Unterm Regenbogen

Berliner Zeitung

Diese Anzeige stand im Sommer in der taz:

ARNO

war fast 28 Jahre lang

in der Fahrradwerkstatt, im Wohnhaus, im Café und in der Baugruppe bei und mit uns. 

Jetzt ist er für immer von uns gegangen und wird doch für immer bei uns bleiben. 

Auf Dich, Arno…

Deine FreundInnen und KollegInnen aus der Regenbogenfabrik. 

Achims Sticker vom 1. FC Kaiserslautern sind so vergilbt wie die Fotos an der Wand. Ein Foto zeigt Arno. Er ist jung darauf. Arno trägt das glatte, lange Haar in der Mitte gescheitelt und zu einem Zopf gebunden. Sein Gesicht ist schmal, die Augen sind hell. Wasserblau. Achim trägt auch einen Zopf, doch sein Haar ist störrisch und grau. Er sieht ein bisschen aus wie Hagrid, der Halbriese aus Hogwart. Massig, bärtig. Seine Stimme ist brummig, ein Typ, dem man sofort ein weiches Herz unterstellt. Man glaubt, Tränen in seinen braunen Augen zu sehen, wenn er von Arno spricht. Achim Sand ist 53 Jahre alt. Sein Freund Arno Hoffmann starb in diesem Jahr mit 55 Jahren.

Auf einem anderen Bild an Achims Wand bereitet Arno Rahmschnitzel mit Lauchgemüse. Der Lauch war extra für Achim. „Arno glaubte, dass ich Lauch mag“, sagt Achim. „Bis ich mir nach vielen Rahmschnitzeln mit Lauchgemüse ein Herz fasste und Arno die Wahrheit sagte: Ich verabscheue Lauch. Arno brach vor Lachen fast zusammen.“

Arno und Achim arbeiteten zusammen in der Baugruppe der Kreuzberger Regenbogenfabrik. Die Regenbogenfabrik ist eines der alternativen, sozialen Projekte, die in den achtziger Jahren in Kreuzberg entstanden. Es gibt heute auf dem Gelände eine Kita, ein Kino, Seminarräume, einen Fahrradverleih mit Werkstatt, Tischlerei, Kantine, Café, eine Kuchenbäckerei. Und ein Hostel. Bis auf einen kleinen Senatszuschuss zum Betrieb der Kita und einigen Beschäftigungsmaßnahmen vom Jobcenter trägt sich das Projekt selbst.

Achim zeigt ein Foto, auf dem Arno einen Bagger steuert. „Das war 2007, da haben wir die alte Remise für den Neubau des Hostels ausgemistet“, erklärt Achim. Die Bäume werfen Schatten in das Zimmer im Seitenflügel der Kreuzberger Regenbogenfabrik, in dem Achim wohnt. Die frisch verputzte Wand des Hostels auf der anderen Seite des Hofes reflektiert das Sonnenlicht. „Diese Wand haben wir noch zusammen hochgezogen, vor zwei Jahren“, sagt Achim. Er nennt Arno den Filigranen, weil er auf dem Bau immer dort eingesetzt wurde, wo es auf Genauigkeit ankam.

Arno und Achim sind in Zweibrücken in der Pfalz aufgewachsen. Sie besuchten die gleiche Schule. Achim wurde Autoschlosser, Arno Dreher. Nach der Ausbildung schraubten sie am Fließband der gleichen Firma Türen für Wohnwagen zusammen. Arno ging zum Bund. Achim flüchtete nach Berlin, als der Einberufungsbefehl im Briefkasten lag.

Achim beobachtete damals die Besetzung der heruntergekommenen, leer stehenden Chemiefabrik Albert Carl in der Lausitzer Straße in Kreuzberg. Das war 1981. Die Besetzter nannten sie dann Regenbogenfabrik. Achim arbeitete in einer Fahrradwerkstatt im Kiez. Aus Solidarität mit den Besetzern verlegten sie ihre Werkstatt auf das Gelände der Regenbogenfabrik.

Arno lebte damals noch in der Pfalz, er besuchte seinen Freund gelegentlich in Berlin. Bei einem der Besuche verliebte sich Arno in ein Mädchen, wenig später zog er zu ihr nach Berlin. In der Regenbogen-Fahrradwerkstatt gab es ausreichend Arbeit für ihn. Arno fing dort an. Später ging er mit Achim in die Baugruppe.

Einmal hatte Arno seine Bleibe in der Regenbogenfabrik verlassen. Er zog zu einer Frau, die er kennengelernt hatte, in eine Wohnung im Wedding, mit Schrankwand, Kanarienvögeln und Nachtspeicheröfen. Gemeinsam zogen sie die neunjährige Tochter von Arnos Lebensgefährtin auf. Arno brauchte Geld. Er gab seinen Job in der Regenbogenfabrik auf und fing bei einer Baufirma an.

Die Freundschaft zwischen Arno und Achim blieb. Achim kam regelmäßig zum Fußballgucken vorbei. Arnos Frau erkrankte an Krebs, er pflegte sie in ihrem Elternhaus bis zu ihrem Tode. Achim schaute regelmäßig nach dem Freund. Arno kümmerte sich nach dem Tod der Mutter weiter um die Tochter, er bereitete Rahmschnitzel für sie, beriet sie in Beziehungsfragen, sorgte für die Französisch-Nachhilfe und bezahlte ihre Ausbildung. Er hielt die Nachtspeicheröfen am Heizen, bis das Mädchen sich verabschiedete und zu seinem Freund nach Hamburg zog. Arno zog, das war 1996, zurück in die Regenbogenfabrik und arbeitete weiter mit Achim in der Baugruppe.

An einem Tag im Mai 2007 kippte Arno auf der Baustelle um. Achim fuhr mit seinem Freund ins Krankenhaus. Stundenlang wartete er, bis Arno mit den Röntgenaufnahmen unter dem Arm von den Untersuchungen zurückkam. „Ich habe einen Tumor im Kopf, die Ärzte sagen, ich kann noch zwei Jahre damit leben, hat Arno nur gesagt“, erinnert sich Achim. Achim nahm ihn einfach in die Arme. Sie hatten nie viele Worte gemacht.

Arno hat dann nicht mehr gearbeitet, aber er blieb in der Regenbogenfabrik. „Wir glaubten, Arno wäre die Ausnahme, der eine von hundert, der durchkommt“, sagt Achim. Arno kam nicht durch. Als es zu Ende ging, zog er zurück in die Pfalz. Zwei Jahre nach der Krebsdiagnose ist er in seinem Elternhaus in Zweibrücken gestorben.

