Kathrins Notiz-Blog 26. Januar 10

© Illustration Liane Heinze

Froschkinn schaukelte die Luft zwischen Unterlippe und Kinn, während sein blasser, dicker Zeigefinger das Rädchen der Maus traktierte. Der Beruf heißt: Innenarchitekt. Froschkinn sagte, dass es keine Maßnahme gibt. Mit einem leisen Pfeifen entwich die Luft aus seinem Mundbeutel. Sein Kinn war wieder platt wie ein Fahrradreifen. Sein Zeigefinger lag jetzt reglos auf der Maus. Er blickte ununterbrochen auf den Monitor, als fürchte er, dass unversehens doch noch eine Maßnahme aufblinken und ihm Arbeit verursachen könnte.

„Wie kann ich Innenarchitektin werden?“ Ich wollte so schnell nicht locker lassen. Ich dachte an Leon, der niemals locker lässt. Vergangenen Herbst zum Beispiel waren wir in einer Gegend gelandet, die so finster war wie Draculas Rachen. Als wir endlich eine Haltestelle ertastet hatten, weigerte sich der Fahrer unsere Räder mitzunehmen. Dabei war der Bus leer. Wir waren die letzten Ausflügler, die zurück in die Stadt wollten. Eine halbe Stunde lang hatte Leon auf den Busfahrer eingeredet. Seine Argumentation hatte zivilen Ungehorsam, die Verkehrsopfer auf den Brandenburger Straßen, Nazis und couragierte Widerstandskämpfer eingeschlossen, bis der Busfahrer endlich nachgegeben hatte, stolz darauf, zu den Widerstandskämpfern gegen den Faschismus zu gehören.

„Sie haben Berufserfahrungen als Verkäuferin, Callcenter-Agentin, gärtnerische Hilfskraft und Putzfrau“, las Froschkinn und blähte sich wieder auf. „Bunt.“ Das Wort entwich ihm kaum hörbar mit der Luft. Es klang wie ein Aufstoßen.

Ich nahm mir vor, erst von dem Stuhl aufzustehen, wenn er eine Maßnahme für mich gefunden hätte. Aber wie lange könnte das dauern? Zwei Stunden? Bis zu dem Moment, in dem er den Computer endlich ausschalten und mich vielleicht einmal ansehen würde? Ich hatte Zweifel, das durchzuhalten. Ich wollte raus. So schnell wie möglich. Wie kalt es auch immer war. Selbst fünfzehn Grad Frost waren leichter zu ertragen als der Mief bei Froschkinn.

„Was raten sie mir?“

„Wie gesagt: Wir haben da nichts im Angebot.“ Es war wie in einem Gemüseladen in der DDR.

„Ich könnte mich selbständig machen.“

Froschkinn nickte langsam. „Bringen sie einen Business-Plan. Dann reden wir darüber. Wäre eine Maßnahme.“

Business-Plan. Idiot! Ich ärgerte mich, dass ich wieder nicht aufmüpfig gewesen war. Leon hatte inzwischen dreimal angerufen. Ich rief ihn zurück. Er erzählte aufgeregt, dass er in einem großen Einrichtungshaus war, dass er mit dem Chef über mich gesprochen habe, dass der begeistert sei und mich kennenlernen wolle. „Geh am besten gleich dahin. Und fordere ein gutes Gehalt.“

Das Möbelgeschäft befand sich in den oberen Stockwerken eines Stalinbaus in der Karl-Marx-Allee. Kurz bevor ich eintrat, warf ich einen flüchtigen Blick in das Schaufenster. Als ich vor dem Lift stand, zögerte ich, nach oben zu fahren. Etwas in dem Fenster hatte mich gefangen genommen. Ich ging zurück. Es war so etwas wie ein Raumteiler. Seine Struktur ähnelte Fischschuppen. Sie leuchteten in Grün – und Blautönen, ich konnte nicht genau erkennen, ob die Fischhaut aus Glas oder Plastik war.

Ich fuhr mit dem Lift nach oben. Der Aufzug öffnete sich. Ich befand mich in einer schallgedämpften Einrichtungswelt. Es war licht wie in der Kugel des Fernsehturms. Musik von Air schwebte über allem.

