Berliner Notiz-Blog 8. September 09

Die Zahl der Kinder, die in Deutschland von Armut bedroht sind, nimmt immer mehr zu. Deutschland liegt in der Liste der industrialisierten Länder, die es nicht auf die Reihe bekommen, sich um ihre Kinder zu kümmern, ganz weit vorn. Irgendetwas stimmt nicht in diesem Land.

Am liebsten würde ich aus der Herde des „Wählerviehs“ ausscheren. Endlich. Geht aber nicht. Denn da ist immer noch die NPD, gegen die man anwählen muss. Jetzt habe ich begriffen, warum die Nazis in Deutschland nicht endlich verboten werden.

Damit wir, der verantwortungsbewusste Rest des Landes, an die Wahlurnen geht. Man erpresst uns!!

Wir sind moralisch gezwungen, mit unserer Stimme Personen, die Banken retten, aber Kinder im Stich lassen, Dienstwagen, Chauffeure, Einfluss und das beste Essen zu sichern. Und selbst brav weiter zu hungern. Wie lange lassen wir uns das noch bieten?

Die Zahl der Selbständigen, die Hartz IV beantragen müssen, hat sich seit 2004 verdoppelt. Das heißt, das nicht nur Menschen ohne Arbeit oder mit zu wenig Arbeit von Hartz IV leben, sondern auch die Unternehmen. Denn würden die Unternehmer richtige Löhne zahlen, müsste kein Selbständiger Sozialhilfe beantragen. Man kann also sagen, dass das ganze Land an Hartz IV nuckelt. Das ganze Land nuckelt und schweigt. Prost!

Berliner Notiz-Blog 7. September 09

Im September sind alle wieder zurück. Wir treffen uns, reden von den Ferien, gönnen uns in den milden Nächten noch einen Nachschlag vom Sommer. Nie sehen die Leute so gut aus wie jetzt.

Ich habe mir im letzten Monat ein paar freie Tage gegönnt, war zwischendurch hier, aber meine Aufenthalte im Büro waren wie die Löcher in einem Schweizer Käse. Es zählte nur das Drumherum: Die Touren mit meinem neuen Mountainbike im Harz, Schwimmen gehen, die Tage mit Sam, dem Sohn von meinem Freund Philippe, der jedes Jahr seine Sommerferien in Berlin verbringt und für den Rest des Jahres in Guyana lebt.

In unserem Office haben zwei Neue angefangen. Johanna, eine Grafik-Designerin und Bippo, ein Journalist. Er hat von einer zweimonatigen Recherche in Ruanda Kaffee mitgebracht. Also haben wir mit ruandischen Kaffee angestoßen. Für einen kurzen Moment, als unsere Tassen aneinander stießen, waren wir verbunden, ein SommerEnd-Team, bevor jeder an seinen Schreibtisch zurück kehrte und allein für sich wieder seinen Job tat, wie bisher, eine zufällige Gemeinschaft von Einzelkämpfern, die kaum etwas voneinander wissen, ständig bedroht von Geldmangel, auch der Angst, sich diesen schönen Arbeitsplatz in der Nähe der Spree nicht mehr leisten zu können.

Auf ein gutes, neues Jahr, hätte ich beinahe gesagt, wirklich, ich fände den Jahreswechsel am 1. September passender als zu Silvester. Man könnte am Strand feiern und wäre nicht so erledigt von Weihnachten.

Einfach, unkompliziert, heiter und bald

Das Magazin - Logo

„Mit dem Sommerheft habt Ihr mich mitten ins Herz getroffen, diese Traumwelt…! Bei Kathrin Schrader fühlte ich mich ertappt und seelenverwandt – liegt das am Namen?…“ Kathrin Rochow, Darmstadt 

Jetzt gibt es ein neues Magazin, mit großartigen Texten von Judka Strittmatter, Maxi Leinkauf, Regina Scheer und vielen anderen…

© Illustration Liane Heinze

Einfach, unkompliziert, heiter und bald

Single-Frau trifft Single-Mann; beide haben ihre Obsession

Die Türen der U-Bahn schnappen zu. Das Spiel beginnt. Mit wenigen Blicken erfasse ich die Kandidaten im Wagon, vier, fünf übermüdete Männer, die sich gleichgültig dem Rhythmus der Metro überlassen. Keine schönen Männer. Männer, denen das Leben übel mitspielt, die erst in den Morgenstunden vor dem Fernseher oder neben einer Frau in den erlösenden Schlaf fallen, Männer, die ins Waschbecken pinkeln und sich selten die Zähne putzen.