Im Café der Rgenbogenfabrik haben sich an diesem Sommertag Freunde von Arno versammelt. Es ist ein Raum mit groben Dielen, auf denen schwere, nackte Eichentische stehenm, er ähnelt eher einer Kneipe und es wird hier wohl auch mehr Bier als Kaffee getrunken. Marion ist gekommen, Arnos erste Freundin in Berlin. Ihr trotziger Blick und die kurzen, dunklen Haare erinnern noch an das Mädchen auf einem der Fotos an Achims Wand. Auch Uta Doro ist da, die letzte Lebensgefährtin von Arno, eine kleine Frau Mitte Fünfzig mit hoch angesetzten, dunklen Zöpfen und einer runden Brille, die hier alle nur „Citrone“ nennen. Mit ein paar Mitgliedern von Arnos Baugruppe sitzen sie um den großen runden Tisch. Tabakpäckchen und Papier liegen bereit, das Fenster ist weit geöffnet.

Es wird an diesem Abend in der Regenbogenfabrik viel geraucht und viel Bier getrunken. Geschichten machen die Runde, von früher, als Arno noch gesund war. Lustige Geschichten aus einer vergangenen Zeit. „Eines Nachts, als Arno und Achim wieder mal kein Ende fanden im Café, hab ich Arno einfach eingeladen, bei mir zu schlafen“, gibt Citrone zum besten. „Ich hab ihn einkassiert. Man musste ihn vor Tatsachen stellen, sonst passierte ja nichts. Einen Monat später wurde Arno krank.“

Arnos Freunde am Tisch erzählen von gemeinsamen Ausflügen an die Nordsee und in den Spreewald, von gemeinsamen Fußballabenden und Grillfesten. Die meisten Erinnerungen an Arno haben mit viel Bier zu tun.

„Wir waren doch jeden Abend auf der Piste“, sagt Marion. Sie erzählt von ihren Streifzügen durch die Kreuzberger Kneipen, von Rausschmissen und Beschimpfungen durch die „Spießer“. Das war in den Achtzigerjahren ihre Revolution.

Ein älteres Mitglied der Baugruppe erzählt von Arnos Motivationskünsten. „Los Achim, noch ’ne Stunde, hat er oft auf der Baustelle seinem Freund zugeredet. Danach gehen wir ins Café. Das half.“ Die Tischrunde lacht, Achim knackt das vierte Bier. „Achim und Arno kamen nach den langen Nächten hier im Café ständig zu spät“, erinnert sich der Anleiter der Baugruppe, ein Sozialpädagoge. „Man konnte sich den Mund fusslig reden.“

Citrone ist in den letzten zwei Jahren an Arnos Seite geblieben. Achim hatte sich noch mit Arno in seiner Heimatstadt verabredet, aber es war dann zu spät. Zu Arnos Beerdigung in der Pfalz sind sie alle gefahren. Achim hat da schon nicht mehr in der Baugruppe gearbeitet. Er sagt, er habe gesundheitliche Probleme bekommen. Seitdem ist er arbeitslos.

Afonsos Spur

Berliner Zeitung

Ein junger Mann verschwindet nach einer Clubnacht in Friedrichshain

Die Nacht, in der Afonso Tiago zum letzten Mal gesehen wurde, war kalt, die Spree trug Eis. Es war gegen 3.40 Uhr. Afonso verabschiedete sich von seinem Freund Ivo. Ivo wollte zum Geldautomaten am Ostbahnhof. Afonso nach Hause, in die Forsterstraße in Kreuzberg, auf die andere Seite des Flusses.

Ivo do Carmo ist Portugiese wie Afonso Tiago. Er glaubt, dass Afonso vom Ostbahnhof aus über die Schillingbrücke nach Kreuzberg gelaufen ist. Er lehnt am Geländer der Brücke. Graue Maskenmütze, dunkler Bart, langer Mantel, eine Krawatte über dem Baumwollhemd – er sieht aus wie eine Vorlage für Robert Capas Spanienkämpferporträts. Ein winziges Kreuz zittert an seinem linken Ohr. Afonso sei zu Fuß gegangen, sagt Ivo, da er kein Bargeld dabei hatte.

Der Fluss schwappt träge in Richtung Alexanderplatz. Auf der Kreuzberger Seite führen Stufen hinab zum Wasser. Man braucht nur über die hüfthohe Absperrung klettern.

Die Polizei vermutet, dass Afonso den Heimweg über die Spree abkürzen wollte, auf das Eis gegangen und eingebrochen ist. „Das passt nicht zu Afonso“, sagt Ivo. „Er war kein Abenteurer. Er ist nicht einmal nachts allein durch den Görlitzer Park gelaufen. Er war ein vorsichtiger Mensch, sehr praktisch und direkt, ein Ingenieur eben.“

Afonso und Ivo waren mit zwei Freunden in der „Kantine“, einem Club am Ostbahnhof. Später beschlossen sie, noch ins „Berghain“ rüber zu gehen. Ivo habe Geld gebraucht und sei deshalb zum Ostbahnhof gelaufen. Afonso habe nach Hause gewollt. Er sei absolut sicher, dass ihnen keiner gefolgt sei, sagt Ivo.

Wenn er heute an die Ereignisse dieser Nacht denkt, fällt ihm auf, dass Afonso weniger getrunken hat als es seine Gewohnheit war. Er habe sich lediglich zu drei Bier überreden lassen. „Ich kann nicht sagen, ob er traurig war oder nicht. Afonso war sehr reserviert. Man sah ihm nicht an, was er fühlte.“ Die Polizei hat nach seinen Kontakten aus dem „Berghain“ geforscht. Ivo erinnert sich an eine Frau, die Afonso mal hier getroffen hat. Die Frau war blond. Mehr weiß er nicht über sie, die Polizei hat keine Spur gefunden.

Ivo und Afonso hatten sich im Sommer in einer Bar kennengelernt, kurz nachdem Afonso mit einem Stipendium für ein Praktikum bei „Active Space Technology“, einer wissenschaftlichen Dienstleisterfirma, nach Berlin gekommen war.

