Vermintes Gelände

Berliner Zeitung

Latenter Antisemitismus ist unter muslimischen Jugendlichen weit verbreitet. Eine Schule in Kreuzberg kämpft dagegen an – Lehrer besuchen mit ihren Schülern Orte jüdischer Geschichte in Berlin, die Sozialarbeiterin organisiert Klassenreisen nach Israel.

An einem warmen, sonnigen Junitag war das Schuljahr in der Skalitzer Straße in Kreuzberg mit einem Fest zu Ende gegangen. Die Schüler hatten Couscous-Salate zubereitet. Dazu gab es Süßigkeiten, Tee und Limonade. Eine Gruppe von Mädchen und Jungen tanzte im Kreis zu orientalischer Musik. Es war ein schönes Fest für die Kinder der Sekundarschule in der Skalitzer Straße. Ein Fest, wie es in fast jeder Schule dieser Gegend stattfinden könnte.

Und doch gab es hier eine Besonderheit. An einem eigenen Stand informierte der Wahlpflichtkurs Menschenrechte über die gemeinsame Reise nach Israel. Die meist arabisch- und türkischstämmigen Schüler erzählten, wie überrascht sie waren von jenem Land, dem sie zuvor so ablehnend gegenüber gestanden haben. Und sie erzählten von ihren neuen jüdischen Freunden.

Als die Ferien vorüber sind und der Ramadan zu Ende, kommen die Jugendlichen aus Israel zum Gegenbesuch nach Berlin. Weiterlesen

Wohnzimmer-Lektionen

VOLKSBILDUNG: Wie kann man politisches Bewusstsein wecken? Der Franzose Pierre Kaskys gibt dazu Workshops in Berlin

Pierre Kaskys in Berlin, Oktober 2011

Foto: © Anna Kristina Bauer

Die Polstermöbel in dem hellen Zimmer sehen so aus als kämen sie vom Sperrmüll. Es ist eine typische Berliner Altbauwohnung mit Stuck an der Decke, sechs Leute unterschiedlichen Alters und verschiedener Nationalität sitzen in den Sesseln um einen flachen Tisch und schreiben. „Wer möchte beginnen?“, fragt der Moderator.

„Petite histoire, grande histoire“ (kleine Geschichte, große Geschichte) heißt der Workshop, zu dem der 28jährige Pierre Kastner-Kysilenko über verschiedene Facebookgruppen in seine Wohnung eingeladen hat. Er notiert auf einer Papierbanderole an der Wand Jahreszahlen und „die kleinen Geschichten“ der Teilnehmer. Sie handeln vom ersten Golf – und zweiten Weltkrieg, von der Angst vor Krieg am 11. September 2001, von erlebten Rassismus und Armut, einer Ehescheidung und zwei Suchen nach der eigenen Identität.

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Politik verzweifelt gesucht

Berliner Zeitung

Héctor Huerga aus Barcelona / Foto: © Pablo Castagnola

Es steht noch nicht fest, ob der Sessel für Angela Merkel aus Leder oder Stoff, ob es eher ein modernes oder ein nostalgisches Modell sein wird. Möglicherweise findet sich ein Sessel aus der DDR, Hellerauer Werkstätten, Bauhaus. Vorerst gibt es den Merkel-Sessel nur als Plan und im Internet. In dem Blog www.merkelchair.wordpress.com ist er aus braunem Leder und schon ein bisschen verschlissen.

Der 39jährige Schriftsteller Héctor Huerga aus Barcelona wird den Sessel für die Kanzlerin in der großen Ausstellungshalle in den Kunstwerken aufstellen und beim Leerbleiben filmen. Er macht sich keine Sorgen, wo er etwas Passendes für die Kanzlerin  finden wird. Wichtiger für ihn ist, dass der Merkelchair-Blog in möglichst vielen Sprachen erscheint, denn dort sollen Bürger der ganzen Welt ihre Fragen an Angela Merkel stellen. Héctor Huerga ist einer der Occupy-Aktivisten, die von den Kuratoren der Biennale Berlin eingeladen wurden. Er ist ein drahtiger Mann mit wachen, dunklen Augen und seegebräunter Haut. Er schaut sich in der großen Ausstellungshalle um. Die 400 Quadratmeter, die der Kurator Artur Zmijewski den Aktivisten zur freien Verfügung gestellt hat, sind noch eine Baustelle. Die Halle soll durch Vorhänge in verschiedene Räume geteilt werden, in denen Vorträge, Videoinstallationen, Workshops und natürlich Asambleas stattfinden. So werden die öffentlichen Versammlungen der Occupy-Bewegung nach dem spanischen Vorbild genannt. Der Sessel wird in der Asamblea für die Kanzlerin reserviert. „Wenn Angela Merkel kommt, werden wir ihr alle Fragen, die wir im Blog gesammelt haben, vorlesen“, sagt Héctor Huerga.