Nicht immer entscheide ich mich für den unattraktivsten, möglicherweise aber für den, der mich am wenigsten reizt. Es verblüfft mich, Männer zu sehen, von denen nicht die geringste Provokation, kein bisschen Sex, ausgeht.

Jeden Morgen geschieht das Gleiche. Wir beide sind die einzigen Überlebenden des Endes der Welt. Nachdem ich tagelang durch eine verlassene Landschaft geirrt bin, treffe ich ihn. Heute ist es der Mann mit dem geordnet-ernsten Blick und den dünnen Lippen aus der Sitzreihe gegenüber. Seine Brillengläser sind schmal wie die Standart-Versionen von Excel-Zellen. Er trägt spitz nach oben gegeelte Ponyfransen und ein graues Sweatshirt mit ausgebeulten Taschen.

Eines Abends entdecke ich seine gebeugte Silhouette am Horizont. Die Ponyfransen ragen in den Sonnenuntergang. Wir gehen aufeinander zu, betrachten uns misstrauisch. Er macht ein Feuer. Wir braten Fische und vermissen das Salz. Wir tauschen uns knapp darüber aus, was als nächstes zu tun ist. Dann finden wir kein Thema mehr. Logisch. Schon vor dem Ende der Welt hätten wir uns miteinander gelangweilt. Jetzt ist noch viel weniger los.

Ich beobachte den Kandidaten in der Sitzreihe gegenüber aus den Augenwinkeln. Er bemerkt es nicht, döst weiter vor sich hin. Nach wenigen Tagen kommt der Moment, auf den das quälende Spiel hinaus läuft. Wir müssen uns lieben, so verlangt es das Protokoll meiner selbstzerstörerischen Fantasie, denn wir sind ja der letzte Mann und die letzte Frau.

Warum teste ich täglich aufs Neue, ob ich jeden, wirklich jeden, lieben könnte? Manchmal, wenn ich auf dem Bahnsteig stehe, wenn der Tunnel zu donnern beginnt und ein heftiger Wind dem Zug voraus eilt, hoffe ich, dass diesmal kein Kandidat in der Metro sein möge. Vergeblich. Ich fahre auf der falschen Linie.

Kaum draußen an der frischen Morgenluft, rollen attraktive Männer auf Treppen an mir vorüber. Sie stehen im Coffeeshop zum Greifen nah in der Schlange vor und hinter mir. Sie schlendern vorbei und flirten. Sobald Sonne und Wind mich streicheln, bin ich überzeugt, dass es einfach sein wird, unkompliziert, heiter und schon bald.

Meine Freundin Lilo sucht im Internet. Sie klickt sich durch lange Listen, in denen vom Betriebssystem über den Lieblings-Fernsehkoch, die stärksten und schwächsten Chakren bis zur bevorzugten Stellung alle Dinge des täglichen Lebens abgespeichert werden. Dann rechnet der Computer den passenden Mann für sie aus. Bisher hat er noch keinen Kandidaten für Lilo gefunden. Schon wieder dieses Wort: Kandidat. Ist es passend für einen Menschen, den man einmal lieben könnte? Oder bezeichnet es nicht eher Personen, die man im Arbeitsspeicher festhält und weiter sortiert und vergleicht?

Am nächsten Morgen klammert ein schlauchdünner Typ mit Augenschatten an der Haltestange neben der Tür. Ich berge ihn aus einem Trümmerhaufen. Meine Hände sind blutig, meine Schuhe aufgerieben an den Kanten der zerfetzten Steine. Er stützt sich auf mich. So wanken wir ohne ein Wort aus der Stadt. Draußen sinken wir auf eine Wiese. Er liegt auf mir. Er nimmt mir die Luft. Mein Herz rast. Ich gerate in Panik.