„Als ich hörte, dass er verschwunden ist, vermutete ich zuerst eine Frauengeschichte“, erzählt Ivo. „Dann dachte ich, er wäre nach Portugal abgehauen. Ich wusste, dass ihm die Trennung von seiner Freundin schwer gefallen war. Nach dem Praktikum wurde ihm bei seiner Praktikumsfirma eine feste Stelle angeboten. Er hat sich zwar riesig auf eine Zukunft in Berlin gefreut, aber Berlin bedeutete auch die Trennung von seiner Freundin. Sie konnte nicht aus Lissabon weg.“

Die Erinnerungen an den Freund lassen Ivo keine Ruhe. Es gibt so viele weiße Flecken. Ivo merkt, dass er zu wenig weiß. Die Suche nach Afonso wird zur Suche nach einem Menschen, den er kaum kannte.

Die Tür zur Firma „Active Space Technology“ geht von einem gesichtslosen Korridor in einem grauen Neubau in der Wissenschaftsstadt Adlershof ab. Acht Ingenieure und Physiker in Afonsos Alter sitzen in zwei engen Büros vor ihren Computern.

„Ich dachte sofort, dass etwas Schlimmes geschehen sein muss, ein Unfall“, sagt Ricardo Nadalini, der Geschäftsführer. Er mag zehn Jahre älter sein als seine Mitarbeiter. Er sieht müde aus. Ein Ende seines Oberlippenbartes druselt auseinander. Die Wasserflaschen auf seinem Schreibtisch sind zerknautscht. „Er hat sich immer sofort gemeldet. Er war zuverlässig. Als seine Eltern hier anriefen, haben wir sofort in allen Krankenhäusern der Stadt nachgefragt.“

Der Arbeitsplatz von Afonso ist nicht mehr vorhanden, denn an jenem Montag, an dem er nicht erschien, wurden die Tische auseinander geschraubt und neu sortiert. „Wir räumen häufig um“, erklärt Ricardo Nadalini. „Praktikanten kommen und gehen.“ Afonso sei an der Entwicklung von Instrumenten beteiligt gewesen, die später in Sonden zur Erforschung von Mars und Merkur eingesetzt werden sollten. Dass er wegen seines Insiderwissens entführt wurde, hält Nadalini für ausgeschlossen. „Hier gibt es kein Geheimnis.“

Afonso sei ein normaler Mensch gewesen. Er habe das geliebt, was alle jungen Leute an Berlin lieben: Die Clubs und Bars, die Diskotheken. Ansonsten weiß der Chef nichts über sein Privatleben. „Ich sehe Afonso oft“, sagt er noch. „Das sind kurze Momente, mitten am Tag. Er sieht mich an, wenn er draußen steht und raucht. Immer sind es Blicke, an die ich mich plötzlich erinnere.“

Catarina Tiago, die Schwester von Afonso, ist sofort nach seinem Verschwinden von Lissabon nach Berlin geflogen. Ihr Lebensgefährte Nono Gonzaga begleitet sie. Sie leben bei Nonos Cousin in einer Hinterhofwohnung im Prenzlauer Berg. Die Zimmerwände sind in mediterranen Farben gespachtelt. In einem kleinen Raum steht ein Eichentisch aus einem alten deutschen Wohnzimmer. Catarina sitzt reglos, wie eingeklemmt zwischen Tisch und Stuhl. Nur ihre Finger bewegen sich. Sie dreht eine Zigarette.

Seit zwanzig Tagen ist ihr Bruder bereits verschwunden. Noch immer fehlt jede Spur. „Es ist schwer, sich vorzustellen, wie das Leben danach sein wird“, sagt sie. Und es ist nicht ganz klar, was sie mit ‚danach‘ meint. Die Suche oder das Finden oder die Zeit nach Berlin, wenn sie nach Lissabon zurückkehren und ihre Tierarztpraxis weiter führen wird. Ihre Stimme klingt müde. Ihr langes Haar liegt in schweren Streifen auf den Schultern. Der Rhythmus von Wachen und Schlafen, von Hunger, Durst, Essen und Trinken ist dem Rhythmus von Trauer und Hoffnung gewichen.

Wenn ein Mensch stirbt, kann man einen Ort aufsuchen, an dem er ruht. Das ist ein Trost. So merkwürdig es klingt. Wenn ein Mensch verschwindet, gibt es keinen Ort der Ruhe. Als Untoter bleibt er unter denen, die ihn lieben, überlässt sie dem Handel mit dem Tod und dem Handel mit dem Leben. Sie drucken und kleben Plakate. Sie pflastern die Stadt mit den Porträts von Afonso. Die Plakate werden immer mehr und immer größer. Freunde und Bekannte kommen und helfen. Sie streifen nächtelang durch die Finsternis und kleben. „Sehen Sie, er lacht auf jedem Bild.“ Ein sozialer Mensch sei er, jemand, der verantwortlich mit allen umgehe.

Er habe noch nie ein solches Engagement von einer Familie erlebt, sagt Hans-Joachim Blume, Kriminaldirektor der Vermisstenstelle des Landeskriminalamtes. Zwei- bis dreitausend Erwachsene verschwinden jedes Jahr in Berlin. Beinahe alle werden wieder gefunden. „Wir schauen uns jetzt in Portugal um“, sagt er. „Wir möchten wissen, wen er zuletzt von seinem portugiesischen Handy aus angerufen hat.“ Dass Afonso verreist ist, hält die Polizei für ausgeschlossen. Auf seinem Konto bewegt sich nichts.

Es gäbe eine Besonderheit, sagt Blume. Beide Telefone, das portugiesische und das deutsche Handy, seien zur genau gleichen Zeit vom Netz gegangen, in unmittelbarer Nähe des Ostbahnhofes.

Doch keiner der Passanten, die zwischen den Partybezirken Kreuzberg und Friedrichshain pendelten, keiner der Taxifahrer, habe in dieser Nacht einen Unfall oder ein Verbrechen beobachtet. Keinen Schrei. Keinen Aufprall im Wasser. Nicht das Bersten von Eis. In der Nähe der Schillingbrücke haben die Taucher nichts gefunden. Im Winter seien die Strömungsverhältnisse unklar, so dass man nicht wisse, wo in den vielen Gewässern Berlins man eine nächste Tauchaktion unternehmen könne. „Wir müssen das Frühjahr abwarten“, sagt Hans-Joachim Blume.

Lillys Klavier

Berliner Zeitung

Ein Mädchen aus Schöneberg hat wenig Geld, aber gute Ideen

Wenn Lilly und ihr Bruder Robin morgens aus dem Haus treten, rollen die Blumenverkäuferinnen nebenan die Rosenbüsche und Palmen hinaus auf den Bürgersteig und die Buchhändlerin sucht wie jeden Tag vergeblich einen Parkplatz vor ihrem Geschäft. Lilly und Robin wohnen am Bayerischen Platz in Schöneberg.

