Kathrins Notiz-Blog 20. Juli 12

© Illustration Liane Heinze

Leon und ich, wir sind beide überzeugt von der Macht und dem Karma der Dinge. Allerdings fürchte ich mich nicht vor der Macht der Dinge, aber Leon scheut sich, gebrauchte Möbel zu kaufen, schon gar keine Polstermöbel, die mit den Energien fremder Orgasmen und Streitigkeiten aufgeladen sind. Aus Respekt vor Leon und dem Geheimnis, das uns verbindet, schlafe ich mit Kolja niemals in unserem Bett. Weiterlesen

Leben mit Leerstelle

Der Schriftsteller André Kubiczek, seine laotische Mutter, eine ostdeutsche Kindheit und der Versuch, das Fremdsein zu verstehen

Foto: © Stefan Pramme

André Kubiczek ist im Prenzlauer Berg geblieben. Er mag die Gegend, in der schon sein erster, 2002 erschienener Roman „Junge Talente“ spielt, auch wenn die Straßen heute nicht mehr grau und kohleverrußt sind wie damals in den letzten Jahren der DDR, in die sein erstes Buch führt. Mit seiner unaufgeregten, zurückhaltenden Art verkörpert Kubiczek noch immer etwas vom Lebensgefühl der alten Szene, die hier so gut wie ausgestorben ist.

Es scheinen mindestens drei Kinder bei ihm zu leben: Volle Kleiderhaken auf Hüfthöhe im Flur, gebastelte Figuren auf dem Schränkchen daneben, eine Wand voller Kinderzeichnungen in seinem Arbeitszimmer. Doch alle diese Spuren stammen von einem Kind, seiner achtjährige Tochter, die jede halbe Woche bei ihm lebt. „Dieses hier, das war ihre erste gegenständliche Zeichnung.“ Kubiczek weist auf ein Bild, dessen „Gegenstand“ jedoch nicht genau erkennbar ist. „Ein Mensch“, erklärt er. „Ein Gesicht mit Augen, Nase und Haaren, und einem Körper, allerdings fehlen die Arme und Beine.“

Die achtjährige Tochter kommt in seinem neuen autobiografischen Roman „Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“ nicht vor, obwohl die Handlung bis in die Gegenwart reicht. „Das Buch ist beides, autobiografisch und fiktiv“, erklärt der Autor. Weitgehend authentisch ist die Familien- und Kindheitsgeschichte im ersten Teil. Auch André Kubiczek hat nun also ein Werk für den Kanon der DDR-Kindheitsbücher geschaffen. Der Roman, der die enge DDR teilweise verlässt und in die Heimat von Kubiczeks Mutter, nach Laos führt, ist atemberaubend und in vieler Hinsicht besonders. Für den Autor allerdings war es ein schwieriger Stoff.

Es sei nicht seine Idee gewesen, diese Geschichte zu erzählen, sagt Kubiczek. Er habe eigentlich nichts Besonderes in seiner Herkunft gesehen. Seine Agentin habe ihn eines Tages darauf angesprochen und dann gefragt: Warum schreibst du eigentlich nicht DAS?

Um für das Buch zu recherchieren, reiste Kubiczek zum ersten Mal nach Vientiane, der  Heimatstadt seiner Mutter und stieß auf die interessante politische Karriere seines Großvaters Quinim Pholsena, der für kurze Zeit Außenminister von Laos war. „Ich wusste zwar, dass mein Großvater irgendein hohes Tier in der Regierung war. Meine Mutter hatte davon erzählt und seine Orden hingen bei uns in der Schrankwand, aber mehr hat mich als Kind nicht interessiert.“ Etwas widerwillig begibt er sich in die laotische Familie. „Das ist ein richtiger Clan. Als Kind fand ich es schön, wenn die Tanten und Onkels und meine Großmutter uns besuchten. Dann war Trubel in der Wohnung. Es gab Geschenke. Es roch gut und es wurde ganz anders gekocht.“ Aber Laos sei ihm fremd geblieben, obwohl er sich lange mit der Politik und Kultur des Landes beschäftigt habe.

In Vorbereitung auf den Roman, im Interview mit dem Vater hörte er zum ersten Mal, wie sich die Eltern beim Studium in Moskau kennengelernt haben und auf welch abenteuerliche Weise die Mutter in die DDR geschmuggelt wurde. Es ist kaum nachvollziehbar, was Kubiczek über seine Familie alles nicht wusste. Es gibt dafür nur eine Erklärung: Der private André Kubiczek wollte es bisher nicht wissen. Er hatte seine Kindheit wie eine alte Haut abgestreift und hinter sich gelassen. Die Familie hatte nur wenige, unbeschwerte Jahre. Kaum dreißigjährig, erkrankte die Mutter an Krebs und starb knappe zehn Jahre später. Als ihre Asche in zwei Städten beigesetzt wurde, in Potsdam und Vientiane, war André Kubiczek sechzehn Jahre alt. Für Kubiczek ist es unmöglich, die Ehe seiner Eltern als romantisches Happy End einer abenteuerlichen Studentenliebe zu sehen. Für ihn ist es der Beginn eines Niederganges. Er nennt es „die Agonie der Familie.“

