Kathrins Notiz-Blog 21. Oktober 09

© Illustration Liane Heinze

Leon tanzt nicht. „Komm!“ Ich nahm seine Hände, wollte ihn auf die Tanzfläche ziehen. Er schüttelte mich ab wie ein Insekt.

Mein Freund Bertram hatte den Club an seinem Geburtstag gemietet. Zwei georgische Jungs mit glatt gescheitelten, glänzenden Haar, wie Zwillinge in weißen Hemden und schwarzen Hosen, legten auf. Keiner von uns war in der Lage, bei dieser Musik sitzen zu bleiben. Leon blieb als einziger an der verlassenen Tafel zurück. Farbige Lichter tupften die Tanzfläche. Ludwig, Bertrams Lebensgefährte, warf die Beine wie ein Kosak abwechselnd in die Luft. Es sah angestrengt aus. Sein Hemd klebte am Rücken. Ich hatte ihn noch niemals so ausgelassen erlebt. Ludwig treibt die Langeweile von Geburtstagsgesellschaften gewöhnlich auf die Spitze. Letztes Jahr hatte er aus einem längst vergessenen Roman eines unbekannten russischen Dichters vorgelesen. Er hatte das Buch hinter dem Heizungsrohr in seiner Bibliothek gefunden.

Die beiden DJs stiegen auf den Tisch. Neben dem Mischpult präsentierten sie ihre blank geputzten, spitzen Schuhe. Ich schaute zu Leon. Er sah alt aus. Ich ekelte mich vor seinem Mund, der in Abscheu erstarrt war. Aber ich konnte nicht verhindern, dass ich uns plötzlich mit seinen Augen sah. Die wippenden Brüste der Mädchen fand ich peinlich, lächerlich, wie Bertram vor Ludwig auf den Knien rutschte, der verkrampft die Beine hoch riss, während ihm der Schweiß aus den Haaren lief.

„Er ist nicht gut für dich“, sagte Jolanda heute Morgen in der Küche, als Leon gerade raus gegangen war, um Croissants zu kaufen. „Du bist mies drauf.“ Jolandas Haare waren noch strubblig von der Nacht. Um die Schultern trug sie das bunte Fransentuch, das ich auch schon getragen hatte, Mitte der Achtziger. Ein Freund aus Westberlin hatte es gestrickt, damals, als alle strickten, als es schick war, bei Freunden seine Wolle auszupacken und Tee auf dem Fußboden zu trinken.

„Er ist unbequem. Ich liebe Herausforderungen“, sagte ich. Ich setzte mich auf die Ofenbank am Fenster und mahlte die Kaffeebohnen. Ich war müde. „Ich habe viel durch ihn gelernt.“

„Was denn?“, fragte Jolanda.

„Über Häuser aus Pappe.“

„Und?“, fragte Jolanda.

„Ein Haus aus Pappe ist…“

„Was?“

„Es ist…nicht mehr da, es kann in einem Fluss davon treiben, der Wind kann es nehmen, und zurück bleiben nur ein paar Pusteblumen, es hatte keinen Keller, keinen Boden, kein böses Geheimnis. Ich glaube, Leon ist wie dieses Haus, er ist einfach, ehrlich, er kann sich nicht verstellen, nicht anpassen, nicht lügen. Er ist wie er ist.“

Zielfahnder: Auf der Suche nach der Tupperdose

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In seiner freien Zeit streift Timo durch die Gegend, um an schwer zugänglichen Orten versteckte Mitteilungen zu finden. Er ist ein Geocacher. Er bevorzugt Schwierigkeitsstufe 5, die gefährlichste. 

© Photo: Stephan Pramme

Timo sucht das Codewort. Er ist nicht wegen der morbiden Schönheit des Gebäudes hier.

Timo Schygulla, 27 Jahre, aus Berlin-Reinickendorf, ist gekleidet und ausgerüstet wie für eine Expedition auf einen unbekannten Kontinent. Dabei streift er nur durch Brandenburger Land. Er trägt feste Schuhe und eine Hose mit vielen Taschen, in denen er seine Ausrüstungsgegenstände, GPS-Gerät, Telefon, Taschenlampe, Spiegel und feuerfeste Handschuhe, unterbringen kann. In seinem Rucksack stecken ein Wasserbeutel, aus dem er sich über einen Schlauch direkt bedient, und eine Kletter ausrüstung. Timo ist Geocacher. Er ist auf der Suche nach dem »Cache«, dem Versteck.

