Bereich, der von vielen in der Branche naserümpfend abgelehnt wird: Filme und CDs, auch die Luise-Büsten und Trabis gehören dazu. „Ich habe keine Angst vor Schneekugeln und T-Shirts“, sagt er. Mit dem Non-Book-Bereich bestreitet Giebel die Hälfte seines Umsatzes.

Dieser ganze Touristen-Kram, die ständigen Neuerscheinungen seines Verlages, unter denen sich wirkliche Kleinode finden, neben Flops, die scheinbar unendliche Themenvielfalt der Stadt spiegelt seine Biografie, sein Leben, seine Suche. Der Jurist Giebel arbeitete sechs Jahre als Lagerarbeiter „um die Arbeiterklasse zu mobilisieren“, arbeitete ein Jahr mit Jugendlichen in Nordirland, entwickelte ein landwirtschaftliches Projekt in Ruanda und studierte dafür Ökotrophologie, er schulte sich nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl zum Experten für Niedrigstrahlungen, engagierte sich in der Umweltbewegung, berichtete für das europäische Parlament über die zerstörte Natur in der DDR, gründete den Verlag Elefantenpress, wurde Historiker.

Giebel ist neugierig und weltoffen. Ein bisschen Glück hat er auch. Berlin boomt. Die Zahl der Touristen steigt weiter an. Unter den Linden hat Giebel den Ort gefunden, an dem er sich entspannt in den Yogi-Sitz begeben kann, ein gemütliches Om im Bauch, während Romy Herzog Kinderbücher durch kluge Anmerkungen verbessert und sein Hersteller Norman Bösch die Autoren Berlins mit seiner unkomplizierten Art bezaubert, während die Umsätze in der Lade der freundlichen Kassiererin klingeln -6,8 Prozent Steigerung im letzten Jahr-. Der Exot Giebel wird von den Berliner Buchhändlern mit Respekt bedacht. Wieland Giebel freut sich darüber, aber ein bisschen muss er sich auch rechtfertigen, er kann nicht anders. „Verkaufen hat ja auch damit zu tun, andere zu bereichern.“

Am 28. Juni erhielt das Unternehmen Berlinstory den Preis „Ausgewählter Ort im Land der Ideen.“

Die Frau, die den Rechner zersägt

Berliner Zeitung

Foto: Kathrin Schrader

Datenfälschung, Kontenbetrug, Identitätsklau – die Internet-Kriminalität wächst rasant. Claudia Eckert leitet als Professorin eine Forschungsgruppe, die Gegenstrategien entwickelt, auch mit unkonventionellen Methoden

Garching. Claudia Eckert ist Informatikerin, Professorin und eine Frau von unruhigem Wesen. Man musste sich etwas einfallen lassen, sie zu halten.

Als Claudia Eckert dem Ruf der Technischen Universität München folgte, den neuen Lehrstuhl „Sicherheit in der Informationstechnologie“ einzurichten, bot ihr das Land Bayern gleich noch ein bisschen Geld zum Forschen an.

Nun baut die 50jährige Wissenschaftlerin in Garching bei München bereits die dritte Zweigstelle des Instituts auf, das sie seit 2001 leitet, das Fraunhofer Institut für Sicherheit in der Informationstechnologie (SIT). Hunderte Spezialisten kämpfen hier in Garching, im Darmstädter Stammsitz des Instituts und einer weiteren Außenstelle bei Bonn gegen Trojaner, Würmer und Viren. Geführt von Claudia Eckert suchen sie nach  Fehlern in den Immunsystemen der Rechner.

In den letzten fünf Jahren ist die Zahl der polizeilich gemeldeten Fälle auf dem Gebiet der Informations – und Kommunikationstechnik-Kriminalität um zirka 300 Prozent gestiegen. Allein in Berlin wurden im vergangenen Jahr 22 665 Internet-Betrügereien gemeldet. Die meisten Delikte drehen sich um das Online-Banking. Dabei werden Geheimnummern und Kreditkartendaten ausgespäht. Mit verschiedenen Methoden, immer unter Verwendung von sogenannter Schadsoftware, leiten die Täter Transaktionen um. Die kleinen Programme, Trojaner genannt, sind in der Lage, Empfänger und Beträge zu ändern, dem Absender auf Rückfrage aber dennoch die ursprünglichen Daten zur Bestätigung zu schicken. Immer öfter kommt es auch vor, dass im Internet bestellte und bezahlte Waren nicht geliefert werden.

Das neue Büro von Claudia Eckert befindet sich in einer halbfertigen Business-Welt im Niemandsland an der Bundesstraße von Garching nach Nürnberg. Von ihrem Fenster aus blickt die Professorin auf Baukräne, einen Kreisverkehr mit schlammigen Baggerspuren und einen künstlichen Teich mit immergrünen, rasierten Wiesen.

Sie nimmt die Hände von der Tastatur, dreht sich entspannt in ihrem Stuhl. Hohe Wangenknochen, dunkle Augen, ein natürliches, einfaches Gesicht, ungezupft, ungeschminkt. Sie trägt Bluse, Hose und Blazer, alles in schwarz. Diese Kleidung wirkt an der Wissenschaftlerin wie ein Kompromiss mit der Geschäftswelt, in deren Mitte sie das neue Büro eingerichtet hat.

Das Geld der bayerischen Regierung dient lediglich als Anschubfinanzierung. Künftig muss sich auch diese neue Zweigstelle, wie das gesamte Institut, durch Aufträge aus der Wirtschaft und öffentlich geförderte Forschungsprojekte selbst finanzieren. Professor Eckert und ihre Teams sind dabei nicht konkurrenzlos. Neben dem Fraunhofer Institut bieten private Unternehmen Sicherheits-Prüfungen. Es gibt auch einen TÜV für Netzwerksicherheit.

„Was uns unterscheidet, ist, dass wir so kreativ wie die Hacker selbst arbeiten“, erklärt Professorin Eckert. Ihre Stimme klingt fest. „Wir gucken schräg auf die Probleme, kombinieren Dinge, die zu kombinieren man normalerweise nicht auf die Idee käme. Dadurch werden wir auf viele Sicherheitslücken erst aufmerksam. Das ist ein anderer Stil, als nur formalen Schritten zu folgen, wie Behörden das tun. Wir sägen auch mal einen Computer auf, um an bestimmte Dinge ran zu kommen.“ An dieser Stelle bekommt ihre Stimme einen distanzierten Schliff, als ginge ihr Arbeitsstil eigentlich niemanden etwas an. Vielleicht fürchtet sie, der schräge Blick und die Säge im Schreibtisch könnten die Einrichtung des Instituts beschädigen, das Ansehen der jungen, hochbegabten Mitarbeiter, die in diesen schmucklosen Räumen vor ihren Monitoren tüfteln, Informatiker wie sie selbst, auch Mathematiker, Physiker, Elektrotechniker und Juristen.