In dem Regal neben Kubiczeks Schreibtisch steht ein Foto der Mutter in einem verzierten Holzrahmen. Es wirkt blass und unscharf, als wäre es stark vergrößert worden. „Das Lieblingsfoto meiner laotischen Großmutter“, sagt er. „Es hing in ihrem Zimmer. Sie wollte es mir schenken und ließ diese Kopie machen.“ Das Foto zeigt ein hübsches Mädchen von vierzehn Jahren. Vierzehn Jahre alt war die Mutter, als der von ihr selbst geschriebene Lebensbericht einsetzt. Er steht am Beginn des Romans. Die Mutter erzählt darin von der Flucht nach Kambodscha im Jahr 1960, als in Laos ein Krieg drohte, von der ersten Liebe, die sie wieder verlor, als ihre Mutter mit ihr und den Geschwistern weiter nach Vietnam flüchtete. Der Bericht bricht mitten im Satz ab. Im Roman überlegt der Autor, ob an dieser Stelle vielleicht ein Arzt das Krankenzimmer betreten hat oder die Schmerzen übermächtig wurden und sie am Weiterschreiben hinderten.

Seiner Mutter hat André Kubiczek diesen Roman gewidmet. Ihr Name Khemkham Pholsena, wird jedoch nur ein einziges Mal genannt, in der Widmung auf der letzten Seite. Im Roman heißt sie Téo. „Tèo war ihr Spitzname“, erklärt Kubiczek. „In Laos ist es üblich, den Kindern bei der Geburt so einen Spitznamen zu geben. Man tut dies, um die Geister zu verwirren und Unglück von den Kindern fernzuhalten.“

Nach dem abgebrochenen Bericht taucht die Mutter im Verlauf des Buches erst in Moskau wieder auf, diesmal aus Sicht des Vaters, streng bewacht von ihrer älteren Schwester, später, nach dem vereitelten Fluchtversuch, eingeklemmt zwischen vietnamesischen und russischen Geheimdienstlern auf einem Moskauer Bahnhof. In dem kleinen Harz-Städtchen, aus dem ihr Verlobter stammt, wird sie von der Schwiegermutter beaufsichtigt. Schließlich ist sie schwanger, heiratet und wird Bürgerin der DDR. Sie bekommt eine Anstellung in der gleichen „Akademie“ wie ihr Mann und promoviert. Der Vater erzählt noch, dass sie Schwierigkeiten mit dem Essen gehabt habe. Der Autor sagt nichts darüber, was sie dachte und fühlte, wie sie die nervliche Anspannung des Fluchtversuches verkraftet hat, wie es für sie war, in einer völlig fremden Kultur anzukommen. Er beschreibt weder ihr Gesicht, noch ihre Hände oder ihre Stimme.

Beim Lesen wartet man auf die Mutter, hofft, dass sie ihren Bericht wieder aufnimmt, während der Autor in sinnlichen, langen Satzgefügen die DDR wieder auferstehen lässt, ihre Wohnblöcke und Küchen und Kohlenkeller, die Fleischerläden und die Festessen in der guten Stube der Großeltern im Harz, das Angebot der Feinkostgeschäfte in Berlin. Kubiczek erzählt, wie man kochte, grillte, sich kleidete und zum Appell antrat. Er zeichnet detailreiche, sehr präzise Bilder. Seine Großeltern werden in allen Dimensionen sichtbar. Der Autor besitzt ein großes Talent, die Vielschichtigkeit von Charakteren zu zeigen. Kupfer, der Stuben-Schreck aus der Armeezeit, ein grober Typ mit oberflächlichen Sprüchen und aufgeriebenen Füßen, ist ein Rebell, dessen Glut man sich nicht ganz entziehen kann. Die kittelschürzige Nachbarin aus dem Wohnblock, die ihren Mann vor schickt, um sich über die exotischen Gerüche zu mokieren, die aus der Kubiczekschen Küche quellen, ist penetrant und zugleich mitleiderregend in ihren missglückten Versuchen, gütig zu sein. Kubiczeks Blick ist niemals überheblich. Er hat Zuneigung zu seinen Figuren. Seine fein beobachtende Distanz verliert er nur, wenn es um den Fahrradunfall des kleinen Bruders geht, um den Ärztepfusch an dessen Gehirn und den anschließenden körperlichen und geistigen Verfall des Jungen, bis zum Tod. Dann bricht die Wut hervor, aber sie ist völlig unbearbeitet. Der Vater bleibt blass, schweigsam, traurig am Steuer des Wagens, der ihn und den älteren Sohn an vielen Sonntagen in irgendein Krankenhaus bringt, und allein abends vor dem Fernseher mit einer Flasche Wein. Man sieht ihn meist von halb hinten. Die Mutter fehlt. Der Bericht ihres Lebens wird nicht wieder aufgenommen. „Sie ist die Leerstelle in diesem Buch“, sagt Kubiczek.  „Mehr als diese paar Seiten hat sie nicht hinterlassen.“ Er hätte seinen Vater im Interview nach ihr fragen können. Er hat es nicht getan. Vielleicht konnte er nicht. Vielleicht spürte er, dass der Vater nicht antworten kann. Er hätte nach anderen Menschen suchen können, die seiner Mutter nahestanden. Es gab diese Menschen. Er hat auch das nicht getan. Und jetzt, während des Interviews in seiner Wohnung, entgleiten die Fragen nach dem nicht gesagten, nicht gefragten. Die große, unbewältigte Trauer ist in diesem Roman eingesperrt.