Die Psychologin lächelt übergewichtig von ihrem Thron herab, entspannt wie ein Buddha. „Sie sollten prüfen, ob Sie sich durch die Erwartungshaltung der Gesellschaft nicht zu stark belastet fühlen. Ihre Eltern, Kollegen und Freunde gehen davon aus, dass ihr Freund kultiviert und gebildet sein sollte. Aber vielleicht sind Ihnen andere Dinge wichtiger.“

„Welche Dinge?“

„Sexuelle Praktiken, Machtspiele und so weiter.“

„Das könnte ich alles anklicken: Hochschulabschluss, Interesse an Oper und Bondage, gern auch anal…“

Der Buddha gerät für einen Moment ins Wanken. „Und warum klicken Sie nicht?“

„Es ist mir unheimlich, wie ein Stück Pizza aus der Mikrowelle, das innen heiß, aber außen noch kalt ist. Die intimsten Dinge eines Menschen möchte ich nicht wissen, bevor ich ihn getroffen habe. Ich möchte mich von außen nach innen vorarbeiten.“

Als ich die Praxis verlasse, habe ich nicht einmal ein Pillenrezept gegen Zwangsvorstellungen. Solange ich ruhig schlafen kann, sieht die Psychologin keinen Handlungsbedarf.

In der Suppenbar beobachte ich die Leute um mich herum. Ihr Leben scheint völlig normal zu verlaufen. Oder sind es nur die Küchen-Geräusche und das kollektive Kratzen der Löffel auf dem Grund der Schalen, die diesen Eindruck erwecken?

Der Mann neben mir klemmt seit zehn Minuten hinter seiner Zeitung. Ich wollte da auch noch einen Blick rein werfen, bevor meine Pause zu Ende geht. Ich lasse mir mit der Süßkartoffel-Erdnuss-Suppe extra viel Zeit. Der ist bis zu den Knien in die Zeitung gehüllt. Nur einmal, als er umblättert, taucht strubbeliges, blondes Haar dahinter auf. Ich gehe zur Toilette. Er liest immer noch. Ich schreibe eine Karte an Lilo. Die Zeitung kann ich vergessen. Ich räume das Geschirr weg.

In dem Moment, als ich die Bar verlasse und einen Gruß über die Schulter werfe, geschieht es. Die Zeitung sinkt. Sein Gesicht schwebt wie los gelöst darüber. Er strahlt. Dieses Lächeln ist so weit. Es vereint jedes Dorf zwischen Cote d’Azur und Antarktis. Es führt die komplizierte klick-me-or-not-Welt der Singles ad absurdum. Ich sehe eine dunkel gerahmte Brille und eine weiße Zahnreihe. Ich hafte an diesem Gesicht, dessen Auftritt so kurios ist. Wie ein Feuerwerk, das zu früh zündet, schießt mein Lächeln in unbekannte Richtungen. Ich werde rot. Endlich fällt die Tür ins Schloss.

Das Rad meiner Fantasie schnurrt. Bis er die Zeitung zusammen gefaltet und aus der Hand gelegt hat, bis er die Karte an Lilo bemerkt, die ich auf dem Tisch liegen gelassen habe, in den Mantel fährt und mir nachläuft, habe ich mit ihm gekocht und gegessen, eine Nacht in seinen Armen verbracht und ihn im Literatur-Salon als meinen Begleiter vorgestellt.

Seine Mantelschöße wehen wie Tragflächen. Er schwenkt die Karte. „Oh, danke.“ Wir stehen uns gegenüber und lächeln, und können beide nicht damit aufhören. „Bist du morgen wieder hier?“ Er nickt.

„Dann, bis morgen.“

„Bis morgen.“

Ich gehe weiter, stolpere, schaue mich um, ob er es gesehen hat, aber er ist schon fort.

Nur er weiß, wie ich aussehe, wenn mir das Lächeln entgleitet. Ich selbst werde es nie sehen können. Eigentlich ungerecht. Auf den nächsten hundert Metern wälzen wir uns im warmen Sand am Meer. Am Abend im Hotelzimmer erzählen wir uns wieder einmal, wie wir uns kennen gelernt haben. Er sagt: „Ich vergesse nie dein Grinsen, als du die Bar betreten hast.“ Ich sage: „Das war, als ich gegangen bin.“ Er sagt: „Nein, du kamst herein.“ Es ist unser erster Streit.