Die meisten halten die beiden für Zwillinge. Robin ist nicht einmal ein Jahr älter als Lilly. Sie haben dasselbe blonde Haar, in dem einige Strähnen dunkler und andere heller sind. Und sie haben die gleichen karamellbraunen Augen. Am Nachmittag gehen die Geschwister entweder töpfern oder zum Judo oder in die Musikschule. Robin lernt Schlagzeug, Lilly Klavier spielen.

Eines Tages sagt die Lehrerin, Lilly brauche jetzt ein richtiges Klavier zum Üben. Das Keyboard reiche nicht mehr aus. Am Bayerischen Platz in Schöneberg gehören Klaviere ebenso selbstverständlich in den Alltag neunjähriger Mädchen wie Blumen und Bücher in die Wohnzimmer der Eltern. Doch Lillys Mutter hat gerade keine Arbeit. Das Geld ist knapp.

Lilly möchte deswegen mit keinem Mädchen am Bayerischen Platz tauschen. Sie ist viel zu sehr Abenteurerin, als dass sie sich wünschte, das Geld für ein Klavier einfach von der Sparkasse holen zu können. Ein neues Klavier zu kaufen, wenn man gerade kein Geld hat, das ist eine Herausforderung ganz nach ihrem Geschmack.

Als die Sommerferien zu Ende gehen, macht Lilly sich an die Arbeit. Sie wirft das lange, blonde Haar in den Rücken und zeichnet eine Annonce, die sie am nächsten Tag in verschiedenen Läden und in der Musikschule an die schwarzen Bretter pinnt. Am Abend bäckt sie mit ihrer Mutter einen Pflaumenkuchen und viele Muffins.

Ein Verkaufsstand ist bald gefunden: Das leere Gestell des verlassenen Lebensmittelladens, auf dem noch vor kurzem die Stiegen für Tomaten, Zwiebeln und Salate standen. Lilly und Robin breiten ein Tuch darüber, malen Noten darauf und stellen ihre Ware dorthin. Auf dem Bürgersteig platzieren sie einen bunt bemalten Schuhkarton mit einem breiten Schlitz im Deckel. „Wir sparen für ein Klavier“, steht auf dem Karton. „Selbst gebackene Kuchen“, ruft Lilly den Passanten zu. „Mit frisch geernteten Pflaumen aus dem Oderbruch.“

Einige Leute halten vor dem Stand inne, nicken, lächeln und gehen weiter. Ein älterer Herr läuft mit gesenktem Kopf vorüber. Seine Nase hängt wie ein dicker Tropfen aus dem Gesicht. Plötzlich bleibt er stehen und kommt zurück. Er hebt nur kurz den Kopf und lächelt die Kinder an. Dann steckt er zehn Euro in den Schuhkarton. Seine Hände zittern leicht. Kuchen möchte er nicht nehmen. Er hat gerade keinen Appetit. Später kommen andere Schöneberger, die gern Muffins und Pflaumenkuchen kaufen.

Nach zwei Tagen verliert Robin die Lust an dem Job für seine Schwester. Lilly möchte weitermachen. Die Marktfrau ist für sie nur eine weitere lustige Rolle des Lebens. Lilly zählt das Geld. Achtzig Euro haben sie an zwei Nachmittagen verdient.

Als erstes meldet sich eine ältere Frau auf Lillys Annonce. Sie sagt, sie habe ein Klavier zu verschenken. Doch als Lilly und ihre Mutter zur verabredeten Zeit bei ihr klingeln, öffnet niemand die Tür.

Die Mutter ersteigert ein Klavier auf Ebay. Es wird mit einem zerbrochenen Bein geliefert. Nachts hören sie die Holzwürmer darin kratzen. Lillys Mutter muss einen Anwalt nehmen, um das Klavier wieder los zu werden und ihr Geld zurück zu bekommen.

Im Oktober geschieht etwas Merkwürdiges. Die Dame ein Stockwerk tiefer hat gehört, dass Lilly ein Klavier sucht. „Ich weiß nicht, ob es dir gefallen wird“, sagt sie. „Es ist schon sehr alt.“ Lilly trippelt ungeduldig hinter ihr ins Wohnzimmer. Wegen der schweren Tüllgardinen ist es dämmrig darin, doch der rötlichbraune Deckel des Klaviers und die gedrechselten Beine glänzen wie frisch poliert. „Ich habe mir immer ein altes gewünscht“, sagt Lilly und hält ihre Hände fest, damit sie das Klavier nicht aus Versehen streichelt. Sie ist nicht sicher, ob man ein Klavier, das einem noch nicht gehört, unter den Augen der Besitzerin einfach streicheln darf. Die Nachbarin schlägt den Deckel auf und nimmt das schwarze, blumenbestickte Filztuch von den Tasten. Hier und dort sind sie schon etwas vergilbt. Im Deckel ist der Name des Herstellers in Intarsien eingelegt: Julius Machalet Berlin.

„Darf ich?“ Lilly trippelt.
„Natürlich, probiere es aus.“ Die Nachbarin zieht den Hocker darunter hervor. Lilly rutscht auf dem Hocker hin und her. Dann spielt sie eines ihrer Lieblingsstücke, den ukrainischen Tanz, den sie ganz zu Beginn des Klavierunterrichts gelernt hat.

Sechshundert Euro möchte die Nachbarin für das Klavier haben. Ihre Tochter habe einst darauf gelernt, doch die sei schon lange ausgezogen. Vorher, erzählt die alte Dame, habe das Klavier bei einer Familie im dritten Stock gestanden.

Lilly mag nicht rechnen, wie viel Kuchen sie noch verkaufen müsste, um das Klavier bezahlen zu können. Sie rechnet nicht gern und traut ihren Ergebnissen nicht.

Zum Glück zahlt Oma den Rest. Oma, die von Beruf Sängerin war und mit Opa und einer berühmten Big Band durch die DDR tourte. Nach Opas Tod ist Oma zu ihnen an den Bayerischen Platz gezogen, in eine sehr kleine Wohnung. Sie sagt, sie brauche jetzt nicht mehr so viel Platz. Außerdem habe sie ja noch das Grundstück im Oderbruch. Da fahren Lilly, Robin und ihre Mutter jedes zweite Wochenende hin. Sie toben durch die Wiesen und reiten und musizieren zusammen.