Kubiczek zieht eine kleine Schachtel mit Fotos aus dem Regal neben dem Schreibtisch, Fotos wie jedes DDR-Kind seiner Generation sie irgendwo in einer Schachtel aufbewahrt. Schwarz-weiß-Aufnahmen von Ausflügen in die Mittelgebirge des Landes, die Jungen in Lederhosen, die Mutter, gerade mal einen Kopf größer, in weiten, hellen Schlaghosen.

Er erinnere sich, dass die Kinder im Wohngebiet ihn manchmal „Chinese“ gerufen haben. Es sei nicht böse gemeint gewesen, aber genervt habe es ihn trotzdem. „Wenn man Kind ist, möchte man so sein wie alle. Man möchte nicht anders sein.“ Aber Fremdenfeindlichkeit habe er erst in den Neunzigerjahren erlebt, erzählt Kubiczek, während seiner Studienzeit in Leipzig und in Berlin. Sogar durch den Prenzlauer Berg seien damals Nazihorden gezogen. In Potsdam sei er einmal angegriffen worden, habe sich mit ein paar Fußtritten gerade noch verteidigen können, dann aber das Geschoss aus einer Gaspistole im Rücken gespürt. „Wenn man so etwas erlebt, wird man paranoid.“ Er habe in seinem Roman eigentlich auch über diese Zeit geschrieben. Dem Lektorat sei das dann aber zu viel gewesen. „Eigentlich“, sagt Kubiczek, „habe ich beim Schreiben an meine Tochter gedacht. Sie soll einmal mehr in der Hand halten als die paar Seiten, die meine Mutter hinterlassen hat.“  Er kann sich vorstellen, aus den 300 Seiten, die nun rausgeflogen sind, den nächsten Roman zu schreiben.

Im zweiten Teil des Buches, der zehn Jahre vor und nach der Jahrtausendwende spielt, wird die Geschichte spürbar fiktiver. Der Autor führt seine Figuren jetzt in typisch ostdeutsche Lebensproblematiken, die zwanzig Jahre nach der sogenannten Wende deutlicher werden als zuvor. Das ist Kubiczeks eigentliches Thema, das Thema seiner Generation. Hier fühlt er sich Zuhause. Man hat den Eindruck, dass er auch heute auf keinen Fall etwas anderes, besonderes sein will, kein Experte für Doppelidentitäten oder – Staatsbürgerschaften, kein Spezialist für laotische Fragen, der in Talkshows eingeladen wird.

 

 

Politik verzweifelt gesucht

Berliner Zeitung

Héctor Huerga aus Barcelona / Foto: © Pablo Castagnola

Es steht noch nicht fest, ob der Sessel für Angela Merkel aus Leder oder Stoff, ob es eher ein modernes oder ein nostalgisches Modell sein wird. Möglicherweise findet sich ein Sessel aus der DDR, Hellerauer Werkstätten, Bauhaus. Vorerst gibt es den Merkel-Sessel nur als Plan und im Internet. In dem Blog www.merkelchair.wordpress.com ist er aus braunem Leder und schon ein bisschen verschlissen.

Der 39jährige Schriftsteller Héctor Huerga aus Barcelona wird den Sessel für die Kanzlerin in der großen Ausstellungshalle in den Kunstwerken aufstellen und beim Leerbleiben filmen. Er macht sich keine Sorgen, wo er etwas Passendes für die Kanzlerin  finden wird. Wichtiger für ihn ist, dass der Merkelchair-Blog in möglichst vielen Sprachen erscheint, denn dort sollen Bürger der ganzen Welt ihre Fragen an Angela Merkel stellen. Héctor Huerga ist einer der Occupy-Aktivisten, die von den Kuratoren der Biennale Berlin eingeladen wurden. Er ist ein drahtiger Mann mit wachen, dunklen Augen und seegebräunter Haut. Er schaut sich in der großen Ausstellungshalle um. Die 400 Quadratmeter, die der Kurator Artur Zmijewski den Aktivisten zur freien Verfügung gestellt hat, sind noch eine Baustelle. Die Halle soll durch Vorhänge in verschiedene Räume geteilt werden, in denen Vorträge, Videoinstallationen, Workshops und natürlich Asambleas stattfinden. So werden die öffentlichen Versammlungen der Occupy-Bewegung nach dem spanischen Vorbild genannt. Der Sessel wird in der Asamblea für die Kanzlerin reserviert. „Wenn Angela Merkel kommt, werden wir ihr alle Fragen, die wir im Blog gesammelt haben, vorlesen“, sagt Héctor Huerga.

Eine junge Frau, auf deren Kopf sich hellbraune Locken türmen, bittet Héctor, beim Aufbau des großen Zeltes zu helfen. Mit Héctor sind Manu und Laurent nach Berlin gekommen. Auch sie können helfen, das Zelt zu stemmen. Von Occupy Berlin ist kaum jemand da. Die junge Frau nennt sich Mona. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen. Seit einem halben Jahr arbeitet die 23jährige Aktivistin an der Vorbereitung des Biennale-Happenings. Ein Vollzeitjob, sagt sie, aber es ginge gerade. Vor einem halben Jahr habe sie ihren Bachelor in Erziehungswissenschaften abgeschlossen, gerade in dem Moment, als das mit Occupy richtig losging. Mona ist die jüngste von drei jungen, aktiven, gebildeten Frauen, flankiert von einem, maximal zwei Männern, die den Hauptanteil bei der Vorbereitung der Biennale-Aktion geleistet haben.