Plötzlich, in der Drehtür zum Bürogebäude, attraktive Männer in den Glaskammern vor und hinter mir, aber sie sind mir jetzt gleichgültig, erinnere ich mich an den Eindruck, ich spiegele mich in ihm, vorhin auf der Straße. Als hätte ich etwas erkannt, das ich nicht mit Worten benennen kann, über mich. Im Licht durchfluteten Foyer bleibe ich stehen. Satte Leute schleppen sich an mir vorbei zu den Aufzügen und ich stehe in einem Sonnenfleck wie erleuchtet. Es geht nämlich gar nicht um Betriebssysteme, Köche und Chakren. Es geht darum, herauszufinden, wer man ist. Was nur zu zweit möglich ist. Indem man sich in dem anderen spiegelt. Diese Erkenntnis hebt mich an. He Leute, habt ihr das gewusst? möchte ich den verdauenden Menschen im Aufzug zurufen.

Am nächsten Tag löffeln wir unsere Brokkoli-Gorgonzola, als seien wir dazu bestimmt, miteinander Suppe zu essen. Täglich. Wir reden wenig. Ich zwinge mich, meine Erwartungen zu dämpfen. Kann ein Single so unbefangen lächeln? Ist er nicht auf der sicheren Seite? Ich wage nicht zu fragen.

„Noch einen Kaffee?“ Meine Pause ist um. Trotzdem ja. Ich erzähle ihm von meinen U-Bahn-Fantasien. Er klebt an meinen Lippen wie ein kleiner Junge an einem Spielzeugautomaten. Schließlich sagt er: „Ich erlebe etwas ähnliches. In unser Museum kommen manchmal Schulklassen. Die Mädchen wissen nicht, dass ich von der Weltraumbehörde beauftragt bin, mit einer Frau meiner Wahl den Planeten Umathar im Sonnensystem Alpha Maioris zu bevölkern. Ich kann mich zwischen den Mädchen nicht entscheiden. Sie gefallen mir alle nicht. Die Weltraumbehörde droht, den Auftrag an einen anderen Wissenschaftler zu vergeben.“

„Das ist doch…das hast du dir eben ausgedacht. Du machst dich über mich lustig.“

Er legt die rechte Hand aufs Herz. „Aber nein. Ich schwöre. Das… das…kann man sich doch nicht ausdenken.“

Schon wieder breitet sich mein Grinsen wie Wildwuchs aus. Wenn das wahr ist? Ich danke Umathar, der seine Bahnen um Alpha Maioris zieht und für immer und alle Ewigkeiten unbewohnt bleiben wird, weil ich nun weiß, dass er ein emotional ausgehungerter Single ist wie ich.

„Diese Fantasie habe ich oft“, sagt er euphorisch. „Manchmal auch draußen auf der Straße, wenn eine Gruppe durchschnittlicher Frauen auf mich zukommt.“

„Kandidatinnen“, sage ich. Ich nippe an meinem Kaffee und stelle mir vor, wie schrecklich es wäre, eine seiner Kandidatinnen zu sein.

„Was hältst du davon, wenn wir diese Aufbruchs – und Endzeitpläne etwas zurückstellen?“, fragt er.

„An welchen Zeitraum denkst du?“

„Sagen wir…“ Er greift nach der Karte. „…Bis zur Möhren-Mango. Ist morgen im Angebot.“ Er klappt die Karte zusammen.

„Wenn es mir morgen früh in der U-Bahn gelingt, keinen Kandidaten zu wählen, dann…“

„…dann versuchen wir es ab morgen vorläufig für immer.“ Er blickt ernst. Seine Augen sind blaugrau. Um seine Mundwinkel zuckt ein Schmunzeln. Er macht sich über mich lustig. Der Kaffee knirscht in meiner Kehle. Ich werde rot.

„…dann bleibt es mir zukünftig erspart, eine Viertelstunde eher aufzustehen und statt der U-Bahn das Fahrrad zu nehmen, wollte ich sagen.“

„Ich empfehle mich als wirksame Therapie gegen Radtouren.“ Er deutet einen Diener an. Das strubbelige Geflecht seiner Haare ist dicht. Ich habe Lust, hinein zu greifen.