Auf dem weichen, trockenen Teppich trat ich in den Raum, schritt zwischen Sofas und riesigen Vasen hindurch. Eine schlanke Frau blickte streng von ihrem Schreibtisch auf. Sie fragte, ob ich Kaffee oder grünen Tee möchte, oder nur ein Wasser. Sie verschwand hinter einer glitzernden Metallic-Bar und setzte die Espresso-Maschine in Gang. Ein dünner Mann schlenderte auf mich zu. „Kann ich helfen?“ Er hatte Mühe mit einer Haarsträhne, die ihm immer wieder über die Brauen rutschte. Ich sagte, dass ich mit dem Filialleiter verabredet bin. Er musterte mich. „Der ist nicht da. Er kommt heute auch nicht mehr. Worum geht es?“ Die Espresso-Maschine hinter uns setzte mit einem Höllenlärm an, Crema auf mein Tässchen zu pressen. Ich berichtete von dem Gespräch zwischen Leon und dem Filialleiter. Der Mann grinste. Er wurde rot. Leon hatte gar nicht mit dem Chef gesprochen, sondern mit ihm, dem Assistenten. Der Assistent sagte, dass es sich um ein Missverständnis handeln müsse. Sie suchten gar niemanden. „Schauen Sie doch wieder vorbei“, sagte er.

Ich erkundigte mich bei der Frau nach dem Preis für die Fischschuppen-Trennwand. Vierhundertneunundfünfzig Euro. Ich trank den Espresso und überlegte, ob ich sie sofort kaufe oder noch eine Nacht darüber schlafe.

„Wie hast du den Laden entdeckt?“, fragte ich Leon.

„Im Vorbeifahren. Die hatten gute Sachen im Fenster. Da war so ein gläsernes Ding…“

„Die Fischschuppen?“

„Genau.“

„Magisch, nicht? Hast du sie gekauft?”

„Ich bin doch nicht verrückt. Ich möchte nicht wissen, was die kosten.”

Ich schaute auf meinem Konto nach. Ich würde meinen Dispo bis zum Anschlag ausreizen. Es geht also.

Kathrins Notiz-Blog 18. Januar 2010

© Illustration Liane Heinze

„Die Verrückerin“, sagte Leon. Er trommelte einige Wirbel und einen Tusch. „Du wirst reich und berühmt.“

Nur, weil ich in seiner Wohnung ein bisschen umgeräumt habe. Wir haben einen neuen Platz für den antiken Schrank gesucht und das Schlagzeug dichter zum Fenster gezogen. In der Küche habe ich den Tisch vom Fenster weg in die Mitte des Raumes gezogen und eine knallbunte Decke darauf gelegt.

„Du hast eine Begabung für Räume“, sagte Leon. „Damit könntest du eine Menge Geld verdienen.“ Die Verrückerin sei ein ausreichend provokanter Name für meine Selbständigkeit. Eins, zwei, drei,  hatte er meinen neuen Lebensplan mit Logo, Website und Visitenkarten entworfen.

„Es gibt Leute, die haben so etwas studiert. Die können das viel besser“, wand ich ein.

„Unsinn.“ Er schloss mich eng in die Arme. „Du musst dich ausprobieren, nicht so viel grübeln, ob übermorgen jemand geboren wird, der es in zehn Jahren besser kann.“

Er war so glücklich, meine Zukunft erfunden zu haben.

Die Rädchen in meinem Kopf begannen sich zu drehen. Einmal hatten mich Ludwig und Bertram angerufen, weil sie mit ihrer neuen Wohnung nicht klar gekommen waren. Ich hatte ihre Möbel ziemlich schnell nach hier und da dirigiert. Ich musste nicht lange probieren. Am Abend hatten sie mich zu einer Pizza aus der Schachtel eingeladen und gesagt, ich hätte ihr Leben gerettet.

Leon wollte jetzt Sex. Sein Job war getan. Er hatte sich für mich verausgabt. Aber ich war unterhalb des Kopfes abgeschaltet. Die Zahnrädchen da oben liefen sich heiß. Ich stellte mir das Gespräch mit meinem Arbeitsberater vor, sah sein skeptisches Gesicht, wie er den Monitor studierte. Niemals schaute er mir in die Augen. Wie er Luft in den Beutel zwischen Kinn und Unterlippe blies und sie dort hielt, so dass er einem Frosch ähnelte. Wie er schließlich den Kopf schüttelte.

Leon zerrte mir den Wollpullover über den Kopf. „Ich kann jetzt nicht.“ Ich boxte mich frei, wand mich ab, riss den Pullover wieder vom Boden. Ich versteckte mich darin, auch meinen Kopf. Ich wollte den Faun nicht sehen, sein wütendes Geheul nicht hören. Aber da war es schon. „Du bist nicht spontan. Alles muss geregelt sein, nach Plan laufen, immer kontrolliert.”