Occupy Berlin, das sind Aktivisten aus verschiedenen Ländern. Ihre Zahl lässt sich schwer bestimmen. Sie liegt irgendwo zwischen 50 und 100. Das symbolische Camp in der Kunstausstellung ist umstritten, auch in der Bewegung selbst. Einige sprechen von einem Zoo-Effekt. Und wirklich liegt die Ausstellungshalle unterhalb einer Galerie, von der aus die Besucher in den Aktionsraum hinabschauen. Zwei Treppen führen in die Halle, aber nicht jeder Besucher wird diese Barriere nehmen. Die Biennale ist zudem kein öffentlicher Raum. „Wir müssen hinaus auf die Straßen gehen und den Leuten sagen, was hier passiert“, sagt Héctor. „Es ist ja ein Prinzip der Bewegung, sichtbar zu sein. In Spanien haben wir in der Metro laute Dialoge inszeniert, um die Leute zu informieren.“

Der Kurator Artur Zmijewski äußert sich zurückhaltend. Es gäbe immer Leute, die etwas gut finden und andere, die es ablehnen. Zuletzt versicherten Zmijewski und seine Mitarbeiter den Aktivisten in einem langen Brief noch einmal ihre große Sympathie für die Bewegung. Sie beschworen sie, sich die Freiheiten zu nehmen, die sie ihnen als Kuratoren nicht völlig bieten könnten und betonten, dass sie völlig unabhängig von der Kunstausstellung seien. Es klang wie eine ausdrückliche Bitte um Provokation und Widerstand. In seinem Vorwort zur Biennale „Forget fear“ beklagt Zmijewski, dass die Kunst zum Dekor der neoliberalen Gesellschaft geworden ist und so ihre ureigene Kraft verloren hat und dass sich Kunst, der keine Taten folgen, in einer „kreativen Ohnmacht“ befindet. Über die Startseite der Biennale laufen unter dem Titel „art covers politics“ Bilder von den Demokratiebewegungen des letzten Jahres. Kein Zweifel, Occupy ist das eigentliche Thema auf Zmijewskis Biennale.

Héctor Huerga sitzt in der kleinen Mansarde über dem Büro der Kunstwerke. Seine  sehnigen, braunen Hände liegen locker übereinander auf der leeren Tischplatte. „Die Biennale Berlin wird in diesem Sommer das Hauptquartier der Bewegung sein“, sagt er. Er ist einer der ersten Gäste, die eingetroffen sind. Erwartet werden Aktivisten aus der ganzen Welt, viele kommen auf persönliche Einladung der Kuratoren, wie Héctor. Seit die spanische Bürgerbewegung am 15. Mai 2011 begann, arbeitet der spanische Schriftsteller, der bisher zwei Romane veröffentlicht hat, an der Vernetzung und Kommunikation der weltweiten Protestbewegungen. „Es war uns sofort klar, dass es sich nicht um regionale, sondern globale Probleme handelt.“ Er erzählt von Barcelona, von geschlossenen Kliniken und Notfallstationen, überfüllten Hörsälen und von Dreißigjährigen, die zurück zu ihren Eltern gehen, weil sie sich ein eigenes Leben nicht leisten können. Am 29. März, dem Tag des Generalstreiks, seien eine Million Menschen zwischen dem Plaça Catalunya und dem Ciutadella-Park unterwegs gewesen. Die Polizei versuche, die Bewegung zu kriminalisieren, sagt er. Jetzt sei sogar ein Gesetz gegen die freien Asambleas im Gespräch. „Wir kämpfen nicht gegen die Polizei“ , sagt Héctor. „Wir kämpfen auch nicht gegen die Medien. Wir suchen nach Lösungen, wie wir alle gemeinsam auf dieser Erde leben können.“ In Berlin möchte er über die europäischen Schulden sprechen, die Arbeitslosigkeit, die steigenden Mieten, den Zustand der Demokratie und die Freiheit für die Asambleas. Doch, es bliebe ihm noch Zeit zu schreiben. Er arbeitet an einem dritten Buch. Huergas Romane haben immer einen politischen Hintergrund. Er erzählt von einem jungen Senegalesen, der über das Mittelmeer nach Europa flüchtet oder einer Mosambikanerin, die in Südafrika einen Lottogewinn macht, ihn aber nicht einlösen kann, weil sie illegal im Land lebt. Ein Kapitel aus seinem ersten Buch „Radio Puente“ ist auf deutsch in der Anthologie „Meereslaunen“ erschienen. Er hat bei mexikanischen Autoren studiert, unter anderem bei Sergio Pitol und Jorge Volpi. Doch die Arbeit für Occupy ist an die erste Stelle im Leben des Autors getreten. Gelegentlich jobbt er als Korrekturleser, um ein bisschen Geld zu verdienen. Er ist viel unterwegs, nicht nur im Internet, sondern auch in den Asambleas vor Ort, um politische Inhalte zu debattieren.

