Kathrins Notiz-Blog 23. Mai 09

Auf dem Weg zu dem Interview mit einer Tänzerin erreichte mich ein Anruf der anderen Frau. Sie wollte diesmal einen Preis für meinen Freund aushandeln. Diesmal schenkte ich ihn ihr.

Die Tänzerin trug ein schwarzes Kleid. Das passte wunderbar zu ihren roten Haaren. Dann tanzte sie in der Galerie, in dem weichen Licht. Ich schaute zu, wie sie tanzte und wie der Fotograf Aufnahmen von ihr machte. Wie sie beide um Poesie rangen. Sie hoben mich auf und trugen mich an einen besseren Ort. Ich wollte nie mehr fortgehen.

Dieses Gedicht einer unbekannten Hexe fand ich in einem alten Fotoalbum.

Hexenhexen 2
wie LEICHT ich der welt
fremd bin
wie LÄCHERLICH die strafen, mit denen ihr mal ja mal nein verlangt.
wie ERBÄRMLICH euer HALBER mord.
ICH gebe euch noch hunderttausend jahre mich zu besiegen.

Das zerrissene Netz

Berliner Zeitung

Das ist die Geschichte zu einer Annonce, die ich in der Zweiten Hand fand: Imbissverkäuferin, Frau 47 z. Zt. im offenen Vollzug, sucht Job als Imbissverkäuferin Erfahrung Schicht kein Problem nur Festeinstellung.

Nach der Anhörung ruft sie ihre Tochter an. Sie sagt, dass es ein guter Richter war, dass nur drei Prozent aller Strafgefangenen in Berlin die Hälfte der Haft erlassen bekommen. Sie sagt: „Ich hab dich lieb“, und küsst ins Telefon. Ihre Tochter ist sechsundzwanzig Jahre alt. Ihre fünf Kinder sind alle erwachsen. Sie werden zusammen feiern. Sie werden reden, essen und Spiele machen, wie zu Weihnachten und den Geburtstagen.

Sie haben viel durchgemacht, die Kinder und sie. Das schweißt zusammen. Jetzt hat sie auch einen Lebensgefährten, der sie respektiert. Die Familie ist ihr Netz. Sabine Lemke steht im Garten der Haftanstalt Ollenhauer Straße. Sie blickt hinauf in den klaren Himmel. Sie ist frei, aber sie fühlt sich erschöpft.

Es gab Situationen, da trug das Familien-Netz nicht, Momente, in denen sie niemanden anrufen konnte. Für diesen Fall haben gut ausgerüstete Menschen noch ein Reserve-Netz im Kopf. Sie nicht. Sie sackt dann in sich zusammen, stürzt ab, kann nicht weiter blicken als bis zur Glut ihrer Zigarette, die großen, blauen Augen tief unter den Brauen versunken. Ihre mütterliche Stimme, das „Ich hab dich lieb“, und ihr Humor – weg. Man erkennt sie kaum wieder.

So war es während der Haftzeit, als sie ihren Job im Call-Center verloren hatte, nicht mehr raus durfte und den ganzen Tag in ihrer Zelle hockte und die Angst wuchs, das mit der vorzeitigen Entlassung könne nichts werden. Sie mochte das Call-Center nicht besonders. Den ganzen Tag Lotto-Scheine verkaufen, an die dreihundert Anrufe pro Tag. Egal. Hauptsache raus. Abends mit ihrem Freund kochen, auf dem Sofa sitzen und fernsehen. Erst um Mitternacht musste sie wieder rein. Manchmal hat die Pförtnerin sie aufgefordert, ins Röhrchen zu pusten, weil sie nach Knoblauch roch und weil Häftlinge, die nach Knoblauch riechen, Alkohol vertuschen wollen. Menschen mit Reserve-Netz halten so eine Verdächtigung aus. Aber sie stürzte ins Bodenlose. So tief beleidigte sie der Verdacht, getrunken zu haben, ausgerechnet sie, die sich mustergültig an alle Regeln hielt. Die sowieso nicht hierher gehörte.

Ein eigenes Restaurant hat sie führen wollen, nachdem sie viele Jahre in der Gastronomie gearbeitet hatte. Das war 2005. Sie fand ein günstiges Angebot zur Miete. Nachdem der Mietvertrag unterschrieben und sie das Restaurant eröffnet hatte, stellte eine Hygiene-Kommission fest, dass in der Küche eine Zugbelüftungsanlage fehlte. Eine neue hätte vierzehntausend Euro gekostet, Geld, das sie nicht hatte. Ohne war sie gezwungen, die Küche zu schließen. Sie ließ sich vom Vermieter überreden, nicht zu kündigen. Ein laufendes Restaurant ließe sich besser vermieten als ein geschlossenes, argumentierte er. Aber ohne Küche lief nichts. Die Mietschulden wuchsen. Eigentlich wäre der Vermieter verpflichtet gewesen, die Anlage zu bezahlen, denn sie hatte ja ein Restaurant mit funktionstüchtiger Küche gemietet. Als ihre Schulden  verhandelt wurden, war es zu spät, diesen Anspruch geltend zu machen. Wegen Mietschulden kommt niemand ins Gefängnis. Aber Sabine Lemke war auf Bewährung vorbestraft.