„Ja, ja”, knurrte ich unter den groben Maschen. Ich kroch in die hinterste Ecke des Bettes, Kopf und Knie unter dem Pullover und fühlte mich wie ein Wal, weil ich so unflexibel bin und Leon so wendig wie ein Goldfisch. In diesem Moment fiel eine riesige Schneelawine am Fenster vorbei und schlug krachend im Hof auf.

Kathrins Notiz-Blog 17. November 09

© Illustration Liane Heinze

Gestern Abend nach dem Essen erzählte Leon Jolanda, wie es war, als er so alt war wie sie, als er fort gegangen ist von Zuhause, mit nichts in der Tasche außer seinen Trommeln und seinem Traum.

„Wieso denkt ihr nur an die Karriere und an das Geld. Wo sind eure Wünsche, eure Träume?“, fragte Leon.

Jolanda ließ die Arme zu beiden Seiten ihres Stuhles baumeln. „Wen meinst du mit ‚ihr’?“ Sie wartete Leons Antwort nicht ab. „Falls du mich im majästetis pluralis ansprichst;  ich habe einen Wunsch: Ich möchte ein Kind haben.“

„Ein Kind.“ Leon hob den Blick und die Hände beschwörend in Richtung der Decke.

„Du musst doch erst einmal raus, die Welt entdecken.“

Jolanda sagte, dass es überhaupt kein Problem mehr ist, mit Kindern zu reisen, weil es in jedem Zug Mutter-Kind-Abteile gibt und in den Flugzeugen sogar kleine Hängematten für Babys. Sie habe auch keine Angst vor Afrika und Indien, weil die Menschen dort sowieso viel kinderfreundlicher seien als hier.

Leon wieherte wie ein erschrecktes Pferd. „Sei doch einmal planlos!“, rief er. „Bis jetzt bist du dein ganzes Leben lang brav jeden Morgen zur Schule getrottet. Jetzt kannst du raus. Los. Und morgens nicht wissen, wo du abends ankommst.“

„Ist nicht so meine Art zu reisen“, sagte Jolanda.

Leon sagte, dass er von Jolanda enttäuscht sei, dass er von ihrer Generation mehr Widerstand erwartet hätte, einen revolutionären Geist und Poesie.

Jolanda fragte, wieso er Revolution und Poesie nicht selbst macht.

Leon sagte, sein ganzes Leben sei Revolution und Poesie. Jeder neue Tag.

Jolanda sagte, Leon sei auf dem Niveau eines Sechzehnjährigen stehen geblieben.

Leon sagte, Jolanda rede wie eine alte Frau.

Jolanda knallte die Küchentür.

Leon sagte, dass Jolanda eine typische neue Spießerin sei.

Ich setzte Wasser für Tee auf und aß ein Stück Schokolade nach dem anderen, weil ich so nervös war. Ich finde, dass sowohl Leon als auch Jolanda Recht haben. Ich finde, dass das Leben nicht einfach falsch oder richtig ist, sondern meistens beides gleichzeitig.

Jolanda steckte den Kopf herein. Sie sagte, sie sei jetzt mit Sören verabredet.

Leon sagte, er habe ihr nicht weh tun wollen.

Jolanda entschuldigte sich für ihre Respektlosigkeit.

Mir war schlecht von der Schokolade.

Kathrins Notiz-Blog 2. November 09

© Illustration Liane Heinze

Wie aufgeregte Theaterbesucher schwatzten die goldenen Kirschblätter auf dem Schulhof. Jolandas Gesicht stach hell aus der Dämmerung. Der Wind zauste ihre lockigen Haare. Sie trug Kniebundhosen und ein weites, weißes Hemd. Sie würde an diesem Abend den schlauen Diener „La Flèche“ in Molières Komödie „Der Geizige“ spielen. Mit ihr waren Jakob und Natascha nach unten gekommen. Jolanda stellte uns gegenseitig vor. „Meine Mischeltern“, sagte sie. Dann verkroch sie sich mit Jakob und Natascha in eine windgeschützte Nische hinter der Eingangstür, um zu rauchen.

Wir stiegen die Stufen zur Aula empor. Leon trug einen Mantel, der seit mindestens zehn Jahren in seinem Kleiderschrank hing und nur bei besonderen Anlässen hervor geholt wurde. Bevor wir losgegangen waren, hatte er immer wieder seine Haare in die Stirn gedrückt und gewischt und dabei sehr unglücklich ausgesehen.