Wenige Tage später moderiert er die Asamblea der Biennale-Aktivisten. Er habe gehört, dass es mit der demokratischen Kultur in dieser Versammlung nicht so weit her sei. Das sei an anderen Orten auch so. Einige der spanischen, portugiesischen und griechischen Indignados, die in Berlin leben, hatten sich aus dem Biennale-Projekt zurückgezogen, weil sie die politischen Inhalte und den Respekt in der Asamblea vermissten. An diesem Abend sind einige von ihnen gekommen. Auch Artur Zmijewski und sein Ko-Kurator Igor Stokfiszewski sind da. Der Versammlungsraum im ersten Stock des Vorderhauses der Kunstwerke ist so voll wie selten. Héctor steht am Kopfende des langen Tisches. Er trägt ein braunes Cord-Jackett. Er fragt, ob alle Teilnehmer damit einverstanden sind, dass diese Versammlung in Englisch abgehalten wird. Niemand hat etwas dagegen. Englisch ist die übliche Sprache in den Berliner Asambleas. Dann erklärt er die basisdemokratischen Regeln der Asamblea. Erster Punkt der Tagesordnung sind die Finanzen. Mona hatte darum gebeten. Jetzt tritt sie vor die Versammlung. Ihre Locken lagern auf der linken Kopfhälfte. Von den rund 5.600 Euro, die ihnen die Veranstalter zur Verfügung gestellt hätten, seien noch 500 übrig. Sie schlage folgende Verteilung vor. Mona schreibt die Namen einiger Projekte auf dem Flipchart untereinander und setzt jeweils kleine Summen dahinter. Héctor sagt, er habe in Spanien noch nie in einer Versammlung über Geld gesprochen. Geld sei nicht da. Man könne eben nur das machen, was ohne Geld machbar ist. Eine Spanierin erinnert an eine Email, die vor ein paar Tagen aus Istanbul kam. Ein Aktivist von Occupy Starbucks möchte gern zur Biennale reisen, aber er kann den Flug nicht bezahlen. Sollte man nicht eher ihm das Geld geben? Eine Diskussion um das Geld entbrennt. Einer braucht es für eine lange Leinwand, die von Kindern bemalt werden soll. Ein anderer möchte einen edlen Katalog produzieren. Jetzt möchten auch die Guerilla-Gärtner noch Geld für Pflanzen, um auf der Wiese hinter der Halle etwas anzubauen. Alle reden durcheinander. Héctor erinnert daran, dass die Asamblea nicht der Ort für persönlichen Schlagabtausch ist. Nach und nach ziehen sich die Mitglieder nach nebenan in die Küche zurück, für den persönlichen Schlagabtausch und um zu rauchen. Auch Mona ist verschwunden. Die Kuratoren sind schon lange weg. Anderthalb Stunden lang drehen sich die Wortbeiträge um Geld, dann beschließt die Asamblea eine Pause. Héctor steht mit einer Portugiesin und zwei Spaniern im Hof. Er sieht blass aus, aber er braucht nichts: kein Bier, keine Drogen, keinen Döner. Er trägt ein leichtes, entschlossenes Lächeln auf den Lippen.

Am nächsten Tag sitzt er vor dem aufgeschlagenen Laptop im Café Bravo im Hof der Kunstwerke. Er hat Ringe unter den Augen. Die frische Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen. „Die Bewegung hier hat nicht denselben Geist wie in Spanien“, sagt er. Er wird für die Website der Internationalen Kommission Barcelona, deren Mitbegründer er ist,  einen ersten, persönlichen Eindruck aus dem derzeitigen Hauptquartier der Bewegung, Biennale Berlin schreiben. Ein begeisterter Artikel wird es nicht.

Kathrins Notiz-Blog 10. April 12

© Illustration Liane Heinze

Wir besuchten Koljas Mutter an einem der ersten Frühlingstage. Die Luft war aus Silber. Silbern waren auch der See und das Gras, das sich vom Winter erholte.
Koljas Mutter hatte sich über meinen Anruf gefreut. Ich hatte ihr gesagt, dass ich mal wieder in der Gegend sei und gern vorbeikommen würde, diesmal mit meiner Tochter Jolanda.

Sie gab Jolanda die Hand und wie immer lag in ihrem „Guten Tag!“ eine besondere Aufmerksamkeit, ein Signal ihres Interesses, zurückhaltend, aber erwartungsvoll. Schon in ihrem Gruß lag der Anspruch, in ihrem kleinen Haus kein Vorurteil und keinen Allgemeinplatz zuzulassen, keine Banalität. Sie war in dieser Hinsicht streng. Jolanda versuchte, sich an diesem Gruß vorbei zu mogeln.

In der Ecke mit dem Sofa und den Büchern war der Kaffeetisch gedeckt. Koljas Mutter fragte, ob wir öfter zusammen einen Ausflug machten. „Niemals“, sagt Jolanda. „Ist die ultimative Ausnahme.“ Koljas Mutter schaute amüsiert auf. „Da muss ja was Schlimmes passiert sein.“

„Wir sind gerade beide allein“, sagte Jolanda, warf sich schwungvoll auf das Sofa und ließ ihren Kopf nach hinten ins Polster fallen.

„Wunderbar“, sagte Koljas Mutter.