Geocaching ist ein relativ neuer Zeitvertreib. Gerade erlebt es einen Boom. Call-Center-Angestellte, Wissenschaftler, Verkäuferinnen, Informatiker, Rentner und Schüler sind unterwegs, um Tupperdosen in die Landschaft zu legen, mit einem Logbuch darin, in das der Finder seinen Namen und einen hübschen Spruch schreiben kann. Außer einem GPS-Gerät braucht man das Internet. Unter der Adresse www.geocaching.com werden die Koordinaten der Verstecke veröffentlicht. Dort wird auch registriert, wie oft jedes Versteck gefunden wurde und von wem. Daraus folgt das Punkte-Ranking der erfolgreichsten Cacher landes- oder weltweit. 860 000 Dosen, von fingerkuppenkleinen »Nanos« bis zu Munitionskisten, liegen auf allen fünf Kontinenten der Erde, einschließlich der Antarktis. Es ist allerdings anzunehmen, dass der prozentuale Anteil der Geocacher in Deutschland höher ist als beispielsweise in Patagonien. Genaue Zahlen gibt es aber nicht. Etwa 500 Geocacher streifen beispielsweise durch den Berliner Raum, schätzen Insider. Kaum noch eine Straße in der City, in der nicht unter einer Parkbank oder in einem Telefonhäuschen eine Dose klebt. Solche einfachen Verstecke sind aber nur der Anfang. »Multicaches« führen über mehrere knifflige Stationen zur Ziel-Dose, von den Cachern »Final« genannt. Der Ort, den Timo heute sucht, liegt 52 Grad, 15 Minuten und 704 Milliminuten nördlicher Breite und 12 Grad, 55 Minuten und 482 Milliminuten östlicher Länge.

Wir stehen vor der Ruine des Chirurgie-Pavillons einer ehemaligen Lungenheilstätte, im Flügel der Frauen. »Vom Eingang müssen wir 300 Meter peilen, direkt in die Mitte des Gebäudes«, sagt Timo. Unsere Schritte knirschen über Schutt und Glas. Ein langer Kreuzgang führt auf das Skelett einer zweiflügeligen, halbrunden Tür zu. Es zieht gewaltig, denn sämtliche Fenster sind zerbrochen. Links des Ganges gehen die ehemaligen Krankenzimmer ab. Die Türen wurden entfernt, weggetragen, wahrscheinlich waren sie schön, wie die Flügeltür am Ende, wie die leeren Fensterrahmen zum Park, deren Anstrich in so filigranen Blättchen vom Untergrund bricht, dass es wie ein Muster wirkt, wie feine Spitze. Die Gebäude wurden im 19. Jahrhundert gebaut. Beelitz-Heilstätten, das Sanatorium, rund 60 Kilometer südwestlich von Berlin, ist ein architektonisches und technisches Meisterwerk seiner Zeit. Nach 300 Metern befinden wir uns kurz hinter der Flügeltür, vor einem leeren Aufzugsschacht. Das Eisengitter rostet, gilbt, grünt. Der Verfall wirkt wie inszeniert. Nur noch Fragmente des geschmiedeten Geländers um den Aufzugsschacht, Blüten, Blätter und gedrehte Stäbe, sind geblieben. Sie wurden zersägt und abgebrochen. Der Aufzug hängt zwei Stock werke höher, eingerostet, wie für die Ewigkeit.

»Wichtig ist eine gute Story«, sagt Timo. Er führt Taschenlampe und Spiegel durch Entlüftungs- und Heizungsschächte und über offen liegende Rohre, um einen Hinweis auf Heinrich zu finden, der in einem der Pavillons von Beelitz-Heilstätten verloren gegangen ist. So weit die Story. Barbie & Bruettler haben den Multicache in Beelitz-Heilstätten gelegt. Geocacher arbeiten mit »Nicknames«. Timos Deckname lautet »Ultralist«. Auf www.geocaching.com ist zu lesen, dass Barbie & Bruettler in Kassel leben und seit 2006 knapp 4000 Funde gemacht haben, meist in hohen Schwierigkeitsstufen. Das Foto im Nutzerprofil zeigt eine rothaarige Schaufensterpuppe in Seidenwäsche. In einem nostalgischen Spiegel neben ihr ist der nackte Oberkörper des dazu gehörenden Schaufenstermannes zu sehen.