Es war das erste Mal, dass ich mit einem Freund, mit einem Mann, in Jolandas Schule ging, so dass man glauben könnte, wir wären ihre Eltern. Ich glaube, es war auch das erste Mal, dass Leon als ein Mischelternteil eine Schule betrat. Ich hatte mich bei ihm untergehakt. Es war ein ziemlich altmodischer Moment, aber er brannte in meinem Herzen so gemütlich wie ein Kartoffelfeuer.

Der Schulleiter regte seinen Kopf über die aufgeregte Menge in der Aula. Er sah aus wie ein Greifvogel. Leon trug ein weißes Hemd unter dem Mantel, aber er schien unfähig, seinen Hals in weißen Kragen zu bewegen. Er wirkte selbst wie frisch gestärkt.

„Was möchte Jolanda werden?“ fragte er nach der Vorstellung, als wir uns von den Kindern verabschiedet hatten und den Weinbergweg hinauf spazierten.

„Kriminalistin“, sagte ich. Ich erzählte Leon, dass Jolanda Kinder haben möchte.

„Wieso denkt sie jetzt schon an Kinder?“, fragte Leon.

„Weil sie…klug ist, vorausschauend?“, sagte ich.

„Aber sie muss doch erst einmal die Welt entdecken, das Leben studieren, raus, sehen, wie es anderswo ist.“ Leon ereiferte sich. „Nicht gleich fertig eingerichtet und Kinder.“

„Heißt es, dass man sich fertig einrichtet, wenn man Kinder bekommt?“

„Du kannst die Dinge nicht mehr einfach so laufen lassen. Du übernimmst Verantwortung.“

„Hast du deshalb keine Kinder?“, fragte ich.

Leon blieb stehen. „Nein. Nein.“ Er schaute auf seine Schuhspitzen. Er hatte elegante, schwarze Schuhe angezogen. „Ich hätte gern Kinder gehabt.“ Einige Blätter raschelten über den Bürgersteig. Die Tram heulte den Berg hinauf.

„Machen wir ein Kind?“, flüsterte Leon in der Nacht. Ich lag auf seinem Bauch. „Mit dir ein Kind – das muss wunderbar sein. Du mit einem dicken Bauch.“

Regen trommelte an die Scheibe. Ich legte mein Ohr an sein Herz und hörte, wie es schlug. „Woher nimmst du den Mut?“, fragte ich.

„Ich bin nicht mutig“, sagte er. „Ich habe Lust darauf.“

Einmal Westend und zurück

Berliner Zeitung

Ein einsamer Wissenschaftler, ein reinlicher Botschaftsmitarbeiter, eine enttäuschte Französin – auf der Suche nach einem WG-Zimmer in Berlin macht man jede Menge Bekanntschaften. Aber findet man auch ein Zuhause? 

Es ist in Berlin möglich, von einem Tag auf den anderen umzuziehen. Vorausgesetzt, man reist mit Handgepäck. Transportfirmen sind auf Wochen ausgebucht. Umherziehen ist ein Normalzustand der Berliner. Die Stadt bietet jederzeit teil-, voll – und nichtmöblierte Zimmer, halbe Wohnungen, Gartenlauben, auch komplette Häuser. Katzen und Hunde inklusive.

Eine Wohnung am Falkplatz, im Prenzlauer Berg. Isabelle entschuldigt sich für die DDR-Holzfolie auf den Türen, für die Wände, an denen sich die Anstriche verschiedener Zeiten überlagern, dazwischen weiße Gipsflecke. Mir gefallen die Wände. Sie erinnern mich an alte Buchseiten. Der Balkon im vierten Stock über dem Falkplatz ist überwältigend. Sonne flirrt über die staubigen Dielen und das große Pult am Fenster. Zeichnungen liegen darauf, Skizzen, Bündel weißer Federn, Muscheln, Treibholz und Korallen. Isabelle hat das Pult auf Ziegelsteine gehoben, damit die Arbeitshöhe stimmt. In ihrer Freizeit arbeitet sie hier an ihren Kunstobjekten. Sie ist groß und schlank, eine Frau in den Vierzigern in einem hellen, mit Blumen bestickten Leinenkleid. Sie läuft barfuß.