„Danke.“

„Keine Ursache.“

„Und du?“, frage ich.

„Ich schaffe das schon“, sagt er. „Bei mir ist alles noch frisch. Kein Zwang. Ich bin erst vor zwei Monaten von der Weltraumbehörde ausgewählt worden.“

„Das tut mir leid.“

„Es geht schon. Tut nicht mehr weh.“ Er trommelt mit seinen Fingern auf den Tisch.

Ich habe meine Mittagspause gigantisch überzogen. „Ich muss los.“

„Ich habe noch Zeit bis zur nächsten Führung“, sagt er.

„Klärst du das mit der Weltraumbehörde heute schon?“, frage ich.

„Sofort“, sagt er.

„Na dann…“

„Hast du auch nichts vergessen?“ Er schaut unter den Tisch.

„Und wenn schon“, sage ich.

Er hält mir die Tür auf. Mein Lächeln spiegelt sich in seinen Augen, noch unsicher, ob es so einfach, unkompliziert und heiter sein kann. Und schon jetzt.

Kathrins Notiz-Blog 2. August 09

© Illustration Liane Heinze

Wir waren uns einig, die traditionelle Fischsuppe dort zu essen, wo die Einheimischen sie essen, jenseits der Touristenquartiere, in einer Straße, die möglichst in keinem Reiseführer vorkommt. Ich hatte einen Stadtplan gekauft. Ich schaue mir gern Stadtpläne und Landkarten an. Ich kann nicht erklären warum. Ich liebe die Muster des Landes. Ich behalte einfach gern den Überblick. Leon konnte das Rascheln des Planes nicht ertragen. Er sagte, es mache ihn nervös.

„Wie werden wir uns zurechtfinden?“, fragte ich.

„Wir finden uns zurecht“, sagte er.

Wir gingen hinunter auf die Straße. Leon trat auf der Stelle wie ein ungeduldiges Pferd. Er strich seine Locken in die Stirn und nahm Witterung auf.

Er folgte den engen Gassen der Altstadt. Wir stiegen eine steile Straße hinauf, durchquerten einen verwilderten Park. Jenseits des Parks wurden die Straßen breiter und staubiger. Bald erreichten wir ein ärmliches Viertel, in dem Männer in Straßencafés saßen. Sie schauten von ihren Brettspielen auf und blickten uns nach. Ich war hungrig geworden auf dieser Wanderung und wäre am liebsten in das erstbeste Restaurant eingekehrt. Hier oben erhoffte ich eh nichts Besseres. Leon betrat die Terrasse, las die Karte, trat nervös auf der Stelle, pappte unschlüssig die Haare in die Stirn und ging dann weiter. Diese Zeremonie wiederholte sich einige Male. Schließlich entschied er sich für ein Restaurant, nicht größer als ein mittelgroßes Wohnzimmer, mit einer antiken Standuhr und einem geblümten Sofa, über dem ein schweres, altes Radio auf einem Wandbord stand. Wir nahmen an einem kleinen, weiß gedeckten Gartentisch auf dem Trottoir Platz.

„Wieso hast du Angst, dass das Finanzamt deine Trommeln pfändet?“, fragte ich. „Was ist passiert?“

„Ich hatte Pech“, sagte er. „Ein Freund, mit dem ich ein Geschäft hatte, hat mich betrogen.“

Ein kleiner Wind kam auf. Zwei Frauen betraten das Restaurant und begannen ein Gespräch mit dem Kellner. Es sah so aus, als ob sie sich schon lange kennen. Die eine der Frauen, die Ältere – vielleicht war sie so alt wie ich – stützte ihren Ellbogen auf den Tresen und schaute sich im Raum nach Bekannten um.

„Wann ist das passiert?“, fragte ich.

„Vor zwei Jahren.“ Leon sah mich aus dem Augenwinkel vorwurfsvoll an. „Du hast gesagt, dass meine Schulden dich ankotzen. Das war schlimm für mich.“

„Es tut mir leid“, sagte ich. „Wir hatten uns erst dreimal gesehen. Ich habe an diesem Abend Schluss gemacht.“

„Damals, als es passiert ist, wollte ich sterben. Ich stand schon auf der Brücke“, erzählte Leon.“Und als du gegangen bist an diesem Abend, glaubte ich wieder, sterben zu müssen.“

„Was hat dich damals gerettet?“, fragte ich.