Lillys Mutter ist auch Sängerin. Außerdem spielt sie Gitarre und Singende Säge. Aber das ist nicht ihr Beruf. Sie hat gelernt, Hüte und Kleider und Taschen zu entwerfen und zu nähen. Das Kleid, das Lilly zum Vorspielen in der Musikschule zu Beginn der Sommerferien trug, hat die Mutter genäht. Dazu bekam Lilly neue Schuhe, schwarze Ballerinas, etwas zu groß, aber sie haben Sohlen hinein gelegt. Schließlich sollen die Schuhe im nächsten Jahr noch passen.

Obwohl die Mutter viele Kleider, Hüte und Taschen entwirft und näht, hat sie noch nie in ihrem Beruf gearbeitet. Gleich nach dem Studium half sie in der Arztpraxis ihres Mannes mit. Doch seit sich die Eltern von Lilly und Robin getrennt haben, möchte die Mutter nie mehr in einer Arztpraxis arbeiten. Jetzt lernt sie einen neuen Beruf. Sie wird Eventmanagerin, weil ihr das Organisieren von Festen und Konzerten fast so viel Spaß macht wie das Entwerfen und Nähen von Hüten, Kleidern und Taschen.

Betritt man das alte Haus am Bayerischen Platz, durchquert man einen marmornen Flur mit blank gewienerten Spiegeln und läuft eine gewundene Treppe hinauf. In Lillys Wohnung sieht es aus wie bei Leuten, die am liebsten musizieren, töpfern, schneidern und basteln. Gegenüber dem riesigen Spiegel im Flur stehen ein bunt bemalter Marterpfahl und eine schwarze Kleiderpuppe, die einen Hut mit einem Schleier und einen breiten Gürtel trägt.

An einem Vormittag im November wird das alte Klavier hinauf getragen.

„Wo ist es? Wo ist es?“ Lilly wirft die Schultasche neben den Marterpfahl und stürzt in das Nähzimmer ihrer Mutter. Das Klavier steht an der Wand mit den Familienfotos. Lilly umarmt es zur Begrüßung. Ihre ausgebreiteten Arme reichen nicht ganz über alle Oktaven. Lilly schlägt den Deckel auf. Sie nimmt das blumenbestickte Tuch von den Tasten und beginnt zu spielen. Sie spielt den letzten Satz des 109. Menuetts von Mozart, den sie nicht so gut leiden kann, weil er so schwierig ist. An derselben Stelle wie immer beißt sie die Zähne zusammen und schneidet eine Grimasse. Macht nichts. Das war schon richtig so.

Contra familia

Berliner Zeitung

Eine Frau aus Usbekistan muss einen Deutschtest bestehen, bevor sie zu ihrem Verlobten nach Hannover darf. In ihrer Heimat ist das fast unmöglich

Die Frau auf dem Foto hat glattes, blondes Haar. Sie trägt einen schwarzen Bikini. Durch ein Holzspalier fallen schräge Lichtstreifen auf ihre fein modellierten Schultern und die schlanken Arme. Ein Mann schmiegt sich an sie. Das Paar sitzt in einem Restaurant an einem Strand.

Das Foto steckt in einem grauen Metallrahmen, der das Logo der ISAF, der Internationalen Schutztruppe, trägt. Zwischen dem grünen Logo und dem Strand-Bild zeigt eine digitale Leiste die Zimmertemperatur, Datum und Uhrzeit an. Die Temperatur in der Wohnung von Ralf Kretzschmar in Hannover-Kleefeld beträgt 21° Celsius. Es ist der 17. November. Die Uhr läuft nach Sommerzeit. Kretzschmar hat vergessen, sie zu stellen. Er will sich nicht mit der Zeit beschäftigen. Stunden, Tage, ein Winter und ein Sommer sind vergangen, seit er Elena das letzte Mal gesehen hat. Einmal am Tag jedoch, bevor er sie anruft, schaut er auf die Armbanduhr und rechnet die Zeit um. In Termez, Usbekistan ist es vier Stunden später als in Hannover.

Elena Batirgarieva, seine Verlobte, darf ihn in Deutschland nicht besuchen. Sie muss erst einen Deutschtest bestehen, die Prüfung A1 des Goethe-Instituts. Einmal ist sie schon durchgefallen.

„Am Telefon übe ich mit ihr Redewendungen, Grammatik und das Zählen“, sagt Ralf Kretzschmar. „Jetzt kommt sie fast fehlerfrei bis vierzig.“

Der Hauptfeldwebel in Reserve, Ralf Kretzschmar, versteht nicht, wieso er Elena erst heiraten darf, wenn sie auf Deutsch nach seinem Lieblingsessen essen fragen kann. Mit dem richtigen Fragewort und einem ordentlichen Satzbau dahinter, versteht sich. „Wieso kann sie es nicht hier lernen? Das würde doch viel schneller gehen.“

Auf diese Frage gibt es mehrere mögliche Antworten. Eine könnte lauten: Elena muss den Deutschtest vor dem Antrag auf Einreise bestehen, weil sie Friseuse ist.

Die große Koalition begründete die Änderung des Aufenthaltsgesetzes vor einem reichlichen Jahr damit, Zwangs – und Zweckehen zu verhindern und die Integration der Einwanderer zu erleichtern. Jeder sollte, bevor er nach Deutschland kommt, Grundkenntnisse der deutschen Sprache nachweisen. Das klingt nicht unvernünftig. Doch das Gesetz betrifft gar nicht jeden. Menschen aus den USA, Kanada, Australien, Japan, Israel und der Republik Korea sind von der Bestimmung ausgeschlossen. Menschen mit einem Hochschulabschluss ebenfalls. Man geht davon aus, dass sie leichter eine Arbeit finden und schneller integriert sind. Für den nicht akademischen Rest der Welt endet die Reise nach Deutschland häufig im Goethe-Institut. Denn es gibt Orte, da kann man nicht deutsch lernen.

Termez in Usbekistan liegt an der Grenze zu Afghanistan. Es ist eine kleine Stadt, etwa so groß wie Cottbus, schätzt Ralf Kretzschmar. In der Nähe von Cottbus wurde er vor vierzig Jahren geboren. Im Herbst 2005 war Kretzschmar im Militärstützpunkt Termez im Einsatz. Dort steigen die deutschen Soldaten vom Airbus 310 aus Köln in Hubschrauber und Transportmaschinen nach Afghanistan um.

Er habe Elena in einer Diskothek getroffen, erzählt er. Bes Musch, habe sie gesagt, sie sei ohne Mann. Er kratzte seine Russischkenntnisse aus der Schulzeit zusammen, um sich mit der hübschen Frau zu unterhalten. Elenas Mutter ist Russin, der Vater Usbeke. Damals lebte sie mit ihrem fünfjährigen Sohn Ruslan bei der Mutter. Zwar arbeitete sie als Sekretärin bei einem Arzt, doch für eine eigene Wohnung hätte das Einkommen der 27jährigen nicht ausgereicht.