Nach 20 Minuten Suche schiebt sich ein Satz, mit schwarzem Edding auf ein Rohr geschrieben, in Timos Spiegel: »Woher kommt das viele Licht? Bin ich etwa noch im grünen OP? Heinrich.« Die Suche nach dem grünen OP führt durch mehrere zugige Gänge, von denen ehemalige Bäder, Toiletten und Krankenzimmer abgehen. »Ein lauschiges Plätzchen zum Vögeln« hat jemand auf die weißen Kacheln über ein Sofa gesprüht, das so aussieht, als hätte es schon mehrere Landregen aufgesogen. Das Dach des Gebäudes ist längst nicht mehr dicht. »In der Bildersafari für den großen Multi ist dieses Bild mit drauf«, sagt Timo. »Allerdings nur als Ablenkung.«

Auf keinen Fall möchte Timo sich ablenken lassen. Er nimmt die Besonderheit dieses Ortes zwar wahr, das Blut auf den blauen und rosa Kacheln, die ausgequetschten Ketchup-Flaschen in den Pfützen auf dem Betonboden, das verrostete Metallbett unter der altertümlichen OP-Lampe mit den blinden Augen, doch anders als die Fotografen und Filmleute, die in Beelitz-Heilstätten das Interieur des Schauders suchen, genießt Timo die besondere Herausforderung seines Caches. Nur das. Schwierigkeitsstufe fünf. Die höchste. Die Symbole auf der Web- site, ein Totenkopf, eine Kletterwand und eine Taschenlampe, sind die Indikatoren der Verstecke, die ihn interessieren. Wie die Figur in einem Computerspiel bewegt er sich in dem alten Krankenhaus. Glatt. Geschickt.

Timo ist Wirtschaftsingenieur, spezialisiert auf Multi-Media-Systeme, das heißt, auf die Anwendungen des Web 2.0 und Enterprise 2.0, also Blogs, Foren und Twitter. »Als Wirtschaftsingenieur hat man einerseits das technische Know-how und andererseits BWL«, erklärt er. Sein Studium hat er er folgreich abgeschlossen. Kürzlich hatte er ein Bewerbungsgespräch bei der Telekom. Es lief gut. Jetzt bereitet er sich auf die Prüfung im Accessmentcenter vor. Timo strahlt Leichtigkeit aus, die Sicherheit desjenigen, der gewohnt ist, dass ihm die Dinge gelingen. Schwer vorstellbar, dass ihm irgendwo ein peinlicher Satz entwischt. Es gibt Menschen, denen die Welt wie maßgeschneidert sitzt. Timo fährt Mountainbike, er paddelt und trainiert jetzt die Jugendgruppe seines Vereins am Tegeler See. Er löst Sudokus, hört die Nachrichten und geht zur Wahl. Seine Freundin Isabel studiert Mathematik. Geocaching langweilt sie. »Sie findet Finden schön«, sagt Timo. »Aber Suchen nicht.« Bei den Stammtisch-Treffen der Berliner Geocacher bleibt Timo alias »Ultralist« vornehm zurückhaltend. Vereinsmeierei ist ihm zuwider. Er mag keine Bier- und Weinseligkeit. Er ist am Austausch von Fakten interessiert.

Geocacher kommen aus allen Altersgruppen und Schichten der Bevölkerung. Es gibt ganze Familien, die cachen gehen, zum Beispiel der Diplomingenieur »Geolink«, seine Hausfrau »Lupini« und ihre gemeinsame Tochter »Midna«. Die Berliner »Gartenzwerge«, ein blasses, in Schwarz gekleidetes Paar, bezeichnen sich als Genusscacher. Was auch immer sie genießen, der gefährliche Multi in Beelitz- Heilstätten gehört sicher nicht dazu. »Jack Sparrow«, ein älterer Herr, der die Welt bereist und eine sagenhafte Punktezahl gesammelt hat, wird von vielen bewundert. Es gibt den Notarzt, der komplett auf einen Nickname verzichtet und sich einfach Jan Wagner nennt, als hätte er gar keine Lust, auch mal jemand anders zu sein als er selbst, und »Moenk«, den Geo-Informatiker, ein Star der Szene, ein Typ wie Timo: sportlich, sympathisch, klug und schön. Unter www.cachetalk.de betreibt er einen Podcast.