Eine junge Frau, auf deren Kopf sich hellbraune Locken türmen, bittet Héctor, beim Aufbau des großen Zeltes zu helfen. Mit Héctor sind Manu und Laurent nach Berlin gekommen. Auch sie können helfen, das Zelt zu stemmen. Von Occupy Berlin ist kaum jemand da. Die junge Frau nennt sich Mona. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen. Seit einem halben Jahr arbeitet die 23jährige Aktivistin an der Vorbereitung des Biennale-Happenings. Ein Vollzeitjob, sagt sie, aber es ginge gerade. Vor einem halben Jahr habe sie ihren Bachelor in Erziehungswissenschaften abgeschlossen, gerade in dem Moment, als das mit Occupy richtig losging. Mona ist die jüngste von drei jungen, aktiven, gebildeten Frauen, flankiert von einem, maximal zwei Männern, die den Hauptanteil bei der Vorbereitung der Biennale-Aktion geleistet haben.

Occupy Berlin, das sind Aktivisten aus verschiedenen Ländern. Ihre Zahl lässt sich schwer bestimmen. Sie liegt irgendwo zwischen 50 und 100. Das symbolische Camp in der Kunstausstellung ist umstritten, auch in der Bewegung selbst. Einige sprechen von einem Zoo-Effekt. Und wirklich liegt die Ausstellungshalle unterhalb einer Galerie, von der aus die Besucher in den Aktionsraum hinabschauen. Zwei Treppen führen in die Halle, aber nicht jeder Besucher wird diese Barriere nehmen. Die Biennale ist zudem kein öffentlicher Raum. „Wir müssen hinaus auf die Straßen gehen und den Leuten sagen, was hier passiert“, sagt Héctor. „Es ist ja ein Prinzip der Bewegung, sichtbar zu sein. In Spanien haben wir in der Metro laute Dialoge inszeniert, um die Leute zu informieren.“

Der Kurator Artur Zmijewski äußert sich zurückhaltend. Es gäbe immer Leute, die etwas gut finden und andere, die es ablehnen. Zuletzt versicherten Zmijewski und seine Mitarbeiter den Aktivisten in einem langen Brief noch einmal ihre große Sympathie für die Bewegung. Sie beschworen sie, sich die Freiheiten zu nehmen, die sie ihnen als Kuratoren nicht völlig bieten könnten und betonten, dass sie völlig unabhängig von der Kunstausstellung seien. Es klang wie eine ausdrückliche Bitte um Provokation und Widerstand. In seinem Vorwort zur Biennale „Forget fear“ beklagt Zmijewski, dass die Kunst zum Dekor der neoliberalen Gesellschaft geworden ist und so ihre ureigene Kraft verloren hat und dass sich Kunst, der keine Taten folgen, in einer „kreativen Ohnmacht“ befindet. Über die Startseite der Biennale laufen unter dem Titel „art covers politics“ Bilder von den Demokratiebewegungen des letzten Jahres. Kein Zweifel, Occupy ist das eigentliche Thema auf Zmijewskis Biennale.