Claudia Eckert federt durch die Gänge, nickt ihren Mitarbeitern zu. Und wieder, während sie kurze Absprachen mit ihren Mitarbeitern trifft, passt der schwarze, etwas zu große Blazer nicht zu dem Knistern, das sie spürbar treibt, von Uni zu Institut, von Kongressen zu Messen und zurück, abgesehen von telefonischen Verabredungen und unzähligen Emails, die beantwortet werden müssen. Der Kalender ist voll. Sie brauche das, sagt sie. Sie müsse immer im roten Bereich rotieren. Für den Job mit der Säge bleibt keine Zeit mehr. „Lust habe ich schon, aber das ist unrealistisch, das geschieht höchstens, wenn ich mit einem meiner vielen Doktoranden mal über einem Problem knispele.“ Sie sei mehr eine Wissensmanagerin geworden.

Sie besitzt den Ruf einer hervorragenden Netzwerkerin, organisiert Plattformen, auf denen sich Wissenschaftler und Unternehmen begegnen. Sie referierte auch schon vor Krimi-Autoren. Ihr Thema: Die reale Gefahr des Cyberterrorismus. Die Bombe im Rechner. „Es braucht nur jemand einen kleinen Trojaner auf ihren Rechner pflanzen“, erklärt sie auf dem Weg zum Carl-Linde-Hörsaal der TU München. „Unauffällig, weil sie etwas leger mit ihm umgegangen sind, und schon agiert ihr Computer als Zombie-Rechner mit Millionen anderen in einem sogenannten Botnetz, um, sagen wir mal, den Reaktor eines Kernkraftwerkes zum Schmelzen zu bringen. Botnetze kann man übrigens im Internet mieten. Oder stellen sie sich vor, die Finanzstruktur bricht zusammen. Alles basiert darauf, dass die Börsen online sind, die Transaktionen müssen laufen. Wenn die ihre IT-Dinge nicht mehr abwickeln können, überleben die nicht länger als zwei Tage.“

Im ICE nach München klapperten die Tastaturen noch so leicht. Plötzlich werden die mobilen Netzwerker zu ahnungslosen Lieferanten der gut organisierten, sogenannten Underground Economy, deren Hauptziel es ist, virtuelle Identitäten zu handeln. Die Schad-Software errechnet aus den persönlichen Daten auf Facebook, Xing und Co. in Windeseile mögliche Passwörter. Glaubt man Professor Eckert, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie die richtigen Passwörter finden, extrem hoch, weil die meisten Nutzer leicht durchschaubare Varianten verwenden.

Der Hörsaal an der TU München, wo Claudia Eckert heute ihre Vorlesung hält, ist gut gefüllt. Doch die wenigsten Studenten machen sich Notizen. Einige haben ihren Laptop aufgeklappt, lesen Emails oder surfen im Netz. Ein ständiger Lärmpegel steht im Raum: Kichern und Murmeln. Die Professorin lässt sich von der undisziplinierten Atmosphäre nicht stören. Auf ihrem Tablet-PC rechnet sie Beispiele durch, kringelt Ergebnisse ein, setzt Pfeile. Am Ende der Vorlesung bekommt sie Applaus- für die Aufzählung der Themen, die sie in der Prüfung nicht abfragen wird.

Nur wenige Mädchen haben im Auditorium gesessen. Auch wenn die Frauenbewegung mehr als hundert Jahre alt ist, fragt man sich, wie Claudia Eckert es geschafft hat, in einer Männerwelt wie der Informationstechnik so weit voran zu kommen.

Keine privilegierte Herkunft. Der Vater arbeitete als Vermessungsingenieur in der Stadtplanung, unruhig auch er, begierig darauf, sich auszuprobieren. Die Familie lebte im Ruhrgebiet, in der Schweiz, dann wieder in Deutschland. Die Mutter, eine gelernte Apothekenhelferin, war Hausfrau. Immer hätten die Eltern ihre Begabung unterstützt, sagt Claudia Eckert. Sie und ihre Schwester seien nie klassisch wie Mädchen erzogen worden.

In den Siebzigerjahren hörte die Abiturientin Claudia ihrem Vater gespannt zu, wenn er von seiner Arbeit mit den ersten IBM-Großrechnern berichtete. Sie folgte seinem Rat, nicht Mathematik, ihr Lieblingsfach, zu studieren, sondern Informatik. 1980, während der Promotion, richtete sie an der Seite ihres Professors den Lehrstuhl Informatik in Oldenburg mit ein. Gleich nach der Promotion bekam sie eine Habilitationsstelle in München, übernahm erste Vertretungsprofessuren in anderen Städten.

An diesem Abend fährt sie mit dem Zug nach Darmstadt. Morgen wird sie am Hauptsitz des Instituts eine Aufsichtsratsitzung leiten. „Ich habe niemals eine Zurückweisung erfahren, weil ich eine Frau bin“, sagt sie. „Ab einer gewissen Position versucht immer jemand, ihnen ein Beinchen zu stellen. Das hat nichts damit zu tun, dass ich eine Frau bin. Aber dass ich anfangs extrem unterschätzt worden bin, das hat damit zu tun, dass ich eine Frau bin.“

Sie ärgert sich, dass das Bild der Informatik in der Gesellschaft negativ besetzt ist, noch immer dominiere der Pizza mampfende Freak, der abseits der Welt, in seinem Keller bastele. „Dabei ist die Informatik eine kommunikative Wissenschaft. Man muss häufig mit anderen Menschen arbeiten, man muss sie verstehen, die Lösung so bauen, dass sie damit umgehen können. Man arbeitet immer im Team. Da liegt eigentlich eine Stärke von Frauen, diese Bindegliedfunktion zu haben, und dann trotzdem das technische Verständnis mitzubringen, das Analytische.

Die Zahl der weiblichen Informatik-Studenten nimmt gerade wieder ab. Nach einem Höchststand von zirka zwanzig Prozent vor einigen Jahren ist die Zahl jetzt auf unter zehn Prozent gefallen.

Claudia Eckert kennt Theorien, die das Phänomen zu erklären suchen, dass sich Mädchen weniger für Computertechnik interessieren als Jungen. Unter anderem läge es am Unterricht in den Schulen. Mädchen hätten andere Herangehensweisen an Probleme als Jungen. Während Jungen im Computerkabinett einfach loslegten und ausprobierten, versuchten Mädchen zuerst, das Problem zu durchdringen, zu analysieren und stolperten dann noch bei den ersten Schritten herum während die Jungen schon weiter sind. So kämen die Mädchen leicht zu dem Schluss, dass sie mit Computern nichts anfangen können.

Ihre Karriere kommentiert sie einfach: „Ich hatte Glück.“ Sie erwähnt nicht den guten Studienabschluss, die überzeugende Doktorarbeit, ihre Bereitschaft, für eine Vertretungsprofessur durch das ganze Land zu fahren, viele Jahre, bevor die ICEs zu ihrem bevorzugten Arbeitsort wurden. Sie ist eben gern unterwegs. Und sie verdankt ihre Karriere letztlich auch dem Boom, den ihr Wissenschaftszweig in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Inzwischen ist jeder Mensch auf dieser Welt von funktionierenden Netzwerken abhängig. Die Datensicherheit ist eines der dringendsten Probleme der modernen Gesellschaft geworden.