Leon blickte auf die Tischplatte. Er lächelte. Ich wurde schon eifersüchtig, als ich sein Lächeln sah.

„Ein Engel hat mich gerettet“, sagte er. „Manchmal trifft man Engel.“

Die Suppe wurde serviert. Ich schmeckte gar nichts. Ich dachte an Leons Engel. Ich fragte mich, ob ich lieber sein einziger Engel als seine erste Frau sein möchte.

„Sie ist gut, nicht?“, sagte Leon.

„Ja“, sagte ich.

„Dieser Engel“, begann ich.

Leon nahm meine Hand und lächelte wieder, so offen, wie ich ihn noch nie hatte lächeln sehen. „Was möchtest du wissen?“

„Wieso bist du sicher, dass es ein Engel war?“

„Sie hat mir alles gegeben, was ich in diesem Moment brauchte.“

Ich schaute hinüber zu den Frauen, die noch immer am Tresen mit dem Kellner plauderten. Die ältere blickte zu uns. Sie seufzte und suchte nach einer Zigarette. Sie trug ein schwarzes Sommerkleid aus Baumwolle, mit Rüschen am Dekolletee. Sie wartete auf ihren Geliebten wie die Frauen im Süden das tun.

„Ich habe nachgedacht“, sagte ich. „Über deine Schulden. Es wäre schön, wenn wir das zusammen schaffen.“

Kathrins Notiz-Blog 1. August 09


© Illustration Liane Heinze

Das Hotel war klein und düster. Wir hörten im Zimmer über uns die Betten quitschen. Kaum war man im Süden, ging das los. Wir lagen nackt auf dem Bett und hörten dem Paar über uns zu. Leon drehte sich zu mir. Er stützte den Kopf in die Hand und sah mich an. Er sah mich lange an. Ich bat ihn, seine Hand auf meinen Bauch zu legen. Er tat es, aber er ließ seine Hand nicht dort. Er griff nach meinen Brüsten. Leon ist nicht der Mann, der einer Frau die Hand auf den Bauch legen kann. Er würde niemals Ruhe und Sicherheit geben können. Aber dieser Moment war wie ein Summen. Wir trieben aufeinander zu und ließen uns ineinander aufgehen, so vertraut, als wären wir seit Jahrhunderten ein Paar.

Als ich mich heute Morgen auf den Weg zum Strand machte, wusste ich bereits, worüber ich nachdenken würde, falls ich nachdenken würde. Aber ich wollte nicht mehr soviel nachdenken, über Dinge, für die es keine Argumente gab, außer dem einen, das sich sowieso jedem Nachdenken versperrte. Leon hatte Recht. Das brachte gar nichts. Also versuchte ich nicht darüber nachzudenken, und statt dessen das Meer durch mich hindurch strömen zu lassen mit seinen Muscheln und Quallen, dem klebrigen Tang, den Treibhölzern und dem Sand. Das Meer zerrte meine Zehen in den Sand und trieb mir Muschelkalk und zerfetzte Quallen vor die Füße.

Draußen stapfte ein Muschelfänger eine Sandbank entlang. Er winkte mir. Ich blieb stehen. Er zog die Muscheln zum Sterben an Land und lud mich für den Abend in seinen Wohnwagen am Strand ein. Er gab mir seine Telefonnummer. Ich sah ihm nach, wie er seine Ernte über den leeren Strand zu einem Wohn – und Lieferwagen schleppte, ein kräftiger Mann –unter dem Taucheranzug wölbte sich sein Bauch- mit selbstsicheren Feueraugen und einer Haut, die im Laufe der Jahre gegen Sonnenbrände resistent geworden war. Ich dachte das Muschelessen weiter, in diesem Wohnwagen am leeren Strand.

In diesem Moment wusste ich die Antwort, obwohl ich nicht ein einziges Mal darüber nachgedacht hatte. Es funktionierte also. Ich wollte Leon anrufen und ihm mein JA geben, ja, ja, ja, sofort. Aber ich hatte mein Telefon im Hotel vergessen.