Héctor Huerga sitzt in der kleinen Mansarde über dem Büro der Kunstwerke. Seine  sehnigen, braunen Hände liegen locker übereinander auf der leeren Tischplatte. „Die Biennale Berlin wird in diesem Sommer das Hauptquartier der Bewegung sein“, sagt er. Er ist einer der ersten Gäste, die eingetroffen sind. Erwartet werden Aktivisten aus der ganzen Welt, viele kommen auf persönliche Einladung der Kuratoren, wie Héctor. Seit die spanische Bürgerbewegung am 15. Mai 2011 begann, arbeitet der spanische Schriftsteller, der bisher zwei Romane veröffentlicht hat, an der Vernetzung und Kommunikation der weltweiten Protestbewegungen. „Es war uns sofort klar, dass es sich nicht um regionale, sondern globale Probleme handelt.“ Er erzählt von Barcelona, von geschlossenen Kliniken und Notfallstationen, überfüllten Hörsälen und von Dreißigjährigen, die zurück zu ihren Eltern gehen, weil sie sich ein eigenes Leben nicht leisten können. Am 29. März, dem Tag des Generalstreiks, seien eine Million Menschen zwischen dem Plaça Catalunya und dem Ciutadella-Park unterwegs gewesen. Die Polizei versuche, die Bewegung zu kriminalisieren, sagt er. Jetzt sei sogar ein Gesetz gegen die freien Asambleas im Gespräch. „Wir kämpfen nicht gegen die Polizei“ , sagt Héctor. „Wir kämpfen auch nicht gegen die Medien. Wir suchen nach Lösungen, wie wir alle gemeinsam auf dieser Erde leben können.“ In Berlin möchte er über die europäischen Schulden sprechen, die Arbeitslosigkeit, die steigenden Mieten, den Zustand der Demokratie und die Freiheit für die Asambleas. Doch, es bliebe ihm noch Zeit zu schreiben. Er arbeitet an einem dritten Buch. Huergas Romane haben immer einen politischen Hintergrund. Er erzählt von einem jungen Senegalesen, der über das Mittelmeer nach Europa flüchtet oder einer Mosambikanerin, die in Südafrika einen Lottogewinn macht, ihn aber nicht einlösen kann, weil sie illegal im Land lebt. Ein Kapitel aus seinem ersten Buch „Radio Puente“ ist auf deutsch in der Anthologie „Meereslaunen“ erschienen. Er hat bei mexikanischen Autoren studiert, unter anderem bei Sergio Pitol und Jorge Volpi. Doch die Arbeit für Occupy ist an die erste Stelle im Leben des Autors getreten. Gelegentlich jobbt er als Korrekturleser, um ein bisschen Geld zu verdienen. Er ist viel unterwegs, nicht nur im Internet, sondern auch in den Asambleas vor Ort, um politische Inhalte zu debattieren.

Wenige Tage später moderiert er die Asamblea der Biennale-Aktivisten. Er habe gehört, dass es mit der demokratischen Kultur in dieser Versammlung nicht so weit her sei. Das sei an anderen Orten auch so. Einige der spanischen, portugiesischen und griechischen Indignados, die in Berlin leben, hatten sich aus dem Biennale-Projekt zurückgezogen, weil sie die politischen Inhalte und den Respekt in der Asamblea vermissten. An diesem Abend sind einige von ihnen gekommen. Auch Artur Zmijewski und sein Ko-Kurator Igor Stokfiszewski sind da. Der Versammlungsraum im ersten Stock des Vorderhauses der Kunstwerke ist so voll wie selten. Héctor steht am Kopfende des langen Tisches. Er trägt ein braunes Cord-Jackett. Er fragt, ob alle Teilnehmer damit einverstanden sind, dass diese Versammlung in Englisch abgehalten wird. Niemand hat etwas dagegen. Englisch ist die übliche Sprache in den Berliner Asambleas. Dann erklärt er die basisdemokratischen Regeln der Asamblea. Erster Punkt der Tagesordnung sind die Finanzen. Mona hatte darum gebeten. Jetzt tritt sie vor die Versammlung. Ihre Locken lagern auf der linken Kopfhälfte. Von den rund 5.600 Euro, die ihnen die Veranstalter zur Verfügung gestellt hätten, seien noch 500 übrig. Sie schlage folgende Verteilung vor. Mona schreibt die Namen einiger Projekte auf dem Flipchart untereinander und setzt jeweils kleine Summen dahinter. Héctor sagt, er habe in Spanien noch nie in einer Versammlung über Geld gesprochen. Geld sei nicht da. Man könne eben nur das machen, was ohne Geld machbar ist. Eine Spanierin erinnert an eine Email, die vor ein paar Tagen aus Istanbul kam. Ein Aktivist von Occupy Starbucks möchte gern zur Biennale reisen, aber er kann den Flug nicht bezahlen. Sollte man nicht eher ihm das Geld geben? Eine Diskussion um das Geld entbrennt. Einer braucht es für eine lange Leinwand, die von Kindern bemalt werden soll. Ein anderer möchte einen edlen Katalog produzieren. Jetzt möchten auch die Guerilla-Gärtner noch Geld für Pflanzen, um auf der Wiese hinter der Halle etwas anzubauen. Alle reden durcheinander. Héctor erinnert daran, dass die Asamblea nicht der Ort für persönlichen Schlagabtausch ist. Nach und nach ziehen sich die Mitglieder nach nebenan in die Küche zurück, für den persönlichen Schlagabtausch und um zu rauchen. Auch Mona ist verschwunden. Die Kuratoren sind schon lange weg. Anderthalb Stunden lang drehen sich die Wortbeiträge um Geld, dann beschließt die Asamblea eine Pause. Héctor steht mit einer Portugiesin und zwei Spaniern im Hof. Er sieht blass aus, aber er braucht nichts: kein Bier, keine Drogen, keinen Döner. Er trägt ein leichtes, entschlossenes Lächeln auf den Lippen.