Eigentlich ist sie raus aus der Wohnung, umgezogen, nach Schöneberg, erzählt sie. Ihre dunkle Stimme klingt melancholisch. Aber sie kann sich von der Gleimstraße noch nicht trennen. Deswegen lasse sie einige Dinge hier. Drei Umzugskisten mit der roten Aufschrift „EBAY“ sind an der Wand aufgestapelt, daneben ein halbes Bücherregal, ein Ofenrohr und ein Buddha aus Holz. Gelegentlich käme sie vorbei, um an ihren Objekten zu arbeiten. Ob mich das stört? Keineswegs. Das Unentschiedene ihrer Wohnung gefällt mir. Es entspricht meiner emotionalen Lage.

Bevor Isabelle zur Nachtschicht in das Archiv eines Fernsehsenders fährt, richten wir uns auf dem Balkon ein. Der Plastiksessel mit dem Schaffell darin passt gerade zwischen die Pflanztöpfe. Magere Halme und Kakteen mit festen Stacheln ragen aus den Töpfen empor. Zwischen den geschwungenen Füßen zweier Terrakotta-Töpfe liegt ein Tierschädel.

Isabelle erzählt von ihrer WG in Schöneberg. In den Achtzigerjahren hat sich schon einmal dort gelebt, in ihrer Zeit als Punk. Sie will wieder politisch aktiver werden, sucht Gleichgesinnte. Aber sie ist enttäuscht. Das Gemeinschaftsgefühl sei nicht mehr dasselbe wie früher. Sie denkt darüber nach, nach Frankreich zurück zu gehen. Sie habe sich in Berlin eh immer fremd gefühlt. Die Staaten wären auch eine Option.

Ich lebe in einer Wohnung am Rosa-Luxemburg-Platz, in einem Haus, dessen Tür ich in den nächsten Wochen hin und wieder öffnen werde, um meine Post aus dem Briefkasten zu nehmen, mit klopfendem Herzen, weil es sein könnte, dass ich auf der Treppe dem Mann begegne, den ich eigentlich noch liebe.

Isabelle fürchtet, die Wohnung bald aufgeben zu müssen, weil die Miete erhöht wird. Ein, zwei Monate reichen mir. Solange wird es dauern, bis ich ein neues Zuhause und einen freien Termin bei einer Transportfirma gefunden habe.

Ich suche in der ganzen Stadt. Manchmal will ich nur wissen, wie es anderswo ist. Zum Beispiel in Westend in Charlottenburg: Die Fassade ist trist, das Treppenhaus dunkel. Ich steige auf einem gepflegten Teppich hinauf in den zweiten Stock. Es ist so still, als wäre das Haus verlassen. Der Wissenschaftler, ein drahtiger Mann in den Fünfzigern, führt mich durch verwinkelte hundert Quadratmeter. Das freie Zimmer hat einen steinernen Balkon nach Westen. Im Arbeitszimmer liegen Zeitschriften über erneuerbare Energien auf dem Fußboden. Der Wissenschaftler arbeitet über die sozialen Aspekte ökologischer Entwicklungen. Über den Ostbalkon betreten wir die Küche mit Möbeln aus den Fünfzigerjahren. Einbauschränke im Flur. Genügend Platz. Der zweite Mitbewohner, ein Maler, ist nicht zu Hause. Die gläserne Schiebetür zum Teesalon ist von innen mit seinen Leinwänden zugestellt. Ich frage den Wissenschaftler nicht, wie lange er schon hier lebt, ob er eine Familie hat, Kinder, warum seine Frau nicht mehr da ist und ob er die große Wohnung einige Jahre allein unterhalten konnte, als er noch eine gut bezahlte Arbeit hatte und wie lange es schon anders ist. Ich möchte ihm nicht zu nahe treten. Als errate er meine Fragen, legt er häufig den Finger auf die Lippen, während ich mir einen Raum anschaue und sagt mit gesenktem Kopf leise „ja“. Dann wieder spricht er mit kindlicher Begeisterung von den Radwegen in den nahen Grunewald.