Ralf Kretzschmar mietete in Termez eine kleine Wohnung für sich und seine Freundin und deren Sohn. Einige Monate später war Elena schwanger. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie bereits über Heirat gesprochen und ein gemeinsames Leben in Deutschland. „Niemals hätte ich geglaubt, dass das so schwierig wird.“

Am 14. Februar 2007 brachte Elena ihre Tochter Anna zur Welt. „Am Valentinstag“, sagt Kretzschmar. Es ist sein erstes Kind. Zu dieser Zeit war sein letzter Auslandseinsatz längst beendet. Zurück in Hannover, hatte er sein Büro im Dezernat für Soziale – und Fürsorgeangelegenheiten wieder bezogen. Seine Tochter Anna hielt er ein halbes Jahr später das erste Mal im Arm, als er seinen Urlaub mit der Familie in Termez verbrachte. Zu dieser Zeit entstand das Foto in der Strandbar.

Mit einem deutschen Vater hätte Anna das Recht, bei ihrem Vater in Deutschland zu leben. Doch Elena ließ sich erst drei Monate nach Annas Geburt von ihrem ersten Mann, von dem sie bereits getrennt lebte, scheiden. Zwar wies Ralf Kretzschmar später durch einen Test nach, dass er der Vater von Anna ist, doch das Mädchen ist juristisch noch in Elenas erster Ehe geboren.

„Zu dieser Zeit waren wir alle fast am Durchdrehen“, sagt Kretzschmar. „Damit hatte niemand gerechnet.“ Die Papiere für die Eheschließung waren alle bereits besorgt, übersetzt, beglaubigt und noch einmal auf Anweisung der Deutschen Botschaft überprüft.

Die karierte Decke des Wohnzimmertisches ist ein wenig verrutscht unter dem Gewicht der Dokumente. Sehr sauber und glatt der Stapel, jedes Blatt steckt in einer Folie, kein Eselsohr, nirgendwo ein Kaffeefleck.

Der Beamte Kretzschmar schildert seinen Fall mit großer Sachlichkeit. Er spricht schnell und beherrscht. Er hat gelernt, seine Geschichte in klaren Sätzen, detailgetreu zu erzählen, ohne sich in Nebensächlichkeiten zu verlieren. Einmal erwähnt er beiläufig, dass er ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen musste, um das alles durchzustehen.

Er schildert, wie er seine Verlobte Elena zur Sprachprüfung am Goethe-Institut in Taschkent anmeldete. Er blättert in seinen Papieren nach der Gesprächsnotiz. Der Mitarbeiter des Instituts habe seinen Namen nicht nennen wollen. Sein Name täte nichts zur Sache. Elena solle am 4. Juni 2008 mit ihrem Pass und 90.000 Sum zur Prüfung erscheinen. Die Summe entspricht ungefähr 60 Euro und dem monatlichen Spitzeneinkommen eines Usbeken.

„Eine Woche vor der Prüfung habe ich noch einmal im Goethe-Institut in Taschkent angerufen“, erzählt Kretzschmar. „Diesmal war eine Frau am Apparat. Auch sie wollte ihren Namen nicht nennen. Sie sagte, die Anmeldefrist sei abgelaufen. Elena müsse noch heute bezahlen.“
„Termez liegt 600 Kilometer von Taschkent entfernt, ungefähr so weit wie von Hannover nach München“, erklärt Ralf Kretzschmar. „Nur dass es dort keine A2 und keine A7 gibt. Die Usbeken haben auch keine Girokonten, von denen sie mal schnell eine Überweisung machen können.“

Kretzschmar beschwert sich bei der Deutschen Botschaft und erreicht immerhin, dass seine Verlobte die Gebühr erst zwei Tage vor der Prüfung entrichten muss. Von 20 Teilnehmern seien 18 durch die Prüfung gefallen, berichtet Kretzschmar.

In die Beratung des Vereins für binationale Familien kommen seit einem Jahr immer wieder Betroffene, deren Partner in ihrer Heimat keine Möglichkeit haben, deutsch zu lernen. Ralf Kretzschmar trifft dort den Zahntechniker Asadullah Saddat. Er lebt seit seinem sechzehnten Lebensjahr in Deutschland. Vor vier Jahren hat er in seiner alten Heimat Afghanistan geheiratet. Seine Frau darf ihn nicht besuchen. „In Afghanistan kann eine Frau nicht Deutsch lernen“, sagt Saddat. „Sie kann überhaupt nichts lernen. Sobald eine Internationale Hilfsorganisation eine Schule für Frauen baut, bomben die Taliban sie weg.“ „Stimmt“, sagt Kretzschmar. „Das habe ich selbst gesehen, als ich in Afghanistan im Einsatz war.

Hiltrud Stöcker-Zafari, Beraterin im Verein für binationale Familien, weiß manchmal nicht mehr, wie sie den Paaren noch helfen kann. Die neueste Info-Broschüre des Vereins heißt: „Haben Sie noch eine Idee?“ Obwohl der Verein längst nicht die einzige Organisation ist, die in der aktuellen Fassung des Aufenthaltsgesetzes Verstöße gegen das Grundgesetz sieht, fehlt es dem Verein schlicht an Geld, sich durch die Instanzen bis vor das Verfassungsgericht zu klagen. „Ich kann doch keinem Paar raten, zu klagen“, sagt Hiltrud Stöcker-Zafari. „Das kostet Geld und Zeit. Die Paare brauchen sofort Hilfe. Eher rate ich ihnen, ins europäische Ausland zu ziehen.“

Asadullah Saddat hat sich jetzt in London nach Lebens – und Arbeitsmöglichkeiten umgesehen. „Ich würde gern in Deutschland bleiben. Ich liebe meine Arbeit. Aber ich kann nicht mehr. Ich muss einen Weg für meine Frau und mich finden.“

„Wir sind beide Deutsche“, sagt der Beamte Kretzschmar. „Und wir werden im eigenen Land diskriminiert.“

Neben den Erfahrungen dieser Männer wirkt das Argument von SPD-Abgeordneten Dieter Wiefelspütz wie aus dem tiefsten Plüsch eines alten Ohrensessels. Es könne doch nicht so schwer sein, 600 Worte deutsch zu lernen und davon 300 anzuwenden.