Am nächsten Tag sitzt er vor dem aufgeschlagenen Laptop im Café Bravo im Hof der Kunstwerke. Er hat Ringe unter den Augen. Die frische Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen. „Die Bewegung hier hat nicht denselben Geist wie in Spanien“, sagt er. Er wird für die Website der Internationalen Kommission Barcelona, deren Mitbegründer er ist,  einen ersten, persönlichen Eindruck aus dem derzeitigen Hauptquartier der Bewegung, Biennale Berlin schreiben. Ein begeisterter Artikel wird es nicht.

Wenn man Angst hat, muss man gehen

Berliner Zeitung

Seitaro, Natsuki und Yasuyo (von links nach rechts) wollten in Japan auf einem Bauernhof zusammen leben. Das Erdbeben im März 2011 hat ihre Pläne umgeworfen. Jetzt leben sie alle drei in Berlin. Für Yasuyo war es die schwerste Entscheidung ihres Lebens.

Als am 11. März 2011 um  14:46 Uhr das Beben einsetzte, war die Familie Hioki gerade mit Vorbereitungen für das Wochenende beschäftigt. In der Präfektur Saitama nördlich von Tokio, wo ihr Bauernhof lag, sollte ein Kunstfestival stattfinden. Sie hatten eine Künstlerin eingeladen, auf dem Hof auszustellen. Diese fertigte Kleidung und Taschen für Kinder, auch Mobiles und Spielsachen. Das passte gut, denn die Hiokis hatten viele Freunde mit Kindern in der Gegend. Yasuyo Hioki, die Montessori-Pädogogin, würde in wenigen Tagen ihre eigene Schule eröffnen.

Ein Jahr ist seitdem vergangen. Yasuyo Hioki spaziert am Fränkelufer in Kreuzberg entlang. Seit dem letzten Sommer lebt sie in einem sehr schmalen Zimmer in der Nähe des Landwehrkanals zur Untermiete. Sie liebt den Kanal, die Brücken und Uferwege, auch jetzt, wenn zwischen Winter und Frühling die Bäume und Sträucher im wiederkehrenden Licht noch kahler wirken als in der dunklen Jahreszeit. Sie ist 31 Jahre alt, eine zierliche Japanerin mit einem hellen, offenen Gesicht, in das einige Ponyfransen fallen, die sie mit immer derselben ruhigen Geste aus der Stirn wischt.

„Ich räumte gerade eine Scheune auf“, erzählt Yasuyo Hioki. „Da bei uns oft die Erde bebt, dachte ich mir zuerst nichts dabei und arbeitete weiter. Aber das Beben wurde ungewöhnlich stark. Ich schaute hinauf zur Decke und sah, dass sich die Holzbalken gefährlich verschoben hatten. Ich rannte hinaus. Wir standen alle drei auf dem Feld, mein Mann, seine Mutter und ich, und beobachteten, wie die Dachziegel auf den Häusern tanzten. Es war schwierig, sich auf den Beinen zu halten. Das Beben hielt die ganze Nacht an. Wir legten uns hin, aber an Schlaf war nicht zu denken.“

Noch lange danach, sagt Yasuyo, habe sie unvermittelt das Gefühl gehabt, dass unter ihr die Erde bebte. Selbst hier in Berlin zucke sie oft zusammen, wenn unter ihr eine U-Bahn rumpelt. Das Beben hat kein einziges Gebäude auf dem Bauernhof zerstört, aber es hat Yasuyos Leben aus den Angeln gehoben. Fünf Tage nach der Katastrophe machte sie sich auf den Weg nach Deutschland.