Timo hat die nächste Koordinate gefunden. Sie ist mit roter Farbe auf die Unterseite eines Fensterschenkels geschrieben. Die Spur führt hinaus aus der Chirurgie, durch den Park, zu einer gigantischen Ruine, noch immer im Flügel der Frauen. Die Ruine schiebt sich wie ein Kasten aus dem Park, rechts, links, unten und oben von Bäumen umgeben. Wir trauen zunächst unseren Augen nicht, doch dann bestätigt sich dieser erste wunderliche Eindruck: Im zerstörten oberen Stock werk des Gebäudes wachsen hohe Bäume. Ein Gang, verschüttet mit Holzbalken und Schutt, führt auf eine riesige Halle zu, deren Fenster zerstört sind, deren Fußboden von Steinen und Erde bedeckt ist, als wäre der Wald bereits erfolgreich gegen die Mauern vorgerückt. Die marode Treppe führt durch die Stockwerke hinauf in den Wald. Wie kommt ein kompletter Wald mit Nadeln, Moos, Ebereschen, Ahornbäumen und schlanken Kiefern in den vierten Stock eines Hauses? Die Treppe bricht in Höhe der Ebereschen ab. Timo hat keine Idee, wie der Wald hier rauf kam. Interessiert es ihn? Erstaunt es ihn? Gibt es überhaupt etwas, das ihn staunen macht, ihn entsetzt, auf die Palme bringt? War er jemals richtig wütend? Vertauschte Ziffern in Koordinaten hätten ihn schon verärgert, sagt Timo. Möglicherweise schleuderte die Bombe, die das Gebäude im Zweiten Weltkrieg zerstörte, einige Kilo Erde, ein Samenpaket, durch die Luft. Möglicherweise reichte das dem Wald aus, sich hier oben auszubreiten. Egal. Dieses Wissen wird im Multicache nicht abgefragt, ist also nicht von Belang. Hier kommt es lediglich darauf an, ein Loch im Waldboden zu finden, durch das Timo sein Kletterseil über den darunter liegenden, eisernen Balken der großen Halle fädeln kann. Im grünen Mooslicht der großen Halle, vielleicht ein ehemaliger Turn-, Fest- oder Speisesaal, in dem Vorträge über gesunde Lebensweise gehalten oder Konzerte aufgeführt wurden, legt Timo seinen Klettergurt um, befestigt zwei Reepseile an dem dicken Seil, in die er seine Füße stellt, und klettert wie auf einer mobilen Treppe unters Dach. Leicht sieht das aus. Das sind die Momente, die er an diesem Hobby liebt, Momente, in denen sein besonderes Können gefragt ist. Er muss jetzt nicht mehr suchen. Alle Rätsel sind gelöst. Er ist kurz vor dem Ziel. Er entspannt sich beim Klettern. »Es ist die Heraus forderung an Kopf und Können«, sagt er.

Als Nächstes möchte er gern den Cache auf dem Betonschiff in der Wismarer Bucht lösen. »Ich stelle mir das gut vor. Zuerst musst du da rüber paddeln, dann über die Bordwand klettern und dich drüben wieder abseilen.« Er würde auch gern mal nach Nepal reisen. »Die hohen Berge«, sagt er. »Der K2?« Er schüttelt den Kopf. Keine Extreme. Kein zu großes Risiko. Keine Besessenheit.

Wir finden Heinrich im Keller neben einer Metallkiste mit altem Röntgengerät. Natürlich keineLeiche, kein Skelett. Nur eine Tupperdose mit einem Logbuch drin. Außerdem befinden sich in der Dose ein kleines Spielzeugauto, ein leeres Jojo, ein alter Computerstecker, ein Button mit der Aufschrift »No War« und ein Geo-Coin. Diese Münzen stellen in der Szene einen Sammlerwert dar und werden nicht selten geklaut, weswegen von einigen Coins nur Kopien in Umlauf gegeben werden. Den Besitzer eines Coins kann man anhand der Ziffer über das Internet finden. Die amerikanische Firma www.geocaching.com verkauft die Geo-Coins. Die Hersteller der Münzen müssen an Groundspeak Tantiemen für die Vergabe der Nummern zahlen. Weitere Gewinne erzielt Groundspeak durch die Einnahme aus den Premium-Mitgliedschaften. Premium-Mitglieder zahlen für besondere Service-Leistungen und für die Exklusivität einiger Caches.