Auf dem Bahnhof bleibt noch Zeit für eine Tasse Kaffee im Stehen. Die Wissensmanagerin ist längst weiter, in der Zukunft, im Internet der Dinge. „Dieser Kaffeebecher zum Beispiel.“ Sie hebt ihn von dem Bistrotisch hoch, blickt auf den Boden der Tasse, an die Stelle, an der dieser Becher zukünftig mit dem Internet der Dinge verbunden sein wird. „Sie gehen damit zum Automaten. Der Betrag wird gleich von ihrem Konto abgebucht. Diese Daten, die dabei ausgetauscht werden, stellen Sicherheitsprobleme ganz neuer Art. Ich weiß heute, wie ich einzelne Menschen und große Server identifizieren kann. Jetzt muss ich tausende von Bechern identifizieren. Wie soll ich das machen?“ Die Frage wird sie eine Weile beschäftigen.

Doktor Hoffnung

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In Dresden können Gymnasiasten Esperanto lernen, die Plansprache, die die Welt einmal verbinden sollte. Der Lehrer hat den Traum davon noch nicht aufgegeben und hofft, dass seine Schüler den Kurs durchhalten


© Photo: Stephan Pramme

Doktor Benoît Philippe unterrichtet am Bertolt-Brecht-Gymnasium in Dresden Französisch. Er ist nicht zufrieden. Er findet, dass seine Muttersprache für Schüler in Sachsen nicht wichtiger sein sollte als Sorbisch. Oder Suaheli.

Es ist Montagnachmittag. Herr Philippe wartet vor dem Zimmer 104 auf seine Schüler. Seine schwarze Ledertasche trägt er wie einen Schulranzen auf dem Rücken. Der blau-weiß-rote Sticker auf dem Deckel der Tasche ist schon ziemlich abgegriffen. Doktor Benoît Philippe ist jugendlich schlank, sein kurzer Bart tadellos geschnitten. Ein kleiner, blauer Kragen liegt über dem hellen Wollpullover. Er unterscheidet sich in Gelassenheit und Eleganz erheblich von den anderen Lehrern, die durch die Gänge des modernen Gymnasiums eilen.

Felix, Vivien, Sophie und Carolin aus der Achten treffen zuerst ein. „Saluton“, begrüßt Herr Philippe die Schüler. „Saluton“, grüßen sie zurück. Ein paar Minuten später kommen Janek und Pia aus der Siebten. Der Esperanto-Unterricht kann beginnen.

Der Lehrer rückt vier Tische für die kleine Gruppe zusammen. Er schreibt Worte an die Tafel, deren Endungen die Schüler vervollständigen sollen. Das ist einfach, denn in Esperanto endet jedes Substantiv/Einzahl auf „o“ und jedes Adjektiv auf „a“. Deshalb erinnert die Sprache immer ein wenig an spanisch, obwohl ihr Wortschatz aus vielen europäischen Sprachen stammt. „Vi bone lernis“ – du hast das gut gelernt, lobt der Lehrer, als Vivien einen Satz aus den Wörtern bildet. Vivien ist gegen den Willen ihrer Eltern zu den ersten Esperanto-Lektionen gekommen. Ihre Eltern, sie sind beide Lehrer, finden die Sprache sinnlos. So wie Viviens Eltern denken viele: Warum eine Sprache lernen, in der man in keinem Hotel der Welt ein Frühstück aufs Zimmer bestellen kann? Aber Vivien ist neugierig auf die Sprache, von der Herr Philippe sagt, dass sie sich schneller als Englisch und Französisch lernen lässt. Vielleicht taugt sie als Geheimsprache. Felix lernt Esperanto, um in Französisch besser voran zu kommen. Denn ihr Lehrer, Herr Philippe, hat ihnen gesagt, dass Esperanto eine gute Grundlage für jede europäische Sprache ist. Sophie möchte Dolmetscherin werden. Als zweite Weltsprache kann sie sich Esperanto nicht vorstellen. „Ich könnte niemanden im Internet auf Esperanto anquatschen.“  Pia fällt auf in der Gruppe. Sie ist ein Mädchen mit einem blassen Gesicht und großen, braunen Augen, die nachdenklich und distanziert schauen. Zugleich ist sie sehr präsent. Auch sie möchte später einen Beruf haben, in dem sie Sprachen braucht wie ihre Mutter, die kürzlich beruflich in Afrika zu tun hatte. Pia hat sich ihre Gedanken gemacht über Esperanto, die vor allem als gerecht geltende Kunstsprache. „Da kommt ja so viel aus dem Polnischen.“ Das haben vielleicht ihre Eltern behauptet, die kein Esperanto sprechen. Im Esperanto bündeln sich Einflüsse aus allen europäischen Sprachgruppen. Trotzdem sind Pias Bedenken richtig. Für einen jungen Kosmopoliten bleibt es eine ungerechte, weil europäische Sprache. „Englisch ist irgendwie cooler“, sagt Pia.

Doktor Philippe fürchtet, dass die Schüler aufgeben. Der Kurs ist im letzten Jahr von fünfzehn auf sieben Schüler geschrumpft. Zwar haben in seinen Esperanto-Kursen, anders als in den Spanisch – und Italienisch-AGs, immer einige Schüler bis zum darauffolgenden Jahr durchgehalten, weil sie weniger schnell entmutigt waren, aber schließlich haben die Jugendlichen um diese Zeit schon einen langen Schultag hinter sich. Und er darf keine Zensuren geben. Die leichte Kunstsprache hilft den Schülern also nicht einmal, ihren Abi-Durchschnitt zu heben.

In Deutschland ist Esperanto als Schulfach nicht zugelassen. In Großbritannien, Norwegen, Polen, Ungarn, Bulgarien, Italien, Österreich, Bosnien, den USA, China, Neuseeland und vielen weiteren Staaten ist die Plansprache anderen Fremdsprachen gleichgestellt. Dort werden Lehrer für den Esperanto-Unterricht ausgebildet. Benoît Philippe hat 1980 einen Abschluss als Esperanto-Lehrer in Varna gemacht.

Esperanto sei zweckmäßig und gerecht, argumentiert er. Er zählt die Erfolge seiner Esperantogruppe auf und hält sie gegen die miserablen Französischkenntnisse der Schüler im Allgemeinen. Französisch stehe nur zur Abschreckung auf dem Lehrplan, damit die Schüler sich für das leichtere Englisch entscheiden, sagt er. Zwei, drei senkrechte Falten bilden sich zwischen seinen blauen Augen auf der sonst glatten Stirn. Dann winkt er ab. „Das ist natürlich Unsinn, aber manchmal habe ich solche Ideen.“

Esperanto ist für diesen Lehrer nicht nur ein Argument. Es ist eine Leidenschaft. Er entdeckte die Sprache als Student in Freiburg, im Disput mit einem Freund, der Philippes zunächst ablehnende Haltung mit den Worten konterte: „Du weißt nicht, wovon du sprichst.“ Das habe ihn überzeugt. Seine Begeisterung wuchs mit dem Lernen. Die Dissertation -er studierte Romanistik und Philologie- schrieb er über die Entwicklung der Plansprache. Sein Professor, ebenfalls ein Romanist, hatte keine Mühe, die Sprachbeispiele zu verstehen. Seit vielen Jahren schreibt Benoît Philippe Gedichte in Esperanto. Er gibt eine Zeitschrift heraus und sammelt Literatur.