„Ich kannte das Leben in Deutschland schon, weil ich meine Ausbildung zur Montessori-Lehrerin hier gemacht habe. Ich bin glücklich hier.“ Sie sagt es freundlich, mit einer Spur Melancholie, die eine kleine Distanz zu ihren Worten schafft. Die Reise, die sie nach dem Erdbeben vor einem Jahr antrat, war anders als die in ihrer Studienzeit. Zwar reiste sie wie immer mit wenig Gepäck, aber diesmal befand sich kein Plan in ihrer Tasche, weder die Adresse einer Universität noch die eines Freiwilligencamps, kein Ziel für einen konkret bemessenen Zeitraum.

Lediglich die Adressen ihrer europäischen Freunde hatte sie in den Koffer gesteckt. Sofort nach der Katastrophe hatten sie ihr E-Mails geschickt und angerufen. Sie solle das Land doch bitte so schnell wie möglich verlassen und eine Zeitlang bei ihnen wohnen. Da die japanischen Medien nur wenig berichteten und wenn, dann nur in beschwichtigendem Ton, hatte Yasuyo in den Tagen darauf BBC und CNN angeschaltet, um sich über das havarierte Kernkraftwerk Fukushima und die sich abzeichnende Kernschmelze zu informieren. Ihre Familie, die nicht so gut Englisch sprach wie sie,  glaubte ihr nicht, was sie gehört und im Internet gelesen hatte. Sie solle sich ein paar schöne Tage in Europa machen, sagte ihr Mann. Er könne jetzt nicht weg. Die Tomatenernte sei in vollem Gange. Er müsse täglich liefern. Es gebe schließlich Verträge.

Zwei Wochen wollte Yasuyo bei Freunden in München bleiben. Sie zweifelte an sich selbst und an der Gefahr. Bildete sie sich alles nur ein? Reagierte sie über, so wie es die japanischen Zeitungen auch der ausländischen Presse unterstellten? Mit dem Ticket für den Rückflug in der Tasche konnte Yasuyo noch ein paar Tage so tun, als sei sie nur in den Urlaub gefahren. Aber die Angst wollte nicht weichen.

Dann hörte sie vom Open Home in Berlin. Ein deutscher und ein japanischer Künstler hatten es gegründet, um Japanern, die ihr Land für einige Zeit oder für immer verlassen wollen, Hilfe anzubieten. Auch um die Rückfahrt hinauszuschieben, entschloss sie sich, bei  dem Projekt mitzuarbeiten. In den nächsten Wochen würde sie dolmetschen und E-Mails beantworten und sich so von ihren Zweifeln ablenken. Fast täglich habe sie ihren Mann angerufen, erzählt Yasuyo. Ich weiß nicht, was du hast, habe er gesagt. Hier ist nichts.

Sie habe ihn gedrängt, ihr nach Berlin zu folgen oder wenigstens zu seinen Verwandten in den Westen Japans zu gehen. Er sei der Letzte, der den Hof verlassen würde, habe er geantwortet, das Land, das seine Familie seit 400 Jahren bewirtschaftet. Er fühle sich verantwortlich für seine Mutter und für die Verwandten im Dorf. Die Eltern ihrer Schüler fragten an, wieso sie denn gerade jetzt, kurz vor der Eröffnung der Schule, gegangen sei. Sie sei doch nicht schwanger, dass sie sich sorgen müsse. „Niemand hat mir einen direkten Vorwurf gemacht, aber ich spürte den Vorwurf in ihren Fragen“, sagt Yasuyo. „Sie sahen schon eine Gefahr. Aber sie sahen nicht die Gefahr, die ich sah.“

An einem sonnigen Morgen Anfang Mai ging Yasuyo wieder einmal am Landwehrkanal spazieren. Sie rief ihren Mann an, bei dem bereits später Nachmittag war. An diesem Tag erklärte er ihr, dass er keinen Weg mehr sehe, mit ihr gemeinsam auf dem Hof zu leben. Sie solle doch bitte in Europa bleiben. Er beantrage die Scheidung. „Als ich aufgelegt hatte, dachte und fühlte ich gar nichts. Ich lief einfach immer weiter“, sagt Yasuyo.