Wer war Heinrich? Ein langhaariger Kämpfer für den Frieden? Spielte er Jojo, um sich das Rauchen abzugewöhnen? Liebte er Autos? Wann kaufte er seinen ersten Computer? Barbie & Bruettler, die Erfinder von Heinrich, äußern sich dazu nicht. Das Spiel ist hier zu Ende, die Teile in der Dose sind zufällig. Sie bedeuten nichts.

Kathrins Notiz-Blog 4. Oktober 09

© Illustration Liane Heinze

Die Nächte sind kühl, der Sommer ist längst vorbei. Ich habe gar nicht bemerkt, dass schon wieder Herbst geworden ist. Das Bewerbertraining habe ich abgeschlossen. Jetzt muss ich mir Gedanken darüber machen, wie es weitergeht. Ich habe schon viele Berufe ausprobiert: Ich habe Tee verkauft und in einem Callcenter Interviews geführt. Ich habe gegärtnert und geputzt. Mein Herz hing an keiner dieser Arbeiten.

Gestern hat Leon das erste Mal für mich gespielt. Er hielt die Augen geschlossen, während er funkelnde Galaxien aus den roten Trommeln schlug. Er zog die Lippen fest nach innen, hielt die Augen geschlossen und manchmal stöhnte er. Ich schämte mich, ihm dabei zuzusehen und blickte stattdessen auf meine Füße. Ich bohrte die großen Zehen aus den Löchern seiner Socken.

„Ich sollte wieder spielen“, sagte Leon.

„Du spielst“, sagte ich.

Leon brachte einen Schuhkarton. Der Karton war staubig, die Farben unter dem Staub verblichen. Er setzte sich im Schneidersitz auf die Dielen des Zimmers, den Karton zwischen seinen Füßen. Leon hob den Inhalt Blatt für Blatt heraus: Fotos, Konzertankündigungen, Rezensionen, Verrisse, ein Porträt der Band Blamage in der taz. Ein Foto zeigte vier schöne, junge Leute, die nicht gewohnt waren, vor einer Kamera zu posieren. Leons Haar war dicht und dunkel, die Lippen voll. Er sah toll aus. Neben ihm die Sängerin, mit dichten blonden Haaren bis zum Po. Ein Flyer kündigte eine Konzertreise durch Polen an.

Nach vielen Jahren sei er sich schäbig vorgekommen als Tellerwäscher und Kellner in ranzigen Kneipen, sagte er, als Putzmann in dunklen Treppenhäusern, die im Winter nach Ruß rochen. Er habe die Nase gestrichen voll gehabt von diesem glanzlosen Leben als Preis für die Kompromisslosigkeit, nur das zu spielen, worauf er Lust hatte. Er hatte aufgehört.

In dem Karton waren Fotos der Frau, an deren Seite er vor zehn Jahren ein anderes Leben begonnen hatte. Energische, dunkle Augen und weiße Zähne. Einige gebleichte Strähnen wehen in ihr Gesicht. Das Foto wurde am Meer aufgenommen. Ich hatte mich an Leon gelehnt, aber er schien mich kaum wahr zu nehmen. Er war sentimental geworden. Je mehr er von der Vergangenheit schwärmte, desto einsamer wurde ich.

Ich vermisse eine Zeit, an die ich mich gern erinnere, die mich sentimental macht. Ich habe immer nur nach vorn gelebt. Die Vergangenheit interessierte mich nie. Ich bin nicht gern zur Schule gegangen. Ich habe nicht den Beruf, nach dem ich mich sehne. Ich habe geliebt, aber es waren kurze, quälende Affären. Es kommt mir vor, als sei ich auf einer anstrengenden Reise, als sei es mir verwehrt, jemals anzukommen.

Unterm Regenbogen

Berliner Zeitung

Diese Anzeige stand im Sommer in der taz:

ARNO

war fast 28 Jahre lang

in der Fahrradwerkstatt, im Wohnhaus, im Café und in der Baugruppe bei und mit uns. 

Jetzt ist er für immer von uns gegangen und wird doch für immer bei uns bleiben. 

Auf Dich, Arno…

Deine FreundInnen und KollegInnen aus der Regenbogenfabrik. 