Es ist nach der einjährigen Haft der erste Tag draußen und er fühlt sich für Sabine Lemke noch seltsam an, als sie die leere Wohnung ihres Freundes betritt. „Man muss sich erst wieder daran gewöhnen“, sagt sie. Sie ist nervös, von einer Unrast, die nicht in diesen schweren Körper passt. Zwanzig Kilo hat sie in einem Jahr zugenommen. Sie will sich den Magen verkleinern lassen, die Knast-Pfunde verlieren. Es ist das erste, das sie sich für draußen vorgenommen hat.

Mit der Vorstrafe, das ist eine längere Geschichte. Angefangen hatte die Sache, sagt Sabine Lemke, als ihre kleine Tochter plötzlich nicht mehr essen wollte und ihr Sohn fragte, warum er denn immer zu Papa ins Bett müsse. Als ein Kinderpsychologe ihre Vermutung bestätigte, dass ihr zweiter Mann die Kinder aus ihrer ersten Ehe missbrauchte, packte Sabine Lemke die wichtigsten Sachen in eine Tasche, nahm ihre Kinder und floh. „Die erste Wohnung war ein Loch, aber meine Kinder waren so glücklich. Die sind richtig aufgeblüht“, erzählt sie.

Ihr Mann fand heraus, wo sie sich mit den Kindern aufhielt, stellte ihnen nach. Sie flüchtete weiter. In die nächste Wohnung. Stammgäste der Kneipe, in der sie arbeitete, transportierten die notwendigsten Dinge. Die Möbel ließ sie zurück, bestellte in der nächsten Wohnung neue. So ging das immer weiter. Mehrmals zog sie um, ließ die Möbel zurück, bestellte neue. Bezahlt hat sie nie. Drei Versandhäuser verklagten sie auf Betrug.

Damals ermunterte sie eine Bewährungshelferin, ihre Erlebnisse aufzuschreiben, auch die Dinge aus ihrer Kindheit.
Die  Sache mit dem Vater zum Beispiel. Sabine Lemke nennt ihn nur ihren „Erzeuger“. Er hatte versucht, Sabines Mutter mit einem Beil zu töten. Da war Sabine acht Jahre alt.

Sie wuchs dann mit einem Stiefvater auf. Am Abend des 7. Januar 1976, es war 21 Uhr, schickte er die Fünfzehnjährige ins Bett und sagte, er werde noch mit der Mutter ausgehen. „Wenn ich könnte, würde ich die Zeit bis zu diesem Abend zurückdrehen“, sagt Sabine Lemke. „Ich wäre nicht ins Bett gegangen. Ich wäre ihnen nachgeschlichen. Ich hätte meine Mutter gerettet.“

Die Mutter wurde auf den S-Bahn-Gleisen zwischen Oberspree und Schöneweide von einem Zug erfasst und getötet. Wie ein Kaninchen habe sie auf den Gleisen gehockt, berichtete der Fahrer des Zuges nach dem Vorfall. Sabine Lemke ist überzeugt davon, dass ihr Stiefvater die Mutter auf die S-Bahn-Gleise getrieben hat. Aber er gilt als Unfall.

Sabine lief von zu Hause fort. Sie versteckte sich tage- und wochenlang bei Freunden. Sie ging nicht mehr zur Schule. Als sie das erste Mal schwanger wurde, da war sie 16, nahm die Großmutter sie auf.

Als dann der Vater aus dem Gefängnis kam, war sie achtzehn. Sie empfing ihn in der Wohnung, die sie mit für ihn eingerichtet hatte. Er versuchte, sie zu vergewaltigen.

In dem Lebensbericht, den ihr die Bewährungshelferin empfohlen hatte, schrieb sie die Namen einiger Personen nicht aus, setzte sie lediglich in Initialen. Namen aus ihrer Kindheit, die sie nie mehr nennen wollte. Die Namen ihrer Geschwister hat sie in voller Länge geschrieben. Sie erzählt von Uwe, der sich mit achtzehn Jahren umgebracht hat und in seinem Abschiedsbrief darum bat, neben der Mutter beerdigt zu werden. Sie erzählt von Andrea, Achim und Frank. Durch Adoption und Kinderheim waren sie voneinander getrennt worden, als die Mutter lange Zeit im Krankenhaus verbringen musste. Sabine Lemke hat nach allen gesucht und sie wieder gefunden. Im letzten Sommer war Frank bei ihr aufgetaucht. Nach 39 Jahren. Wie ein Zeichen, dass nun alles gut wird, jetzt, da sie wieder eine vollständige Familie sind.