„Es hat vielleicht mit meiner Geschichte zu tun, dass ich so offen war für die Idee einer gerechten Sprache“, sagt er. „Meine Familie kommt aus dem Elsass, wo abwechselnd Deutsch und Französisch verboten waren, je nachdem, wer gerade an der Macht war.“ Als sein Großvater in den ersten Weltkrieg zog, verließ er ein deutsches Dorf und kehrte heim in ein französisches. Die Eltern wurden während der Annexion durch Hitler in ihrer Kindheit gezwungen, Deutsch zu sprechen. Nach 1945 war die Sprache der Nazis im Elsass unerwünscht.

Benoît Philippe wurde in Baden-Baden geboren. Er wuchs in einer Siedlung für die französischen Besatzer auf. Sein Vater arbeitete dort als Lehrer. „Wir nannten diese Siedlung ‚das Ghetto’, erzählt er. „Das war kein Frankreich. Das war kein Deutschland. Das war…“ Er schaut sich im Schulhaus nach einem Vergleich um. Sein Blick fällt in den verwahrlosten Lichthof im Zentrum des Gebäudes, gleich neben Zimmer 104. „Das war wie auf dem Mond. Die Militärs und ihre Familien blieben maximal drei Jahre. Ich war neidisch auf meine Mitschüler, weil sie wieder gehen konnten. Sie gingen an Orte, die so wunderbare Namen hatten wie Bordeaux oder Marseille. Wenn wir zu Beginn des Schuljahres die Formulare ausfüllen mussten, deckte ich meinen Geburtsort zu. Ich war der Boche, der schmutzige Deutsche.“

Ludwig Zamenhof, der Erfinder des Esperanto, wurde einhundert Jahre vor Benoît Philippe geboren, im Dezember 1859. Er wuchs in der Stadt Białystok an der Grenze des Russischen Reiches auf. Heute liegt Białystok in Polen. Als Ludwig Zamenhof ein kleiner, jüdischer Junge war, wurde in der Stadt Jiddisch, Polnisch, Russisch, Litauisch und Deutsch gesprochen. Ludwig Zamenhof führte die Feindschaft unter den Völkern auf ihre verschiedenen Sprachen zurück. Zamenhof wurde Augenarzt. Er sprach mehrere Sprachen. Mindestens ein Wörterbuch muss er immer unter seinem Arztkittel versteckt haben, das hebräische, lateinische oder griechische. Er wollte den Sprachen an die Wurzel gehen. 1887 veröffentlichte er unter dem Pseudonym „Doktor Esperanto“ –Esperanto bedeutet „Der Hoffende“ – seinen Entwurf einer Lingvo Internacia. Doktor Esperanto war nicht angetreten, die Sprachen der Völker zu verdrängen, sondern sie zu erhalten. Keine Sprache sollte in ihrer Bedeutung über die andere erhoben werden. Esperanto war als Brücke der Verständigung gedacht. Der jüdische Augenarzt hatte eine politische Bewegung ins Leben gerufen.

Die Idee fand schnell Anhänger. Zeitschriften entstanden, Kongresse wurden organisiert. Dresden hat eine reiche Esperanto-Geschichte. 1908 fand hier der Weltkongress der Esperantisten statt. Die Esperanto-Schriftstellerin Marie Hankel lebte in der Stadt. Heinrich Arnold, Sohn des Kunstmäzen und Bankiers Georg Arnold, an den in Dresden noch heute ein Bad erinnert, engagierte sich für die Verbreitung der Plansprache. Er schrieb das Vorwort für die Esperanto-Ausgabe des Buches „Die Waffen nieder!“ von Bertha von Suttner, mit der er auch befreundet war. Zeitgenossen berichten, dass er auf seiner Strandburg an der Ostsee die grüne Flagge der Bewegung hisste. In den Zwanzigerjahren lernten sogar die Dresdner Polizisten Esperanto, um für den Fremdenverkehr gerüstet zu sein.

Die Nazis verboten die pazifistische Sprache. In der DDR wurden erst wieder Mitte der Sechzigerjahre, nach dem Ende der Stalinzeit, Kurse an Volkshochschulen und in Betrieben angeboten.

Heute ist von dem einstigen Enthusiasmus nichts mehr in der Stadt zu spüren. Es gibt einen Stammtisch und einen Freundeskreis Esperanto, den der Leiter des Dresdner Esperanto-Archivs ins Leben gerufen hat. Zwei Lehrer fallen Benoît Philippe ein, die wie er Esperanto in Dresden und dem Umland unterrichten.

Die Weltsprache ist Esperanto eben nicht geworden. Man schätzt, dass es fünf Millionen Sprecher weltweit gibt, genaue Zahlen sind nicht bekannt. Die Schätzung beruht auf einem Vergleich der Wikipedia-Einträge auf Esperanto mit denen anderer Sprachen.  So betrachtet, liegt Esperanto irgendwo zwischen Dänemark und Litauen. In Litauen leben über drei Millionen, in Dänemark zirka fünf Millionen Menschen. Die aktiveren Esperanto-Gruppen findet man in den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Es sind junge Intellektuelle, die in der Geburtsstadt Zamenhofs den Fernsehsender Bjalistoko Esperanto betreiben.

Esperanto ist heute zu einem Sprachsport geworden, ausgeübt von Sprachbegabten bei regionalen und weltweiten Treffen. Doch was motiviert zum Lernen? Esperanto hat keine Landschaft, kein Haus, kein Lied. Benoît Philippe würde sagen: Esperanto hat alle Landschaften, alle Häuser alle Lieder. Doch das läuft auf dasselbe hinaus. Die Entscheidung für eine Sprache erfolgt aus Notwendigkeit oder Liebe. Es ist heute nicht notwendig, Esperanto zu lernen. Wen oder was lieben Menschen, die sich für Esperanto entscheiden? Eine Idee? Ein Spiel?

Jonne Saleva ist ein Austauschschüler aus Rovaniemi, der Hauptstadt Lapplands. Er ist siebzehn Jahre alt. In seiner Muttersprache spricht man das „o“ in seinem Namen weder kurz noch lang. Man hält das „o“ ein wenig, man schaukelt es wie ein Baby, bis der Name eine kleine, unbekannte Melodie erzeugt, die es sonst in keiner anderen europäischen Sprache gibt. Man muss das üben. Es hilft, sich einen dunklen Wintertag in Lappland dabei vorzustellen. Es hilft, sich ein Haus in das verschneite, flache Land zu denken und darin ein Feuer.

„Es war komisch, allein Esperanto  zu lernen, ohne zu wissen, wofür“, erzählt Jonne. Sein Deutsch hat einen starken sächsischen Einschlag. Er hat die Besonderheiten dieses Dialekts längst analysiert. „In Lappland gibt es nur zwei Leute, die Esperanto sprechen: Mein Lehrer Pekka und ich. Eines Tages rief Pekka an und sagte, dass sein Freund aus Japan da sei. Dieser Japaner sprach nur Japanisch und Esperanto. Es war das erste Mal, dass ich jemanden traf, mit dem ich mich nur auf Esperanto verständigen konnte. Das war großartig.“

Zum zweiten Mal besucht Jonne den Stammtisch der Dresdner Esperantisten. Benoît Philippe organisiert die Treffen im „Neustädter Diechl“, einem Restaurant in der Äußeren Neustadt, dem Szeneviertel Dresdens. Überwiegend ältere Herren sind um die Tafel versammelt. Als Jonne gegen neun Uhr im Gastraum sein Hütchen lüftet und die graue Filzjacke auf das Kanapee wirft, machen sich die ersten Besucher bereits auf den Heimweg.