Achims Sticker vom 1. FC Kaiserslautern sind so vergilbt wie die Fotos an der Wand. Ein Foto zeigt Arno. Er ist jung darauf. Arno trägt das glatte, lange Haar in der Mitte gescheitelt und zu einem Zopf gebunden. Sein Gesicht ist schmal, die Augen sind hell. Wasserblau. Achim trägt auch einen Zopf, doch sein Haar ist störrisch und grau. Er sieht ein bisschen aus wie Hagrid, der Halbriese aus Hogwart. Massig, bärtig. Seine Stimme ist brummig, ein Typ, dem man sofort ein weiches Herz unterstellt. Man glaubt, Tränen in seinen braunen Augen zu sehen, wenn er von Arno spricht. Achim Sand ist 53 Jahre alt. Sein Freund Arno Hoffmann starb in diesem Jahr mit 55 Jahren.

Auf einem anderen Bild an Achims Wand bereitet Arno Rahmschnitzel mit Lauchgemüse. Der Lauch war extra für Achim. „Arno glaubte, dass ich Lauch mag“, sagt Achim. „Bis ich mir nach vielen Rahmschnitzeln mit Lauchgemüse ein Herz fasste und Arno die Wahrheit sagte: Ich verabscheue Lauch. Arno brach vor Lachen fast zusammen.“

Arno und Achim arbeiteten zusammen in der Baugruppe der Kreuzberger Regenbogenfabrik. Die Regenbogenfabrik ist eines der alternativen, sozialen Projekte, die in den achtziger Jahren in Kreuzberg entstanden. Es gibt heute auf dem Gelände eine Kita, ein Kino, Seminarräume, einen Fahrradverleih mit Werkstatt, Tischlerei, Kantine, Café, eine Kuchenbäckerei. Und ein Hostel. Bis auf einen kleinen Senatszuschuss zum Betrieb der Kita und einigen Beschäftigungsmaßnahmen vom Jobcenter trägt sich das Projekt selbst.

Achim zeigt ein Foto, auf dem Arno einen Bagger steuert. „Das war 2007, da haben wir die alte Remise für den Neubau des Hostels ausgemistet“, erklärt Achim. Die Bäume werfen Schatten in das Zimmer im Seitenflügel der Kreuzberger Regenbogenfabrik, in dem Achim wohnt. Die frisch verputzte Wand des Hostels auf der anderen Seite des Hofes reflektiert das Sonnenlicht. „Diese Wand haben wir noch zusammen hochgezogen, vor zwei Jahren“, sagt Achim. Er nennt Arno den Filigranen, weil er auf dem Bau immer dort eingesetzt wurde, wo es auf Genauigkeit ankam.

Arno und Achim sind in Zweibrücken in der Pfalz aufgewachsen. Sie besuchten die gleiche Schule. Achim wurde Autoschlosser, Arno Dreher. Nach der Ausbildung schraubten sie am Fließband der gleichen Firma Türen für Wohnwagen zusammen. Arno ging zum Bund. Achim flüchtete nach Berlin, als der Einberufungsbefehl im Briefkasten lag.

Achim beobachtete damals die Besetzung der heruntergekommenen, leer stehenden Chemiefabrik Albert Carl in der Lausitzer Straße in Kreuzberg. Das war 1981. Die Besetzter nannten sie dann Regenbogenfabrik. Achim arbeitete in einer Fahrradwerkstatt im Kiez. Aus Solidarität mit den Besetzern verlegten sie ihre Werkstatt auf das Gelände der Regenbogenfabrik.

Arno lebte damals noch in der Pfalz, er besuchte seinen Freund gelegentlich in Berlin. Bei einem der Besuche verliebte sich Arno in ein Mädchen, wenig später zog er zu ihr nach Berlin. In der Regenbogen-Fahrradwerkstatt gab es ausreichend Arbeit für ihn. Arno fing dort an. Später ging er mit Achim in die Baugruppe.

Einmal hatte Arno seine Bleibe in der Regenbogenfabrik verlassen. Er zog zu einer Frau, die er kennengelernt hatte, in eine Wohnung im Wedding, mit Schrankwand, Kanarienvögeln und Nachtspeicheröfen. Gemeinsam zogen sie die neunjährige Tochter von Arnos Lebensgefährtin auf. Arno brauchte Geld. Er gab seinen Job in der Regenbogenfabrik auf und fing bei einer Baufirma an.