Sie hatten einander auf der Universität kennengelernt und acht Jahre zusammen in Tokio gelebt, bevor sie vor zwei Jahren den Bauernhof übernommen hatten. Dann kam das Beben, und es scheint, als habe es einen Riss offenbart, der lange schon verborgen zwischen Yasuyo und ihrem Mann klaffte.

Fehlt er ihr? „Nein“, sagt Yasuyo. „Die Zeit der Auseinandersetzungen hat uns voneinander entfernt. Ich hätte nie gedacht, dass ihm der Hof so wichtig ist; dass er sich so sehr darüber definiert; dass er Angst hat, nichts mehr zu sein, wenn er den Hof verlässt.“ Sie vermisse ihr altes Leben kaum, sagt Yasuyo, aber dennoch sei es die schwierigste Entscheidung ihres Lebens gewesen, ihre Familie und die geplante Schule aufzugeben. Aber sie könne in Berlin genauso leben wie in Japan, Landsleute treffen, japanisch kochen und  Kendo trainieren, dieses japanische Fechten mit einem Bambusschwert, das sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr betreibt.

Wie sie den besten Coffeeshop für das erste Treffen wählt, wie sie sich bewegt und kleidet, wie sie lacht, wirkt Yasuyo wie eine Frau, die schon immer in Europa lebt. Das liegt nicht nur an ihrem perfekten Englisch. Sie sei es eben gewohnt, ihren Schlafsack an den unterschiedlichsten Orten der Welt zu entrollen, sagt sie. Als Studentin sei sie durch die ganze Welt gereist und in den verschiedensten Kulturen klargekommen.

Spürt jemand, der wie sie von der japanischen Gesellschaft geprägt ist, keinen kulturellen Unterschied, keine Fremdheit? Vielleicht ist es typisch japanisch, dass sie darüber nicht sprechen will. Aber immer wieder betont sie, wie viel es ihr bedeutet, dass ihre besten Freunde, der Zen-Mönch Seitaro Higuchi und seine Frau Natsuki, nach Berlin gekommen sind. Sie hatte sie vor einigen Jahren in Tokio kennengelernt, beide hatten sich für die Montessori-Philosophie und Yasuyos Schule interessiert, sie erwarteten ein Baby und hatten vor, nach der Geburt des Kindes zu Yasuyo und ihrem Mann aufs Land zu ziehen.

In der Wohnung der Higuchis sitzen sie an einem niedrigen Tisch bei einer Tasse grünem Tee zusammen, Yasuyo im Schneidersitz neben Natsuki, die das Baby im Arm hält. Issey ist in Berlin zur Welt gekommen. Seitaro kniet in der dunklen Mönchstracht am Kopfende. Nicht jeder sei so privilegiert wie sie, einfach fortgehen zu können, sagt er. Er bewundere die Entscheidung von Yasuyos Mann, in Japan zu bleiben. „Aber wenn man Angst hat, sollte man gehen. Deshalb ist es auch gut, was Yasuyo getan hat.“

Ein einjähriges Visum für Freiberufler erlaubt Yasuyo, in Berlin als Japanischlehrerin zu arbeiten. Es wird kein Problem sein, das Visum im Sommer zu verlängern, denn sie kann mit ihrer Arbeit für ihren Lebensunterhalt sorgen. Vor einigen Tagen hat sie eine japanische Montessori-Lehrerin kennengelernt. Mit ihr zusammen möchte sie etwas aufbauen, die Montessori-Pädagogik unter den Japanern in Berlin bekannter machen, Kurse für Kinder geben, eine Schule gründen. „Kouun Ryuusui“, sagt Yasuyo. „Lebe dein Leben wie eine Wolke oder wie das Wasser im Fluss. Du wirst an Steine stoßen, aber sie werden dich niemals aufhalten. Diese Worte von Seitaro haben mir geholfen, zu meiner Entscheidung zu stehen.“ Sie hatte sich gewünscht, dass sie und ihr Mann als Freunde auseinandergehen, ihre Entscheidungen gegenseitig respektieren. Während der Meditationen sei ihr die Wut auf ihren Mann bewusst geworden, der ihr gemeinsames Leben weggeworfen habe. „Manchmal, vor dem Schlafengehen, stelle ich mir vor, dass ich meine Wut in einen Karton packe, mit dem Karton die Treppe hinabgehe und die Straße bis vor zum Kanal laufe. Dort kippe ich ihn aus. So kann ich besser schlafen. Wenn ich am nächsten Tag über die Brücke gehe, schaue ich einige Sekunden hinunter und erinnere mich, dass das Wasser meine Wut nach und nach davonträgt.“