„Finde ich überhaupt nicht“, sagte Jolanda. „Es ist das Schlimmste, was passieren kann, so schlimm, dass man mit seiner Mutter aufs Land fährt.“

Koljas Mutter lachte. Sie stand noch immer, mit der Kaffeekanne in der Hand, in der Bewegung gefroren, hingerissen davon, wie Jolanda sich ihren Raum nahm. „Das ist ja ein Drama! Und ich dachte, es wäre gar nicht mehr möglich, allein zu sein, heute, wo alle mailen und twittern und skypen.“

„Dieser technische Kram ersetzt keinesfalls das Zusammenleben“, sagte Jolanda. „Ich muss trotzdem allein einkaufen gehen. Schon das ist schrecklich.“

„Ich gehe viel lieber allein einkaufen“, warf ich ein, aber im selben Moment wurde mir klar, dass ich nicht die Wahrheit sagte. Eigentlich ging ich gern mit Leon einkaufen. Als wir uns kennengelernt hatten, waren unsere Spaziergänge oft zu Shoppingtouren geworden. Wir hatten uns komplett neu eingekleidet. Im letzten halben Jahr war Leon oft allein einkaufen gegangen. Er brauchte mich nicht mehr. Und wenn ich neue Schuhe kaufte, versteckte ich sie vor ihm, weil ich keine Lust auf sein Grinsen hatte, wenn er sagte, dass Madame ja doch noch ein paar Groschen übrig hat. Natürlich, irgendwann kam der Kommentar, wenn ich die Schuhe zum ersten Mal trug. Meine neue Seidenwäsche war ihm neulich nicht einmal aufgefallen. Besser so. Ich wollte mir nicht den Spaß durch seine Groschen-Kommentare verderben lassen.

Koljas Mutter hatte inzwischen Kaffee eingegossen und uns jedem ein Stück Kuchen auf den Teller gelegt. Es gab sogar Schlagsahne. Ich legte die Schlagsahne auf den Kaffee. Es war einfach wunderbar, wieder auf diesem alten Sofa zu sitzen, ob mit dem Kopf in den Polstern oder mit angezogenen Beinen – hier war es erlaubt. „Man muss lernen, mit der Einsamkeit zu leben“, sagte sie. „Das ist ein schwieriger Prozess.“ Sie erzählte, wie sie es gelernt hatte, als sie für ihr Studium in eine kleine Stadt gegangen war und ihr Freund in Berlin geblieben war. „Als ich auf mich selbst zurückgeworfen war, habe ich mich entdeckt. In diesen zwei Jahren ist mir klar geworden, was ich wirklich machen möchte. Bis dahin hatte ich geglaubt, ich würde eines Tages eine Wissenschaftlerin sein, aber nun entdeckte ich das Theaterspielen. Als ich nach Berlin zurückkam, bewarb mich an der Schauspielschule. Mein Freund schlich sich davon. Ich hatte mich in dieser Zeit weiter entwickelt. Er konnte mir nicht folgen. Glaub mir, das wäre niemals passiert, wenn ich immer mit ihm zusammen gehockt hätte.“

„Ich habe Angst davor, mich selbst zu entdecken“, sagte Jolanda.

„Du brauchst Mut dazu“, sagte Koljas Mutter. „Möchtest du noch einen Kaffee?“ Ihre Hand lag schon wieder auf dem gewölbten Deckel der blau-weißen Kanne.

Seit einigen Tagen, seit Leon wieder in Verviers war, rief er nicht mehr jeden Abend an. Wenn ich ihn anrief, klang seine Stimme von weiter her als sonst. Er gab sich gleichgültig. Es lag sogar eine Spur Arroganz in seinem Ton.

„Was habe ich davon, zu entdecken, dass ich doch keine Kriminalistin werden möchte, sondern, sagen wir: Zirkusclown. Arbeitslos werde ich so oder so sein.“

Koljas Mutter schaute sie lange an. Ihr Blick spiegelte Jolandas Bedenken. „Ihr habt ganz andere Probleme als wir damals“, sagte sie. „Ich verstehe dich“, sagte sie.

Nach dem Kaffeetrinken ließ ich die beiden allein und ging am See spazieren. Ich fand ein Boot, das, noch im Winterschlaf, umgekippt am Ufer lag. Ich rief Leon an. Seltsam, seit er sich zurückgezogen hatte, war mir klar geworden, wie sehr ich ihn liebte. Er meldete sich aus seinem Hotelzimmer. Er klang einsam. Wieder lag diese Distinktion in seiner Stimme. Ich versuchte, über alle Bedenken hinweg zu gehen, beschrieb ihm den See und die Uferlandschaft, das Licht und den Bootsrumpf, auf dem ich hockte. Ich hätte ihm gern von Koljas Mutter und Jolanda erzählt. „Du fehlst mir“, sagte ich. Er erwiderte nichts. Mir stockte der Atem. Ich wagte nicht, weiter zu fragen. Aus den Fragen, die ich nicht zu stellen wagte, konnte er schließen, dass ich verstanden hatte: Er wusste von Kolja und mir.

Ich legte auf, blickte über das Wasser, hinüber zu dem Wald, der noch grau war und spürte, dass ich den See und die Bäume, den Sandstrand und das welke Schilf, dass ich alles verloren hatte.

Wenn man Angst hat, muss man gehen

Berliner Zeitung

Seitaro, Natsuki und Yasuyo (von links nach rechts) wollten in Japan auf einem Bauernhof zusammen leben. Das Erdbeben im März 2011 hat ihre Pläne umgeworfen. Jetzt leben sie alle drei in Berlin. Für Yasuyo war es die schwerste Entscheidung ihres Lebens.

Als am 11. März 2011 um  14:46 Uhr das Beben einsetzte, war die Familie Hioki gerade mit Vorbereitungen für das Wochenende beschäftigt. In der Präfektur Saitama nördlich von Tokio, wo ihr Bauernhof lag, sollte ein Kunstfestival stattfinden. Sie hatten eine Künstlerin eingeladen, auf dem Hof auszustellen. Diese fertigte Kleidung und Taschen für Kinder, auch Mobiles und Spielsachen. Das passte gut, denn die Hiokis hatten viele Freunde mit Kindern in der Gegend. Yasuyo Hioki, die Montessori-Pädogogin, würde in wenigen Tagen ihre eigene Schule eröffnen.