Die Freundschaft zwischen Arno und Achim blieb. Achim kam regelmäßig zum Fußballgucken vorbei. Arnos Frau erkrankte an Krebs, er pflegte sie in ihrem Elternhaus bis zu ihrem Tode. Achim schaute regelmäßig nach dem Freund. Arno kümmerte sich nach dem Tod der Mutter weiter um die Tochter, er bereitete Rahmschnitzel für sie, beriet sie in Beziehungsfragen, sorgte für die Französisch-Nachhilfe und bezahlte ihre Ausbildung. Er hielt die Nachtspeicheröfen am Heizen, bis das Mädchen sich verabschiedete und zu seinem Freund nach Hamburg zog. Arno zog, das war 1996, zurück in die Regenbogenfabrik und arbeitete weiter mit Achim in der Baugruppe.

An einem Tag im Mai 2007 kippte Arno auf der Baustelle um. Achim fuhr mit seinem Freund ins Krankenhaus. Stundenlang wartete er, bis Arno mit den Röntgenaufnahmen unter dem Arm von den Untersuchungen zurückkam. „Ich habe einen Tumor im Kopf, die Ärzte sagen, ich kann noch zwei Jahre damit leben, hat Arno nur gesagt“, erinnert sich Achim. Achim nahm ihn einfach in die Arme. Sie hatten nie viele Worte gemacht.

Arno hat dann nicht mehr gearbeitet, aber er blieb in der Regenbogenfabrik. „Wir glaubten, Arno wäre die Ausnahme, der eine von hundert, der durchkommt“, sagt Achim. Arno kam nicht durch. Als es zu Ende ging, zog er zurück in die Pfalz. Zwei Jahre nach der Krebsdiagnose ist er in seinem Elternhaus in Zweibrücken gestorben.

Im Café der Rgenbogenfabrik haben sich an diesem Sommertag Freunde von Arno versammelt. Es ist ein Raum mit groben Dielen, auf denen schwere, nackte Eichentische stehenm, er ähnelt eher einer Kneipe und es wird hier wohl auch mehr Bier als Kaffee getrunken. Marion ist gekommen, Arnos erste Freundin in Berlin. Ihr trotziger Blick und die kurzen, dunklen Haare erinnern noch an das Mädchen auf einem der Fotos an Achims Wand. Auch Uta Doro ist da, die letzte Lebensgefährtin von Arno, eine kleine Frau Mitte Fünfzig mit hoch angesetzten, dunklen Zöpfen und einer runden Brille, die hier alle nur „Citrone“ nennen. Mit ein paar Mitgliedern von Arnos Baugruppe sitzen sie um den großen runden Tisch. Tabakpäckchen und Papier liegen bereit, das Fenster ist weit geöffnet.

Es wird an diesem Abend in der Regenbogenfabrik viel geraucht und viel Bier getrunken. Geschichten machen die Runde, von früher, als Arno noch gesund war. Lustige Geschichten aus einer vergangenen Zeit. „Eines Nachts, als Arno und Achim wieder mal kein Ende fanden im Café, hab ich Arno einfach eingeladen, bei mir zu schlafen“, gibt Citrone zum besten. „Ich hab ihn einkassiert. Man musste ihn vor Tatsachen stellen, sonst passierte ja nichts. Einen Monat später wurde Arno krank.“

Arnos Freunde am Tisch erzählen von gemeinsamen Ausflügen an die Nordsee und in den Spreewald, von gemeinsamen Fußballabenden und Grillfesten. Die meisten Erinnerungen an Arno haben mit viel Bier zu tun.

„Wir waren doch jeden Abend auf der Piste“, sagt Marion. Sie erzählt von ihren Streifzügen durch die Kreuzberger Kneipen, von Rausschmissen und Beschimpfungen durch die „Spießer“. Das war in den Achtzigerjahren ihre Revolution.

Ein älteres Mitglied der Baugruppe erzählt von Arnos Motivationskünsten. „Los Achim, noch ’ne Stunde, hat er oft auf der Baustelle seinem Freund zugeredet. Danach gehen wir ins Café. Das half.“ Die Tischrunde lacht, Achim knackt das vierte Bier. „Achim und Arno kamen nach den langen Nächten hier im Café ständig zu spät“, erinnert sich der Anleiter der Baugruppe, ein Sozialpädagoge. „Man konnte sich den Mund fusslig reden.“

Citrone ist in den letzten zwei Jahren an Arnos Seite geblieben. Achim hatte sich noch mit Arno in seiner Heimatstadt verabredet, aber es war dann zu spät. Zu Arnos Beerdigung in der Pfalz sind sie alle gefahren. Achim hat da schon nicht mehr in der Baugruppe gearbeitet. Er sagt, er habe gesundheitliche Probleme bekommen. Seitdem ist er arbeitslos.