Ein Stück vom Himmel

Hier kann für Virtuosen und Dirigenten der Weg nach oben beginnen: Die Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin gehört zu den renommiertesten Musikhochschulen. 2010 feiert sie ihr 60-jähriges Bestehen.


© Foto Ernst Fesseler

„Der Himmel hängt voller Geigen.“ So sagt man in Deutschland, wenn das Leben süß und leicht ist. Der Himmel über Berlin hängt nicht voller Geigen. Die Luft ist meist klar, doch es weht ein rauer Wind. Baulärm steht am Gendarmenmarkt in der Luft. Und doch: auch Musik. Inmitten des Luxusquartiers, das rings um den Gendarmenmarkt entstanden ist, liegt direkt hinter dem berühmten Konzerthaus die Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin. Die Signatur Eislers aus roten Leuchtröhren über dem Eingang, die Fahrradständer vor dem Haus, die jungen Frauen und Männer, die an den Plastiktischen im Foyer Automatenkaffee trinken, das Durcheinander der Instrumente und Stimmen – „Die Eisler“ setzt einen Kontrapunkt zu den weiß gedeckten Terrassen der Restaurants und Bars an der Charlottenstraße, zu den Edelläden und den vielen Touristen in diesem Viertel.

Jedes Jahr starten 150 Absolventen von hier aus ins Berufsmusikerleben – unter ihnen Stars wie die Cellistin Sol Gabetta. Die Hälfte der Studierenden kommt aus dem Ausland. So auch die Meisterschülerin Anna Alàs i Jové aus Spanien, eine Mezzosopranistin, und Adrian Pavlov aus Bulgarien, der Komposition und Dirigieren studiert. Beide sind auf dem Sprung in die Professionalität. In dieser entscheidenden Phase profitieren sie von den Verbindungen ihrer Lehrer zu den Konzertsälen, Opern und Theatern der Stadt. Zu ihnen gehören so bekannte Künstler wie Gidon Kremer und Thomas Quasthoff. Nikolaus Harnoncourt, Daniel Barenboim oder Zubin Metha haben Orchester – Workshops und Masterclasses geleitet.

Anna Alàs i Jové arbeitet an der Interpretation Alter Musik. Adrian Pavlov, Komponist und Dirigent, vernetzt sich gerade mit der Neue-Musik-Szene Berlins. Anna Alàs i Jové ging nach Berlin, um bei Wolfram Rieger und Anneliese Fried zu studieren. In diesem Jahr gewann sie den zweiten Preis beim Internationalen Gesangwettbewerbs für Barockoper „Pietro Antonio Cesti“. Jetzt hat sie einen Vertrag mit der Staatsoper in der Tasche. Im Herbst wird sie in einer Oper für Kinder singen. Adrian Pavlov wird im Oktober im Berliner Theater HAU 2 eine Kurzoper von Boris Blacher dirigieren. Es ist das elfte k.o.-Projekt (k.o. steht für Kurzoper), das ausschließlich von Studierenden der „Eisler“ und der Universität der Künste inszeniert wird. Professor Claus Unzen, der Leiter des Studienganges Regie an der „Eisler“, betreut die Projektreihe gemeinsam mit Berliner Theaterschaffenden. „Was nützt es, wenn die Studenten nur innerhalb der Hochschule inszenieren und diese Stücke vor den wohlwollenden Eltern aufführen?“, sagt er. „Sie sollten so früh wie möglich lernen, die Kritik des Publikums und der Profis auszuhalten.“