Der CDU-Politiker Peter Uhl will für den Hauptfeldwebel in Reserve ein Wort beim Auswärtigen Amt einlegen. Er müsse sich aber verpflichten, die Kosten für den Deutschkurs in Hannover und eine eventuelle Abschiebung zu tragen. Ausgerechnet Uhl, der auf seiner Website behauptet, es widerspräche dem öffentlichen Interesse, wenn eine Person ohne Deutschkenntnisse ins Land kommt.

Ralf Kretzschmar hat sich bereits nach Sprachkursen für Elena erkundigt. Sein Arbeitgeber und der Verein für binationale Familien bieten Hilfe bei der Kinderbetreuung an. „Vielleicht kann Elena mit den Kindern am Jahresende kommen. Dann könnten wir Annas zweiten Geburtstag noch zusammen feiern.“

Der Verein für binationale Familien setzt auf Lobbyarbeit und hofft, dass die Politiker begreifen, dass die aktuelle Fassung des Aufenthaltsgesetzes an der Lebensrealität vieler Deutscher vorbei geht. „Man hat mir allerdings gesagt, dass sich in dieser Legislaturperiode nichts mehr tut“, sagt Hiltrud Stöcker-Zafari. „Denn jetzt beginnen die Parteien, ihren Wahlkampf vorzubereiten. Es wird Sache der nächsten Regierung sein, sich erneut damit zu beschäftigen.“

Das kann dauern. Währenddessen lernt Elena weiter deutsch. Sie lebt jetzt mit ihrer Schwester und deren Mann und Kindern in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Es dürfte schwierig sein, auf so engem Raum eine Ecke zum Lernen zu finden. „Manchmal ist sie am Telefon nur noch genervt“, sagt Ralf Kretzschmar. „Es ist alles zu viel.“

Treibstoff der Poesie

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Keine Kalorien-Tabelle verrät, wie viel Energie beim Bücherschreiben verbraucht wird. Ernährungsexperten fächern das Spektrum der menschlichen Tätigkeiten in unterschiedlich anstrengende Beschäftigungen wie Fitnesstraining, Autofahren, Hundeausführen und Fernsehen. Die Poesie kommt darin nicht vor.
Der Schriftsteller sitzt am Schreibtisch. Das sieht leicht aus. Von außen wirkt er relativ unbewegt, und solange man ihn nicht anspricht, sogar entspannt.
Er wirkt, als lebte er von Luft und Duft und gelegentlich einer Handvoll Haselnüssen. Die Künstler selbst tun wenig, diesen Irrtum aus der Welt zu schaffen.
Keiner spricht über die Mühen. Eher lakonisch lassen die Dichter die Schwierigkeiten mit den Worten anklingen. Man ahnt den Ringkampf mit der Sprache. Dass er sie häufig vom Monitor weg, in die Defensive in Richtung Küche treibt, dieses Detail des künstlerischen Prozesses halten sie nicht der Rede wert. Eine Nachfrage offenbart pikante Gewohnheiten.
Die Literaturübersetzerin Elina Kritzokat gesteht, dass manche Schreibunterfangen so bedrohlich scheinen, dass sie sich mit einem extra vollen Magen dafür präpariert. »Man lernt ja schon als Baby, dass Sicherheit sich durch Essen einstellt.«
Es kann nicht verkehrt sein, sich derart zu bevorraten, denn immerhin verschlingt der Kopf zwanzig Prozent unseres gesamten Energiebedarfes. Wissenschaftler behaupten zwar, es spiele dabei keine Rolle, ob jemand viel oder wenig denkt. Dichten würde demnach nicht mehr Energie verbrauchen als Briefesortieren.
Dem widersprechen Berichte wie die von Jens Sparschuh. Er sagt: » Das Schreiben macht mich sehr hungrig, mehr als Gartenarbeit.« Vermutlich haben die Wissenschaftler bei ihren Berechnungen die Kunst außen vor gelassen. Kunst lässt sich eben nicht in Kalorien umrechnen. Es ist bekannt, dass kreative Denkprozesse ziemlich viel Dampf im Kopf erzeugen. Doch woher kommt diese Energie?
Jenny Erpenbeck schleicht hin und wieder zu ihrem geheimen Vorrat an Salzlakritz und quitschsauren Gummis. Tamara Bach zerfetzte ihre Lippen mit Salt & Vinegar-Chips, während sie ihre mehrfach preisgekrönten Jugendromane »Marsmädchen« und »Jetzt ist hier« schrieb. Sogar Richard Wagner, der ein äußerst ambivalentes Verhältnis zur Küche hat, sucht diese gelegentlich am Vormittag auf, um sich einige Röllchen einer deftigen italienischen Salami abzuschneiden, wenn er mal nicht weiter weiß.
Poeten brauchen offenbar starke Geschmacksreize. Wie sollten sie auch Werke komprimierten Lebens schaffen, wenn sie sich von blassen Flocken oder Blättern ernährten? Jenny Erpenbeck drückt es so aus: »Manchmal braucht man etwas Physisches, damit die Gedanken kein Übergewicht bekommen.«
Süße, Säure, der Geschmackskick eben, hilft offenbar, die Kopflast auszutarieren, die kreative Lust zu zügeln.
Für die Literatur zerstören die Autoren ihre Zähne, ihre Haut, den Magen und die Arterien. Vielleicht spielte Peter Rühmkorf auf diese Diskrepanz zwischen Kunst und Gesundheit an, als er sagte: »Wer sich nicht ruiniert, aus dem wird nichts.«