Herr Hosokawa kündigt in seiner Annonce einen großzügigen Dachgarten im Wedding an. Ich klettere auf einem abgetretenen Kokosläufer hinauf in den fünften Stock. Der Dachgarten ist eher ein großer Balkon, die Pflanzen prächtig. Der Blick geht in die Wohnungen im Hinterhaus und über die Dächer. Hinter einer Reihe Satellitenschüsseln ragt der Fernsehturm empor. Herr Hosokawa serviert grünen Tee in dunklen Keramikschalen. Seinem Untermieter hat er gekündigt, weil er zuviel raucht. Doch zu diesen unangenehmen Dingen kommt er später. Beim Tee erfahre ich, dass er als Mitarbeiter der japanischen Botschaft in der DDR zwischen Ost- und Westberlin hin und her fahren durfte und seiner DDR-Frau und den Kindern alles im Westen kaufen konnte, was immer sie sich wünschten. „Eine schöne Zeit“, sagt Herr Hosokawa wehmütig. Nach Wende und Ehescheidung baute er einen Vertrieb für japanische Waren auf: Zehensocken, Bento-Boxen, Teezubehör…alles, was unter Japan-Fans gefragt ist. Die Finanzkrise ruinierte zuerst seine japanischen Geschäftspartner, dann ihn.

Plötzlich sehne ich mich nach Hause in den Prenzlauer Berg, wo ich die meiste Zeit meines Lebens gewohnt habe. Alle meine Freunde leben dort. Meine ganze Familie. Was auch immer über diesen Bezirk geredet und geschrieben wird, dass er nur noch schick ist und die Spekulanten keinen Raum mehr für Rentner und Arbeitslose lassen; es ist wahr, die Mieten sind meist unverschämt, dennoch leben viele Hartz-IV-Empfänger im Prenzlauer Berg. Sie haben allerdings jede Menge zu tun. Auch die Künstler sind noch da. Und die Rentner sehen hier eben nicht aus wie alte Leute. Sie alle kämpfen um ihr Bleiberecht.

Herr Hosokawa holt Desinfektionsmittel aus dem Bad. Der Teppich im Flur ist durchgetreten, die Tapeten vergilbt. Der Untermieter sitzt auf dem Sofa im Flur, ein junger Mann mit dichten, dunklen Haaren. Er trägt eine schwarze Lederjacke. Die Hände liegen nebeneinander im Schoß, als erwarte er, dass man ihn in Handschellen abführt. Er beobachtet uns wütend mit gesenktem Kopf. Herr Hosokawa sprüht Desinfektionsmittel auf die Klinke, bevor er das Zimmer öffnet und weist mich an, nichts zu berühren. Eine Matratze liegt unter dem Fenster. Kleidungsstücke sind auf dem Boden verstreut. Es stinkt.

Paula und Thomas wohnen jetzt in ihrem Haus in Mecklenburg. Eigentlich. Die Wohnung am Teutoburger Platz in Prenzlauer Berg möchten sie aber nicht aufgeben. Es gäbe auch noch berufliche Verbindungen in die Stadt, die erfordern, dass sie gelegentlich  hier übernachten. Und die Kinder würden hin und wieder ihre alten Freunde in der Großstadt besuchen wollen. Ob uns das stört? Paula ist Kinderbuchautorin, Thomas ein IT-Spezialist. Wir sitzen in der geräumigen Küche, Paula und Thomas, Dilek, meine zukünftige Mitbewohnerin und ich. Alles ist vertraut: Die hohen Räume. Der Kinderlärm vom Platz vor dem Haus. Ringsum Läden, die sich nicht zwischen Café, Spielplatz, Second Hand und Bar entscheiden können.

Ich habe ein neues Zuhause gefunden. Nach zwei Monaten. Man kann mir wirklich nicht vorwerfen, ich sei eine Prenzlauer-Berg-Chauvinistin. Immerhin habe ich auch im Wedding gesucht. Und um Haaresbreite wäre ich nach Westend gezogen.

An einem warmen Septemberabend im Hof erzähle ich meiner Mitbewohnerin Dilek von meiner WG-Suche. Ich halte den Kalender neben das Teelicht, um die Namen und Adressen noch einmal zu lesen. Wie eine Abenteurerin nach der Heimkehr die Stationen ihrer Weltreise auf der Karte absteckt. Ich möchte Dilek eine Ahnung von der Größe dieser Stadt geben. Sie ist Rechtsanwältin, Anfang vierzig und von Neuss nach Berlin gezogen, um noch einmal richtig durchzustarten. Dilek ist begeistert von Berlin und erstaunt, weil in unserem Haus so viele Künstler leben, die zwei Frauen zum Beispiel, die sich später mit einer Flasche Wein zu uns setzen und beraten, wie sie mit selbst gebackenen Keksen in den Feinkostgeschäften ringsum ihr Hartz IV aufbessern können. Sie haben Kostproben mitgebracht. Kastanien-Plätzchen. Ich nehme eins und freue mich, dass ich wieder da bin.