Große Musiker sind oft bescheiden, sogar demütig. Vielleicht liegt es daran, dass sie mit ihrer Kunst dem Himmel, den Göttern am nächsten kommen. Die beiden jungen Musiker sind erfüllt von Dankbarkeit ihren Lehrern gegenüber. Sie möchten das ausdrücken. Es soll in diesem Artikel stehen. Dabei gäbe es „Die Eisler“ beinahe nicht mehr. Als die Berliner sich zu Beginn der Neunzigerjahre daran machten, die geteilte Stadt wieder zu vereinen, stand sie auf der Streichliste. Es gab ja auch noch die Hochschule im Westen, die heutige Universität der Künste. Zu wenig deutete damals darauf hin, dass sich ausgerechnet die vernarbte Frontstadt des Kalten Krieges zum kreativen Zentrum Europas entwickeln würde. Aber die damalige Rektorin Annerose Schmidt verteidigte „Die Eisler“ erfolgreich. Vielleicht hatte sie die Götter auf ihrer Seite. Apropos: Wer war eigentlich dieser Eisler, der vor den Nazis flüchten musste und von den Kleingeistern der Stalin-Ära angefeindet wurde? Inzwischen ist es das Haus am Gendarmenmarkt, dessen Ruhm auf den fast vergessenen Komponisten neugierig macht. Anna Alàs i Jové wusste vor ihrer Ankunft nur, dass er ein Schüler Schönbergs war. Adrian Pavlov hat sich mit den Werken Eislers beschäftigt, schon lange, bevor er nach Berlin kam. Er schätzt es, dass die Hochschule anlässlich ihres 60jährigen Bestehens in diesem Herbst eine Auseinandersetzung mit dem Künstler führen wird. Seit 1993 schreibt sie jährlich den Eisler-Preis in den Kategorien Komposition und Interpretation unter Berliner Studierenden aus. Adrian Pavlov hat ihn 2010 bereits zum fünften Mal bekommen.

Der Lärm aus der Charlottenstraße dringt durch das geöffnete Fenster ins Büro des Rektors Jörg-Peter Weigle. Der Wind klappert mit den Lamellen des Vorhangs. Auf die Frage, was „Die Eisler“ von den 26 anderen deutschen Musikhochschulen unterscheidet, weist er in Richtung Fenster. „Drei Opernhäuser, fünf Orchester, die freie Szene, Berlin als Theaterhauptstadt, die Museumsinsel. Ausgezeichnete Lehrer, die fest im internationalen, künstlerischen Leben stehen, unsere Verbindungen zur Philharmonie und zum Konzerthaus…“ Die Aufzählung wird aus Platzgründen hier beendet. Erwähnt sei noch, dass Sir Simon Rattle schon mehrmals das Sinfonieorchester der Schule dirigiert hat. Rattles Sohn Alexander ist Klarinettist und macht gerade sein Diplom an der „Eisler“.

Neben dem Sinfonieorchester beherbergt die Schule übrigens ein Kammer – und ein Studienorchester, einen Chor und ein Sinfonisches Blasorchester, das Ensemble Eisler Brass für Blechblasinstrumente und Schlagzeug und das ECHO Ensemble für Neue Musik.

Professor Weigle ist selbst „Eisler“ – Absolvent. Er studierte in den Siebzigerjahren Chorleitung und Dirigieren. „Der Unterrichtsstil, wie wir ihn kennengelernt haben, dem Meister alles nachzumachen, der ist weitgehend verschwunden. Heute steht das Finden der eigenen Persönlichkeit, einer eigenen Interpretation im Zentrum der Ausbildung.“

Um den Weg aufs Dach und sein Stück vom Himmel zu finden, braucht es auch in Berlin immer mehr Kreativität. „Ich möchte mich weiter entwickeln, Spaß mit meiner Arbeit haben“, sagt Anna Alàs i Jové. „Aber weit planen können wir nicht.“

„Als Dirigent hatte ich in letzter Zeit hatte ich viele Einladungen von Neue-Musik- Ensembles“, erzählt Adrian Pavlov. „Es gibt immer Möglichkeiten. Ich arbeite auch als Pianist. Ich lebe für die Musik und kann mir gar nicht mehr vorstellen, etwas anderes zu tun.“