Die meisten der Akademiker beherrschen wie Jonne zwei oder mehr Sprachen perfekt. Ein stämmiger Lateinlehrer mit dunklen Haaren und breiten Hosenträgern spricht fließend Spanisch, Russisch und Arabisch. Jetzt lernt er Chinesisch und unterrichtet das auch schon an seiner Schule. Sein Tischnachbar hat in der DDR Ökonomie studiert. Seit vielen Jahren ist er arbeitslos. Langeweile hat er nicht. Er übersetzt Computerprogramme ins Nieder – und Obersorbische. „Um die Sprachen zu pflegen“, sagt er.

Ein buntes Hündchen mit spitzer Nase wedelt um den Tisch, wenn wieder ein knuspriges Bauernfrühstück oder ein Schnitzel serviert wird. In dieser Runde passiert es, dass die Männer aus dem Esperanto heraus ins Sächsische fallen. Je weiter sie von Benoît Philippe entfernt sitzen, desto ausgiebiger. Mi krokodilas – ich krokodiliere, sagen Esperantisten, wenn sie miteinander in ihrer Landessprache sprechen. An diesem Abend kämpft Benoît Philippe nicht allein gegen das Krokodilieren. Sein langjähriger Freund Hubert Schweizer, ein Heilpraktiker und altkatholischer Priester, sitzt am anderen Ende des Tisches. Die beiden achten darauf, dass am Tisch nicht wieder von der Aufgabe des Abends abgewichen wird. Doktor Philippe hat eine Liste mit Wörtern vorbereitet, für die es noch keine Entsprechung auf Esperanto gibt, das Wort „piercing“ beispielsweise. „Korpo traboraga“, lautet ein Vorschlag, der durchbohrte Körper, „pikornamo“ ein anderer, Stechschmuck. Man plaudert über die Traditionen des Piercing auf anderen Kontinenten, -es scheint ein spaßiges Thema zu sein- und diskutiert, ob eher das Verb bohren oder pieken zutrifft. Die erarbeiteten Übersetzungs-Vorschläge schickt Benoît Philippe nach Leipzig, an den Herausgeber des Wörterbuch Deutsch-Esperanto, Professor Erich-Dieter Krause. Um die Auflage des Werkes wird ein kleines Geheimnis gemacht. Der Verlag will nur verraten, dass sie irgendwo zwischen 1000 und 3500 Exemplaren liegt. Eine ähnliche Zahl liest man auch über den Weltbund der Esperantisten: 1300 Deutsche sind dort als Mitglieder erfasst.

Am nächsten Montag wartet Doktor Philippe wieder vor Zimmer 104 auf seine Schüler. Jonne steht neben ihm und knetet seinen Hut. Fast alle kommen, um den Gast aus Lappland kennenzulernen: Sophie, Vivien, Felix, Carolin und Janek. Jonne soll etwas über seinen Alltag in Finnland erzählen. Doktor Philippe hat bereits eine Finnland-Karte aus dem Geographie-Kabinett geholt. Pia hat abgesagt. Sie muss zur Orchesterprobe. Sie denkt sowieso darüber nach, die AG aufzugeben. Sie möchte sich stärker auf Englisch konzentrieren.

Einmal Westend und zurück

Berliner Zeitung

Ein einsamer Wissenschaftler, ein reinlicher Botschaftsmitarbeiter, eine enttäuschte Französin – auf der Suche nach einem WG-Zimmer in Berlin macht man jede Menge Bekanntschaften. Aber findet man auch ein Zuhause? 

Es ist in Berlin möglich, von einem Tag auf den anderen umzuziehen. Vorausgesetzt, man reist mit Handgepäck. Transportfirmen sind auf Wochen ausgebucht. Umherziehen ist ein Normalzustand der Berliner. Die Stadt bietet jederzeit teil-, voll – und nichtmöblierte Zimmer, halbe Wohnungen, Gartenlauben, auch komplette Häuser. Katzen und Hunde inklusive.

Eine Wohnung am Falkplatz, im Prenzlauer Berg. Isabelle entschuldigt sich für die DDR-Holzfolie auf den Türen, für die Wände, an denen sich die Anstriche verschiedener Zeiten überlagern, dazwischen weiße Gipsflecke. Mir gefallen die Wände. Sie erinnern mich an alte Buchseiten. Der Balkon im vierten Stock über dem Falkplatz ist überwältigend. Sonne flirrt über die staubigen Dielen und das große Pult am Fenster. Zeichnungen liegen darauf, Skizzen, Bündel weißer Federn, Muscheln, Treibholz und Korallen. Isabelle hat das Pult auf Ziegelsteine gehoben, damit die Arbeitshöhe stimmt. In ihrer Freizeit arbeitet sie hier an ihren Kunstobjekten. Sie ist groß und schlank, eine Frau in den Vierzigern in einem hellen, mit Blumen bestickten Leinenkleid. Sie läuft barfuß.

Eigentlich ist sie raus aus der Wohnung, umgezogen, nach Schöneberg, erzählt sie. Ihre dunkle Stimme klingt melancholisch. Aber sie kann sich von der Gleimstraße noch nicht trennen. Deswegen lasse sie einige Dinge hier. Drei Umzugskisten mit der roten Aufschrift „EBAY“ sind an der Wand aufgestapelt, daneben ein halbes Bücherregal, ein Ofenrohr und ein Buddha aus Holz. Gelegentlich käme sie vorbei, um an ihren Objekten zu arbeiten. Ob mich das stört? Keineswegs. Das Unentschiedene ihrer Wohnung gefällt mir. Es entspricht meiner emotionalen Lage.

Bevor Isabelle zur Nachtschicht in das Archiv eines Fernsehsenders fährt, richten wir uns auf dem Balkon ein. Der Plastiksessel mit dem Schaffell darin passt gerade zwischen die Pflanztöpfe. Magere Halme und Kakteen mit festen Stacheln ragen aus den Töpfen empor. Zwischen den geschwungenen Füßen zweier Terrakotta-Töpfe liegt ein Tierschädel.

Isabelle erzählt von ihrer WG in Schöneberg. In den Achtzigerjahren hat sich schon einmal dort gelebt, in ihrer Zeit als Punk. Sie will wieder politisch aktiver werden, sucht Gleichgesinnte. Aber sie ist enttäuscht. Das Gemeinschaftsgefühl sei nicht mehr dasselbe wie früher. Sie denkt darüber nach, nach Frankreich zurück zu gehen. Sie habe sich in Berlin eh immer fremd gefühlt. Die Staaten wären auch eine Option.

Ich lebe in einer Wohnung am Rosa-Luxemburg-Platz, in einem Haus, dessen Tür ich in den nächsten Wochen hin und wieder öffnen werde, um meine Post aus dem Briefkasten zu nehmen, mit klopfendem Herzen, weil es sein könnte, dass ich auf der Treppe dem Mann begegne, den ich eigentlich noch liebe.