Sabine Lemke tritt auf den Balkon und nimmt eine selbstgerollte Zigarette aus dem Kästchen, in der sie den Vorrat aufbewahrt. „Diese Frau hat gemacht, dass man im Kopf wieder klar kam“, sagt sie über die Bewährungshelferin. Ihren Namen weiß sie noch: Frau Dorschjäger. „Wäre sie damals bei der Verhandlung über die Mitschulden da gewesen, ich wäre nicht ins Gefängnis gekommen.“

Aber sie sei nicht unglücklich. Sie vergleiche sich nicht mit anderen, die es leichter hatten. Sicher, wenn die Sache mit ihrer Mutter nicht passiert wäre, hätte sie die Schule beendet, eine Ausbildung gemacht wie die anderen. Sie sei ja eine sehr gute Schülerin gewesen. Ihr Klassenlehrer habe sie adoptieren wollen, sagt sie, aber sie habe die Nase voll gehabt von Stiefvätern. Ihre eigene Familie habe sie gründen wollen.

Sabine Lemke drückt die Zigarette aus, bleibt noch draußen auf dem Balkon, im Lärm der Stadt. Sie ist jetzt siebenundvierzig Jahre alt. Sie möchte einen Kiosk führen, mit Stammkunden, die ihre Geschichten erzählen, während sie ihren Kaffee trinken. Ein Kioskbesitzer aus Neukölln hat sich auf ihre Annonce gemeldet. Sie muss ihn anrufen.

Kathrins Notiz-Blog 20. April 09

In Lehmanns Medizinischer Buchhandlung an der Charité, eine Buchhandlung, deren Regale überwiegend mit Büchern über Knochen, Muskeln und innere Organe sowie den Beschreibungen des Verfalls derselben gefüllt sind, eine Buchhandlung mit sachlich-kühler Ausstrahlung -die meisten dieser Bücher sind in frischen Farben und dem emotionslosen Ausdruck westlicher Medizin gestaltet- empfahl mir die Buchhändlerin ein schmales Taschenbuch aus der kleinen Ecke der Belletristik. „Paradies verloren“ von Cees Nooteboom ist endlich wieder ein Buch!!! Ich hatte vergessen, was Literatur vermag. Es ist lange her, dass ich mich in einem Buch verloren habe, zuletzt passierte mir das vor einigen Jahren mit „Der Eisvogel“ von Uwe Tellkamp, das ich wegen der Schönheit seiner Sprache und der Spannung nicht mehr aus der Hand legen konnte. „Paradies verloren“ von Cees Nooteboom ist die Essenz der Poesie, das Zwischen, Über, Unter und Hinter der Geschichte, das ganze Bild, die Wahrheit, die Bilder allein nicht vermitteln können, weswegen man sich mit Bildern oft so allein fühlt. Das also unterscheidet Literatur von dem, was nur Literatur sein will. Man muss es suchen. Die Poesie versteckt sich in der Menge der Bücher. Sie ist verborgen wie Gold in einem tropischen Fluss.

Die kleine Rote

Nicola Nord ist 33 Jahre alt. Sie wuchs in Frankfurt am Main auf.

Sie liebte die DDR. Heute thematisiert die Performerin mit ihrer Theatergruppe „andcompany & co.“ den Untergang des Ostblocks und den Kommunismus

Die Reisen nach Spanien mit den Eltern gingen in Ordnung, aber das Beste waren die Sommerferien in den Pionierlagern der DDR. Nicola hatte von ihren Eltern gelernt, dass die DDR das bessere, das gerechtere Deutschland sei. Ihre Eltern waren Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei. Die Familie lebte in Frankfurt am Main.