Ein Jahr ist seitdem vergangen. Yasuyo Hioki spaziert am Fränkelufer in Kreuzberg entlang. Seit dem letzten Sommer lebt sie in einem sehr schmalen Zimmer in der Nähe des Landwehrkanals zur Untermiete. Sie liebt den Kanal, die Brücken und Uferwege, auch jetzt, wenn zwischen Winter und Frühling die Bäume und Sträucher im wiederkehrenden Licht noch kahler wirken als in der dunklen Jahreszeit. Sie ist 31 Jahre alt, eine zierliche Japanerin mit einem hellen, offenen Gesicht, in das einige Ponyfransen fallen, die sie mit immer derselben ruhigen Geste aus der Stirn wischt.

„Ich räumte gerade eine Scheune auf“, erzählt Yasuyo Hioki. „Da bei uns oft die Erde bebt, dachte ich mir zuerst nichts dabei und arbeitete weiter. Aber das Beben wurde ungewöhnlich stark. Ich schaute hinauf zur Decke und sah, dass sich die Holzbalken gefährlich verschoben hatten. Ich rannte hinaus. Wir standen alle drei auf dem Feld, mein Mann, seine Mutter und ich, und beobachteten, wie die Dachziegel auf den Häusern tanzten. Es war schwierig, sich auf den Beinen zu halten. Das Beben hielt die ganze Nacht an. Wir legten uns hin, aber an Schlaf war nicht zu denken.“

Noch lange danach, sagt Yasuyo, habe sie unvermittelt das Gefühl gehabt, dass unter ihr die Erde bebte. Selbst hier in Berlin zucke sie oft zusammen, wenn unter ihr eine U-Bahn rumpelt. Das Beben hat kein einziges Gebäude auf dem Bauernhof zerstört, aber es hat Yasuyos Leben aus den Angeln gehoben. Fünf Tage nach der Katastrophe machte sie sich auf den Weg nach Deutschland.

„Ich kannte das Leben in Deutschland schon, weil ich meine Ausbildung zur Montessori-Lehrerin hier gemacht habe. Ich bin glücklich hier.“ Sie sagt es freundlich, mit einer Spur Melancholie, die eine kleine Distanz zu ihren Worten schafft. Die Reise, die sie nach dem Erdbeben vor einem Jahr antrat, war anders als die in ihrer Studienzeit. Zwar reiste sie wie immer mit wenig Gepäck, aber diesmal befand sich kein Plan in ihrer Tasche, weder die Adresse einer Universität noch die eines Freiwilligencamps, kein Ziel für einen konkret bemessenen Zeitraum.

Lediglich die Adressen ihrer europäischen Freunde hatte sie in den Koffer gesteckt. Sofort nach der Katastrophe hatten sie ihr E-Mails geschickt und angerufen. Sie solle das Land doch bitte so schnell wie möglich verlassen und eine Zeitlang bei ihnen wohnen. Da die japanischen Medien nur wenig berichteten und wenn, dann nur in beschwichtigendem Ton, hatte Yasuyo in den Tagen darauf BBC und CNN angeschaltet, um sich über das havarierte Kernkraftwerk Fukushima und die sich abzeichnende Kernschmelze zu informieren. Ihre Familie, die nicht so gut Englisch sprach wie sie,  glaubte ihr nicht, was sie gehört und im Internet gelesen hatte. Sie solle sich ein paar schöne Tage in Europa machen, sagte ihr Mann. Er könne jetzt nicht weg. Die Tomatenernte sei in vollem Gange. Er müsse täglich liefern. Es gebe schließlich Verträge.

Zwei Wochen wollte Yasuyo bei Freunden in München bleiben. Sie zweifelte an sich selbst und an der Gefahr. Bildete sie sich alles nur ein? Reagierte sie über, so wie es die japanischen Zeitungen auch der ausländischen Presse unterstellten? Mit dem Ticket für den Rückflug in der Tasche konnte Yasuyo noch ein paar Tage so tun, als sei sie nur in den Urlaub gefahren. Aber die Angst wollte nicht weichen.

Dann hörte sie vom Open Home in Berlin. Ein deutscher und ein japanischer Künstler hatten es gegründet, um Japanern, die ihr Land für einige Zeit oder für immer verlassen wollen, Hilfe anzubieten. Auch um die Rückfahrt hinauszuschieben, entschloss sie sich, bei  dem Projekt mitzuarbeiten. In den nächsten Wochen würde sie dolmetschen und E-Mails beantworten und sich so von ihren Zweifeln ablenken. Fast täglich habe sie ihren Mann angerufen, erzählt Yasuyo. Ich weiß nicht, was du hast, habe er gesagt. Hier ist nichts.