Isabelle fürchtet, die Wohnung bald aufgeben zu müssen, weil die Miete erhöht wird. Ein, zwei Monate reichen mir. Solange wird es dauern, bis ich ein neues Zuhause und einen freien Termin bei einer Transportfirma gefunden habe.

Ich suche in der ganzen Stadt. Manchmal will ich nur wissen, wie es anderswo ist. Zum Beispiel in Westend in Charlottenburg: Die Fassade ist trist, das Treppenhaus dunkel. Ich steige auf einem gepflegten Teppich hinauf in den zweiten Stock. Es ist so still, als wäre das Haus verlassen. Der Wissenschaftler, ein drahtiger Mann in den Fünfzigern, führt mich durch verwinkelte hundert Quadratmeter. Das freie Zimmer hat einen steinernen Balkon nach Westen. Im Arbeitszimmer liegen Zeitschriften über erneuerbare Energien auf dem Fußboden. Der Wissenschaftler arbeitet über die sozialen Aspekte ökologischer Entwicklungen. Über den Ostbalkon betreten wir die Küche mit Möbeln aus den Fünfzigerjahren. Einbauschränke im Flur. Genügend Platz. Der zweite Mitbewohner, ein Maler, ist nicht zu Hause. Die gläserne Schiebetür zum Teesalon ist von innen mit seinen Leinwänden zugestellt. Ich frage den Wissenschaftler nicht, wie lange er schon hier lebt, ob er eine Familie hat, Kinder, warum seine Frau nicht mehr da ist und ob er die große Wohnung einige Jahre allein unterhalten konnte, als er noch eine gut bezahlte Arbeit hatte und wie lange es schon anders ist. Ich möchte ihm nicht zu nahe treten. Als errate er meine Fragen, legt er häufig den Finger auf die Lippen, während ich mir einen Raum anschaue und sagt mit gesenktem Kopf leise „ja“. Dann wieder spricht er mit kindlicher Begeisterung von den Radwegen in den nahen Grunewald.

Herr Hosokawa kündigt in seiner Annonce einen großzügigen Dachgarten im Wedding an. Ich klettere auf einem abgetretenen Kokosläufer hinauf in den fünften Stock. Der Dachgarten ist eher ein großer Balkon, die Pflanzen prächtig. Der Blick geht in die Wohnungen im Hinterhaus und über die Dächer. Hinter einer Reihe Satellitenschüsseln ragt der Fernsehturm empor. Herr Hosokawa serviert grünen Tee in dunklen Keramikschalen. Seinem Untermieter hat er gekündigt, weil er zuviel raucht. Doch zu diesen unangenehmen Dingen kommt er später. Beim Tee erfahre ich, dass er als Mitarbeiter der japanischen Botschaft in der DDR zwischen Ost- und Westberlin hin und her fahren durfte und seiner DDR-Frau und den Kindern alles im Westen kaufen konnte, was immer sie sich wünschten. „Eine schöne Zeit“, sagt Herr Hosokawa wehmütig. Nach Wende und Ehescheidung baute er einen Vertrieb für japanische Waren auf: Zehensocken, Bento-Boxen, Teezubehör…alles, was unter Japan-Fans gefragt ist. Die Finanzkrise ruinierte zuerst seine japanischen Geschäftspartner, dann ihn.

Plötzlich sehne ich mich nach Hause in den Prenzlauer Berg, wo ich die meiste Zeit meines Lebens gewohnt habe. Alle meine Freunde leben dort. Meine ganze Familie. Was auch immer über diesen Bezirk geredet und geschrieben wird, dass er nur noch schick ist und die Spekulanten keinen Raum mehr für Rentner und Arbeitslose lassen; es ist wahr, die Mieten sind meist unverschämt, dennoch leben viele Hartz-IV-Empfänger im Prenzlauer Berg. Sie haben allerdings jede Menge zu tun. Auch die Künstler sind noch da. Und die Rentner sehen hier eben nicht aus wie alte Leute. Sie alle kämpfen um ihr Bleiberecht.

Herr Hosokawa holt Desinfektionsmittel aus dem Bad. Der Teppich im Flur ist durchgetreten, die Tapeten vergilbt. Der Untermieter sitzt auf dem Sofa im Flur, ein junger Mann mit dichten, dunklen Haaren. Er trägt eine schwarze Lederjacke. Die Hände liegen nebeneinander im Schoß, als erwarte er, dass man ihn in Handschellen abführt. Er beobachtet uns wütend mit gesenktem Kopf. Herr Hosokawa sprüht Desinfektionsmittel auf die Klinke, bevor er das Zimmer öffnet und weist mich an, nichts zu berühren. Eine Matratze liegt unter dem Fenster. Kleidungsstücke sind auf dem Boden verstreut. Es stinkt.

Paula und Thomas wohnen jetzt in ihrem Haus in Mecklenburg. Eigentlich. Die Wohnung am Teutoburger Platz in Prenzlauer Berg möchten sie aber nicht aufgeben. Es gäbe auch noch berufliche Verbindungen in die Stadt, die erfordern, dass sie gelegentlich  hier übernachten. Und die Kinder würden hin und wieder ihre alten Freunde in der Großstadt besuchen wollen. Ob uns das stört? Paula ist Kinderbuchautorin, Thomas ein IT-Spezialist. Wir sitzen in der geräumigen Küche, Paula und Thomas, Dilek, meine zukünftige Mitbewohnerin und ich. Alles ist vertraut: Die hohen Räume. Der Kinderlärm vom Platz vor dem Haus. Ringsum Läden, die sich nicht zwischen Café, Spielplatz, Second Hand und Bar entscheiden können.

Ich habe ein neues Zuhause gefunden. Nach zwei Monaten. Man kann mir wirklich nicht vorwerfen, ich sei eine Prenzlauer-Berg-Chauvinistin. Immerhin habe ich auch im Wedding gesucht. Und um Haaresbreite wäre ich nach Westend gezogen.

An einem warmen Septemberabend im Hof erzähle ich meiner Mitbewohnerin Dilek von meiner WG-Suche. Ich halte den Kalender neben das Teelicht, um die Namen und Adressen noch einmal zu lesen. Wie eine Abenteurerin nach der Heimkehr die Stationen ihrer Weltreise auf der Karte absteckt. Ich möchte Dilek eine Ahnung von der Größe dieser Stadt geben. Sie ist Rechtsanwältin, Anfang vierzig und von Neuss nach Berlin gezogen, um noch einmal richtig durchzustarten. Dilek ist begeistert von Berlin und erstaunt, weil in unserem Haus so viele Künstler leben, die zwei Frauen zum Beispiel, die sich später mit einer Flasche Wein zu uns setzen und beraten, wie sie mit selbst gebackenen Keksen in den Feinkostgeschäften ringsum ihr Hartz IV aufbessern können. Sie haben Kostproben mitgebracht. Kastanien-Plätzchen. Ich nehme eins und freue mich, dass ich wieder da bin.