Tanja Dückers bekennt sich öffentlich als Schokoholic. »Schokolade erdet mich«, sagt sie. »Sie verhindert, dass der Geist beim Schreiben völlig in luftige Höhen abdriftet.«
Tanja Dückers macht hedonistischen Shopping-Touren durch die süßesten Läden Berlins und lässt ihre Schokoladentafeln offen auf dem Schreibtisch liegen, mindestens zwei, bevorzugt helle Bitter oder satte Vollmilch, fair gehandelt und beim Fachhändler erworben. Ausführlich informiert sie sich über neue Sorten mit gewagten Gewürzkombinationen und probiert sie alle aus. Dückers genießt und steht dazu. Wenn sie gerade keine Schokolade isst, denkt sie über Schokolade nach. Sie beschäftigt sich mit Sorten, Lagen und Ernten, mit der wirtschaftlichen Situation der Anbauländer und der sozialen Lage der Kakaobauern. Sie studiert Rezepte und Trends und verfolgt den Streit um die Prozentpunkte, ab wann sich eine Schokolade bitter oder halbbitter nennen darf.
Die New Yorker Autorin Lily Brett hat allen Treibstoffen der Künstler abgeschworen und komprimiert den Verzicht auf Zucker, Schmalz, Alkohol und Nikotin, indem sie sich exzessiv mit ihren Ess-Störungen auseinandersetzt. Sie ist das prominenteste Beispiel der neurotischen »hypermodernen Esser«. Lily Brett isst niemals nur des Genusses wegen, sondern um sich mit Mineral –und Ballaststoffen, Vitaminen, Polyphenolen, Omega-3-Fettsäuren und ausreichend Flüssigkeit auszustatten.
Was ist es, das uns im Innersten zusammenhält, im Magen, dem die traditionelle chinesische Medizin das Element Erde und den süßen Geschmack spätsommerlicher Ernten zuordnet? Keine Berufsgruppe scheint so anfällig für Extremernährung wie die der Künstler.
Die junge Autorin Tamara Bach pflegt ein freundschaftliches Verhältnis zu ihrer Küche. Noch. Sie schreibt, raucht, isst und rockt darinnen. Gelegentlich wirft sie dabei Vasen und Teetassen um. Macht ja nichts. Den Laptop hängt sie anschließend zum Trocknen über den Herd.
Doch je reifer die Dichter, desto disziplinierter und bewusster wird ihr Umgang mit den Gefahrenklassen. Sie schätzen deren inspirierende Wirkung hoch und lassen sich nur noch selten vom Mangel an einem Wort willenlos in Richtung Keksdose treiben. Selbst Tanja Dückers beschränkt den Schokoladenkonsum inzwischen auf maximal eine halbe Tafel pro Tag.
Auch Richard Wagner mag neben den erwähnten Salamihäppchen zwischendurch mal ein Stück gute Schokolade mit hohem Kakaoanteil. »Das regt an und belebt. Schreiben ist ja auch eine sinnliche Erfahrung. Das ist aber auch das Einzige, was ich in der Küche mache. Denn ich koche nie.« Das hängt mit seiner persönlichen Geschichte zusammen. Er stammt aus Rumänien, 1987 kam er in die Bundesrepublik. »Anfang der Achtzigerjahre gab es in Rumänien wenig zu essen. In den Restaurants wurde kaum etwas angeboten. Ich musste jeden Tag selber kochen. Das war aufwändig. Als ich nach Deutschland ausgereist bin, habe ich mir geschworen, nie wieder zu kochen.« Heute isst er jeden Tag um die gleiche Zeit in dem kleinen italienischen Bistro in seiner Straße. Nach der Arbeit am Schreibtisch taucht er mit Bauarbeitern, Handwerkern und Angestellten in den Lärm der Straße, schaut den Köchen zu, wie sie Teig kneten und wenden und werfen und blitzschnell belegen. Er wählt sorgfältig aus und lässt sich Zeit für seine Mahlzeit.
Jens Sparschuh schlendert gern abends über den Wochenmarkt. Er betrachtet das Gemüse, prüft es, entwirft ein Abendessen für die Familie. Er passt das Ritual des Essens dem Kreislauf der Natur an und kauft nur saisonales Gemüse. In der Küche, am Herd oder in der Nähe eines Steinofens findet der Dichter die Verbindlichkeit wieder, die sein vagabundierender Geist während der Arbeit aufgibt. »Es ist ja gar nicht wahr, dass wir freien Künstler so frei sind«, sagt Jens Sparschuh. »Da drücken Termine. Du musst heute dahin und morgen dorthin.« Er hat nicht etwa eine Abneigung gegen Ortswechsel an sich. Im Gegenteil. Wie die meisten Schriftsteller empfindet er das Reisen als anregend.
In jedem Fall unterbrechen sie die Rituale des Essens. Wieder muss sich der Dichter dem Frühstücksbuffet in einem Hotel ausliefern, den immer gleichen gummiartigen Käse – und fettigen Wurstsorten, überzuckerten Cornflakes, zerkochten Kompotten und Billigmarmeladen. Wieder bekommt er nach den Lesungen und am Rand der Empfänge nur miese Salzbrezeln zu knabbern und dazu billigen Sekt, selbst, wenn der Bürgermeister spricht. Lesereisen sind meist eine kulinarische Tortur. Der Schriftsteller denkt an den Kräuterquark zu Hause im Kühlschrank, an die Bio-Kartoffeln, die er in der Schale röstet. Er sehnt sich nach einer Gemüsesuppe. Es geht ihm wie schon seinem Kollegen Oscar Wilde vor hundert Jahren: »Ich schwärme für die einfachen Genüsse. Sie sind die letzte Zuflucht der Komplizierten.«
Lily Brett hätte eine Lesereise durch Europa beinahe abbrechen müssen, weil ihre Portionen, die sie von zu Hause voraus geschickt hatte, im falschen Hotel angekommen waren. Tanja Dückers litt auf ihren Studienfahrten durch die osteuropäischen Länder unter dem Mangel an guter Schokolade, bis sie doch noch einige schmackhafte Sorten entdeckte: Polnische Kastanienschokolade und rumänische Karamellpralinen.
Thomas Brussig mag vor allem die italienische Küche. »Ich habe noch nie jemanden mit so viel Genuss essen sehen wie ihn«, erzählt seine Assistentin Kathrin Thienel. »Es ist unbeschreiblich. Seine Augen leuchten. Er sieht so glücklich aus.« Thomas Brussig wollte das Thema nicht selbst besprechen. Also ließ er seine Assistentin von seinen Kochkünsten schwärmen. »Nirgendwo habe ich so einen guten Latte Macchiato getrunken und das will etwas heißen. Ich habe immerhin 18 Jahre lang in Italien gelebt“, erzählt Kathrin Thienel.
Jeden Nachmittag bereite er ihn zu. »Dazu gibt es eine Süßigkeit, ein Stück Kuchen. Zum Arbeiten trinkt er aber lieber Eistee, den er selbst aus grünem Tee, Zitrone und Süßstoff zubereitet.« Zu seinen Ritualen gehört auch die Fastenzeit im Februar. »Da isst er einen ganzen Monat lang nichts. Nicht aus religiösen Gründen, sondern weil es gesund ist.« Auch wenn er hungert, arbeitet er weiter. » Er hält sogar Lesungen. Man merkt ihm nichts an. Er ist äußerst diszipliniert. Lediglich seine Stimme wird etwas schwächer. In dieser Zeit stellt er sich vor, wie es sein wird, wieder zu essen und zu kochen. Er liest Rezepte und Speisekarten dann wie einen Roman.«