Sie habe ihn gedrängt, ihr nach Berlin zu folgen oder wenigstens zu seinen Verwandten in den Westen Japans zu gehen. Er sei der Letzte, der den Hof verlassen würde, habe er geantwortet, das Land, das seine Familie seit 400 Jahren bewirtschaftet. Er fühle sich verantwortlich für seine Mutter und für die Verwandten im Dorf. Die Eltern ihrer Schüler fragten an, wieso sie denn gerade jetzt, kurz vor der Eröffnung der Schule, gegangen sei. Sie sei doch nicht schwanger, dass sie sich sorgen müsse. „Niemand hat mir einen direkten Vorwurf gemacht, aber ich spürte den Vorwurf in ihren Fragen“, sagt Yasuyo. „Sie sahen schon eine Gefahr. Aber sie sahen nicht die Gefahr, die ich sah.“

An einem sonnigen Morgen Anfang Mai ging Yasuyo wieder einmal am Landwehrkanal spazieren. Sie rief ihren Mann an, bei dem bereits später Nachmittag war. An diesem Tag erklärte er ihr, dass er keinen Weg mehr sehe, mit ihr gemeinsam auf dem Hof zu leben. Sie solle doch bitte in Europa bleiben. Er beantrage die Scheidung. „Als ich aufgelegt hatte, dachte und fühlte ich gar nichts. Ich lief einfach immer weiter“, sagt Yasuyo.

Sie hatten einander auf der Universität kennengelernt und acht Jahre zusammen in Tokio gelebt, bevor sie vor zwei Jahren den Bauernhof übernommen hatten. Dann kam das Beben, und es scheint, als habe es einen Riss offenbart, der lange schon verborgen zwischen Yasuyo und ihrem Mann klaffte.

Fehlt er ihr? „Nein“, sagt Yasuyo. „Die Zeit der Auseinandersetzungen hat uns voneinander entfernt. Ich hätte nie gedacht, dass ihm der Hof so wichtig ist; dass er sich so sehr darüber definiert; dass er Angst hat, nichts mehr zu sein, wenn er den Hof verlässt.“ Sie vermisse ihr altes Leben kaum, sagt Yasuyo, aber dennoch sei es die schwierigste Entscheidung ihres Lebens gewesen, ihre Familie und die geplante Schule aufzugeben. Aber sie könne in Berlin genauso leben wie in Japan, Landsleute treffen, japanisch kochen und  Kendo trainieren, dieses japanische Fechten mit einem Bambusschwert, das sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr betreibt.

Wie sie den besten Coffeeshop für das erste Treffen wählt, wie sie sich bewegt und kleidet, wie sie lacht, wirkt Yasuyo wie eine Frau, die schon immer in Europa lebt. Das liegt nicht nur an ihrem perfekten Englisch. Sie sei es eben gewohnt, ihren Schlafsack an den unterschiedlichsten Orten der Welt zu entrollen, sagt sie. Als Studentin sei sie durch die ganze Welt gereist und in den verschiedensten Kulturen klargekommen.

Spürt jemand, der wie sie von der japanischen Gesellschaft geprägt ist, keinen kulturellen Unterschied, keine Fremdheit? Vielleicht ist es typisch japanisch, dass sie darüber nicht sprechen will. Aber immer wieder betont sie, wie viel es ihr bedeutet, dass ihre besten Freunde, der Zen-Mönch Seitaro Higuchi und seine Frau Natsuki, nach Berlin gekommen sind. Sie hatte sie vor einigen Jahren in Tokio kennengelernt, beide hatten sich für die Montessori-Philosophie und Yasuyos Schule interessiert, sie erwarteten ein Baby und hatten vor, nach der Geburt des Kindes zu Yasuyo und ihrem Mann aufs Land zu ziehen.

In der Wohnung der Higuchis sitzen sie an einem niedrigen Tisch bei einer Tasse grünem Tee zusammen, Yasuyo im Schneidersitz neben Natsuki, die das Baby im Arm hält. Issey ist in Berlin zur Welt gekommen. Seitaro kniet in der dunklen Mönchstracht am Kopfende. Nicht jeder sei so privilegiert wie sie, einfach fortgehen zu können, sagt er. Er bewundere die Entscheidung von Yasuyos Mann, in Japan zu bleiben. „Aber wenn man Angst hat, sollte man gehen. Deshalb ist es auch gut, was Yasuyo getan hat.“

Ein einjähriges Visum für Freiberufler erlaubt Yasuyo, in Berlin als Japanischlehrerin zu arbeiten. Es wird kein Problem sein, das Visum im Sommer zu verlängern, denn sie kann mit ihrer Arbeit für ihren Lebensunterhalt sorgen. Vor einigen Tagen hat sie eine japanische Montessori-Lehrerin kennengelernt. Mit ihr zusammen möchte sie etwas aufbauen, die Montessori-Pädagogik unter den Japanern in Berlin bekannter machen, Kurse für Kinder geben, eine Schule gründen. „Kouun Ryuusui“, sagt Yasuyo. „Lebe dein Leben wie eine Wolke oder wie das Wasser im Fluss. Du wirst an Steine stoßen, aber sie werden dich niemals aufhalten. Diese Worte von Seitaro haben mir geholfen, zu meiner Entscheidung zu stehen.“ Sie hatte sich gewünscht, dass sie und ihr Mann als Freunde auseinandergehen, ihre Entscheidungen gegenseitig respektieren. Während der Meditationen sei ihr die Wut auf ihren Mann bewusst geworden, der ihr gemeinsames Leben weggeworfen habe. „Manchmal, vor dem Schlafengehen, stelle ich mir vor, dass ich meine Wut in einen Karton packe, mit dem Karton die Treppe hinabgehe und die Straße bis vor zum Kanal laufe. Dort kippe ich ihn aus. So kann ich besser schlafen. Wenn ich am nächsten Tag über die Brücke gehe, schaue ich einige Sekunden hinunter und erinnere mich, dass das Wasser meine Wut nach und nach davonträgt.“