Zielfahnder: Auf der Suche nach der Tupperdose

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In seiner freien Zeit streift Timo durch die Gegend, um an schwer zugänglichen Orten versteckte Mitteilungen zu finden. Er ist ein Geocacher. Er bevorzugt Schwierigkeitsstufe 5, die gefährlichste. 

© Photo: Stephan Pramme

Timo sucht das Codewort. Er ist nicht wegen der morbiden Schönheit des Gebäudes hier.

Timo Schygulla, 27 Jahre, aus Berlin-Reinickendorf, ist gekleidet und ausgerüstet wie für eine Expedition auf einen unbekannten Kontinent. Dabei streift er nur durch Brandenburger Land. Er trägt feste Schuhe und eine Hose mit vielen Taschen, in denen er seine Ausrüstungsgegenstände, GPS-Gerät, Telefon, Taschenlampe, Spiegel und feuerfeste Handschuhe, unterbringen kann. In seinem Rucksack stecken ein Wasserbeutel, aus dem er sich über einen Schlauch direkt bedient, und eine Kletter ausrüstung. Timo ist Geocacher. Er ist auf der Suche nach dem »Cache«, dem Versteck.

Geocaching ist ein relativ neuer Zeitvertreib. Gerade erlebt es einen Boom. Call-Center-Angestellte, Wissenschaftler, Verkäuferinnen, Informatiker, Rentner und Schüler sind unterwegs, um Tupperdosen in die Landschaft zu legen, mit einem Logbuch darin, in das der Finder seinen Namen und einen hübschen Spruch schreiben kann. Außer einem GPS-Gerät braucht man das Internet. Unter der Adresse www.geocaching.com werden die Koordinaten der Verstecke veröffentlicht. Dort wird auch registriert, wie oft jedes Versteck gefunden wurde und von wem. Daraus folgt das Punkte-Ranking der erfolgreichsten Cacher landes- oder weltweit. 860 000 Dosen, von fingerkuppenkleinen »Nanos« bis zu Munitionskisten, liegen auf allen fünf Kontinenten der Erde, einschließlich der Antarktis. Es ist allerdings anzunehmen, dass der prozentuale Anteil der Geocacher in Deutschland höher ist als beispielsweise in Patagonien. Genaue Zahlen gibt es aber nicht. Etwa 500 Geocacher streifen beispielsweise durch den Berliner Raum, schätzen Insider. Kaum noch eine Straße in der City, in der nicht unter einer Parkbank oder in einem Telefonhäuschen eine Dose klebt. Solche einfachen Verstecke sind aber nur der Anfang. »Multicaches« führen über mehrere knifflige Stationen zur Ziel-Dose, von den Cachern »Final« genannt. Der Ort, den Timo heute sucht, liegt 52 Grad, 15 Minuten und 704 Milliminuten nördlicher Breite und 12 Grad, 55 Minuten und 482 Milliminuten östlicher Länge.

Wir stehen vor der Ruine des Chirurgie-Pavillons einer ehemaligen Lungenheilstätte, im Flügel der Frauen. »Vom Eingang müssen wir 300 Meter peilen, direkt in die Mitte des Gebäudes«, sagt Timo. Unsere Schritte knirschen über Schutt und Glas. Ein langer Kreuzgang führt auf das Skelett einer zweiflügeligen, halbrunden Tür zu. Es zieht gewaltig, denn sämtliche Fenster sind zerbrochen. Links des Ganges gehen die ehemaligen Krankenzimmer ab. Die Türen wurden entfernt, weggetragen, wahrscheinlich waren sie schön, wie die Flügeltür am Ende, wie die leeren Fensterrahmen zum Park, deren Anstrich in so filigranen Blättchen vom Untergrund bricht, dass es wie ein Muster wirkt, wie feine Spitze. Die Gebäude wurden im 19. Jahrhundert gebaut. Beelitz-Heilstätten, das Sanatorium, rund 60 Kilometer südwestlich von Berlin, ist ein architektonisches und technisches Meisterwerk seiner Zeit. Nach 300 Metern befinden wir uns kurz hinter der Flügeltür, vor einem leeren Aufzugsschacht. Das Eisengitter rostet, gilbt, grünt. Der Verfall wirkt wie inszeniert. Nur noch Fragmente des geschmiedeten Geländers um den Aufzugsschacht, Blüten, Blätter und gedrehte Stäbe, sind geblieben. Sie wurden zersägt und abgebrochen. Der Aufzug hängt zwei Stock werke höher, eingerostet, wie für die Ewigkeit.

»Wichtig ist eine gute Story«, sagt Timo. Er führt Taschenlampe und Spiegel durch Entlüftungs- und Heizungsschächte und über offen liegende Rohre, um einen Hinweis auf Heinrich zu finden, der in einem der Pavillons von Beelitz-Heilstätten verloren gegangen ist. So weit die Story. Barbie & Bruettler haben den Multicache in Beelitz-Heilstätten gelegt. Geocacher arbeiten mit »Nicknames«. Timos Deckname lautet »Ultralist«. Auf www.geocaching.com ist zu lesen, dass Barbie & Bruettler in Kassel leben und seit 2006 knapp 4000 Funde gemacht haben, meist in hohen Schwierigkeitsstufen. Das Foto im Nutzerprofil zeigt eine rothaarige Schaufensterpuppe in Seidenwäsche. In einem nostalgischen Spiegel neben ihr ist der nackte Oberkörper des dazu gehörenden Schaufenstermannes zu sehen.

Nach 20 Minuten Suche schiebt sich ein Satz, mit schwarzem Edding auf ein Rohr geschrieben, in Timos Spiegel: »Woher kommt das viele Licht? Bin ich etwa noch im grünen OP? Heinrich.« Die Suche nach dem grünen OP führt durch mehrere zugige Gänge, von denen ehemalige Bäder, Toiletten und Krankenzimmer abgehen. »Ein lauschiges Plätzchen zum Vögeln« hat jemand auf die weißen Kacheln über ein Sofa gesprüht, das so aussieht, als hätte es schon mehrere Landregen aufgesogen. Das Dach des Gebäudes ist längst nicht mehr dicht. »In der Bildersafari für den großen Multi ist dieses Bild mit drauf«, sagt Timo. »Allerdings nur als Ablenkung.«

Auf keinen Fall möchte Timo sich ablenken lassen. Er nimmt die Besonderheit dieses Ortes zwar wahr, das Blut auf den blauen und rosa Kacheln, die ausgequetschten Ketchup-Flaschen in den Pfützen auf dem Betonboden, das verrostete Metallbett unter der altertümlichen OP-Lampe mit den blinden Augen, doch anders als die Fotografen und Filmleute, die in Beelitz-Heilstätten das Interieur des Schauders suchen, genießt Timo die besondere Herausforderung seines Caches. Nur das. Schwierigkeitsstufe fünf. Die höchste. Die Symbole auf der Web- site, ein Totenkopf, eine Kletterwand und eine Taschenlampe, sind die Indikatoren der Verstecke, die ihn interessieren. Wie die Figur in einem Computerspiel bewegt er sich in dem alten Krankenhaus. Glatt. Geschickt.

Timo ist Wirtschaftsingenieur, spezialisiert auf Multi-Media-Systeme, das heißt, auf die Anwendungen des Web 2.0 und Enterprise 2.0, also Blogs, Foren und Twitter. »Als Wirtschaftsingenieur hat man einerseits das technische Know-how und andererseits BWL«, erklärt er. Sein Studium hat er er folgreich abgeschlossen. Kürzlich hatte er ein Bewerbungsgespräch bei der Telekom. Es lief gut. Jetzt bereitet er sich auf die Prüfung im Accessmentcenter vor. Timo strahlt Leichtigkeit aus, die Sicherheit desjenigen, der gewohnt ist, dass ihm die Dinge gelingen. Schwer vorstellbar, dass ihm irgendwo ein peinlicher Satz entwischt. Es gibt Menschen, denen die Welt wie maßgeschneidert sitzt. Timo fährt Mountainbike, er paddelt und trainiert jetzt die Jugendgruppe seines Vereins am Tegeler See. Er löst Sudokus, hört die Nachrichten und geht zur Wahl. Seine Freundin Isabel studiert Mathematik. Geocaching langweilt sie. »Sie findet Finden schön«, sagt Timo. »Aber Suchen nicht.« Bei den Stammtisch-Treffen der Berliner Geocacher bleibt Timo alias »Ultralist« vornehm zurückhaltend. Vereinsmeierei ist ihm zuwider. Er mag keine Bier- und Weinseligkeit. Er ist am Austausch von Fakten interessiert.

Geocacher kommen aus allen Altersgruppen und Schichten der Bevölkerung. Es gibt ganze Familien, die cachen gehen, zum Beispiel der Diplomingenieur »Geolink«, seine Hausfrau »Lupini« und ihre gemeinsame Tochter »Midna«. Die Berliner »Gartenzwerge«, ein blasses, in Schwarz gekleidetes Paar, bezeichnen sich als Genusscacher. Was auch immer sie genießen, der gefährliche Multi in Beelitz- Heilstätten gehört sicher nicht dazu. »Jack Sparrow«, ein älterer Herr, der die Welt bereist und eine sagenhafte Punktezahl gesammelt hat, wird von vielen bewundert. Es gibt den Notarzt, der komplett auf einen Nickname verzichtet und sich einfach Jan Wagner nennt, als hätte er gar keine Lust, auch mal jemand anders zu sein als er selbst, und »Moenk«, den Geo-Informatiker, ein Star der Szene, ein Typ wie Timo: sportlich, sympathisch, klug und schön. Unter www.cachetalk.de betreibt er einen Podcast.

Timo hat die nächste Koordinate gefunden. Sie ist mit roter Farbe auf die Unterseite eines Fensterschenkels geschrieben. Die Spur führt hinaus aus der Chirurgie, durch den Park, zu einer gigantischen Ruine, noch immer im Flügel der Frauen. Die Ruine schiebt sich wie ein Kasten aus dem Park, rechts, links, unten und oben von Bäumen umgeben. Wir trauen zunächst unseren Augen nicht, doch dann bestätigt sich dieser erste wunderliche Eindruck: Im zerstörten oberen Stock werk des Gebäudes wachsen hohe Bäume. Ein Gang, verschüttet mit Holzbalken und Schutt, führt auf eine riesige Halle zu, deren Fenster zerstört sind, deren Fußboden von Steinen und Erde bedeckt ist, als wäre der Wald bereits erfolgreich gegen die Mauern vorgerückt. Die marode Treppe führt durch die Stockwerke hinauf in den Wald. Wie kommt ein kompletter Wald mit Nadeln, Moos, Ebereschen, Ahornbäumen und schlanken Kiefern in den vierten Stock eines Hauses? Die Treppe bricht in Höhe der Ebereschen ab. Timo hat keine Idee, wie der Wald hier rauf kam. Interessiert es ihn? Erstaunt es ihn? Gibt es überhaupt etwas, das ihn staunen macht, ihn entsetzt, auf die Palme bringt? War er jemals richtig wütend? Vertauschte Ziffern in Koordinaten hätten ihn schon verärgert, sagt Timo. Möglicherweise schleuderte die Bombe, die das Gebäude im Zweiten Weltkrieg zerstörte, einige Kilo Erde, ein Samenpaket, durch die Luft. Möglicherweise reichte das dem Wald aus, sich hier oben auszubreiten. Egal. Dieses Wissen wird im Multicache nicht abgefragt, ist also nicht von Belang. Hier kommt es lediglich darauf an, ein Loch im Waldboden zu finden, durch das Timo sein Kletterseil über den darunter liegenden, eisernen Balken der großen Halle fädeln kann. Im grünen Mooslicht der großen Halle, vielleicht ein ehemaliger Turn-, Fest- oder Speisesaal, in dem Vorträge über gesunde Lebensweise gehalten oder Konzerte aufgeführt wurden, legt Timo seinen Klettergurt um, befestigt zwei Reepseile an dem dicken Seil, in die er seine Füße stellt, und klettert wie auf einer mobilen Treppe unters Dach. Leicht sieht das aus. Das sind die Momente, die er an diesem Hobby liebt, Momente, in denen sein besonderes Können gefragt ist. Er muss jetzt nicht mehr suchen. Alle Rätsel sind gelöst. Er ist kurz vor dem Ziel. Er entspannt sich beim Klettern. »Es ist die Heraus forderung an Kopf und Können«, sagt er.

Als Nächstes möchte er gern den Cache auf dem Betonschiff in der Wismarer Bucht lösen. »Ich stelle mir das gut vor. Zuerst musst du da rüber paddeln, dann über die Bordwand klettern und dich drüben wieder abseilen.« Er würde auch gern mal nach Nepal reisen. »Die hohen Berge«, sagt er. »Der K2?« Er schüttelt den Kopf. Keine Extreme. Kein zu großes Risiko. Keine Besessenheit.

Wir finden Heinrich im Keller neben einer Metallkiste mit altem Röntgengerät. Natürlich keineLeiche, kein Skelett. Nur eine Tupperdose mit einem Logbuch drin. Außerdem befinden sich in der Dose ein kleines Spielzeugauto, ein leeres Jojo, ein alter Computerstecker, ein Button mit der Aufschrift »No War« und ein Geo-Coin. Diese Münzen stellen in der Szene einen Sammlerwert dar und werden nicht selten geklaut, weswegen von einigen Coins nur Kopien in Umlauf gegeben werden. Den Besitzer eines Coins kann man anhand der Ziffer über das Internet finden. Die amerikanische Firma www.geocaching.com verkauft die Geo-Coins. Die Hersteller der Münzen müssen an Groundspeak Tantiemen für die Vergabe der Nummern zahlen. Weitere Gewinne erzielt Groundspeak durch die Einnahme aus den Premium-Mitgliedschaften. Premium-Mitglieder zahlen für besondere Service-Leistungen und für die Exklusivität einiger Caches.

Wer war Heinrich? Ein langhaariger Kämpfer für den Frieden? Spielte er Jojo, um sich das Rauchen abzugewöhnen? Liebte er Autos? Wann kaufte er seinen ersten Computer? Barbie & Bruettler, die Erfinder von Heinrich, äußern sich dazu nicht. Das Spiel ist hier zu Ende, die Teile in der Dose sind zufällig. Sie bedeuten nichts.