Nicola liebte die DDR. Sie fand Thälmann-Orden schöner als Micky-Maus-Button. Die sozialistische Vita-Cola schmeckte ihr besser als Coke. Klar hat es einige Kinder im Ferienlager gegeben, die sie wegen ihres rosa Minnie-Maus-Anzuges eine Angeberin schimpften, erzählt Nicola, doch sie habe nie auch nur den geringsten kulturellen Unterschied zwischen sich und den DDR-Kindern verspürt. Mag daran liegen, dass die West-Kommunisten ihre Kinder nach den DDR-Erziehungsleitbildern erzogen, also nicht so liberal wie 68er – Eltern, erstaunlich dennoch, denn Nicola wuchs in einer freieren Gesellschaft auf. Zu Hause gingen Kommunisten aus allen Ländern ein und aus, eine Zeitlang lebten chilenische Familien in dem Haus, dass sie sich, ähnlich wie eine Kommune, mit den Familien anderer Genossen teilten. Aber nur in den Ferienlagern der DDR war sie eben ohne Ausnahme unter Gleichgesinnten. Dort waren keine Kinder, die von den Eltern angehalten wurden, nicht mit den kleinen Roten aus der Nachbarschaft zu spielen.

Nicola Nord ist 33 Jahre alt, auffallend hübsch und immer mittendrin. Inzwischen kommen die DDR-Anekdoten aus ihrer Kindheit gut an. Sie sorgen auf jeder Party für fröhliche Gesichter. Einige beneiden Nicola sogar um den Exotenbonus, besonders bei der Geschichte, wie sie Erich Honecker einmal ein goldenes Feuerzeug überreichen durfte. In jenem Sommer war sie zur Bundespionierin ernannt worden. Von allen Kindern war es Nicola, die das meiste Geld für Schulen in Nicaragua gespendet hatte, denn ihre bunt bemalten Vita-Cola-Kronkorken waren auf dem Soli-Basar der Verkaufsschlager. Ein bisschen peinlich ist ihr diese Geschichte schon. Sie will ja nicht als Streberin dastehen. Also behauptet sie, dass alle nur bei ihr gekauft hätten, weil sie so ein süßes Mädchen war. Vielleicht hatte sie auf dem Basar einfach die kräftigste Stimme.

So steht die Performerin und Theatermacherin Nicola Nord heute auf der Bühne: klein, blond und laut. In ihrem Stück „little red(play): her story“ nimmt sie das Publikum mit ins Ferienlager der DDR. Sie erklärt, wie man ein Halstuch richtig bindet, nicht mit den Enden schlaff nach unten wie der Bart von Väterchen Stalin, sondern straff zur Seite wie Lenins Bart. Meist aber rennt „die kleine Rote“ auf der Bühne gegen die Zeit. Sie muss zurück ins Jahr 2000, denn im Jahr 2000, so hat sie es im Pionierlager gelernt, wird der Kommunismus weltweit gesiegt haben. Im Jahr 2000 ist sie mit den anderen Pionieren an der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz verabredet.

Nicola Nord sieht oft so aus, als wäre sie eben gerannt, auch an diesem Dienstagabend, als sie in Begleitung ihres Lebensgefährten Alexander Karschnia mit erhitzten Wangen das Restaurant „Gorkipark“ in Berlin betritt. Auf dem Weg diskutierten sie eine Idee für ihr neuestes Stück „eldederado – der letzte Sommer der Indianer“. Es wird um Western im Osten gehen, Gojko Mitic der jugoslawische „DEFA-Indianer vom Dienst“ wird darin eine Rolle spielen und Dean Reed, der aus den USA in die DDR desertierte „Cowboy“, sowie Sarah Günther, die Enkelin von Indianisten aus Bautzen. Nicola pustet die Haare aus der Stirn, während sie den Mantel abstreift. Sofort erzählt sie begeistert von Sarah Günther, der jungen Schauspielerin aus Bautzen, deren Mutter als Dramaturgin am sorbischen Theater arbeitete. Zum vierten Mal thematisieren Nicola Nord und Alexander Karschnia mit ihrer Theatergruppe „andcompany & co.“ den Untergang der DDR und des Ostblocks. Die DDR ist ihr quasi Beruf geworden. Doch was geschah in Nicolas Leben zwischen der real existierenden und der Bühnen-DDR?

Als die Mauer fiel, war sie vierzehn Jahre alt. Die Eltern und Freunde standen unter Schock. Es breitete sich das aus, was Nicola heute „das große Schweigen“ nennt, die Unfähigkeit der westdeutschen Kommunisten, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Auch bei Nicola saß der Schreck tief. „Noch Jahre nach dem Mauerfall fühlte ich mich durch jeden Satz, der gegen die DDR gesagt wurde, persönlich beleidigt.“ Heute durchschaut sie die Propaganda, der sie als Kind in den sozialistischen Musterfamilien und – Betrieben ausgesetzt war.

Nicola hatte Politikerin werden wollen. Nun studierte sie Film-, Theater- und Medienwissenschaften an der Goethe-Uni in ihrer Heimatstadt Frankfurt/Main. Ein Stipendium der Amsterdam School for Performing Arts führte sie und Alexander Karschnia in die niederländische Hauptstadt. Dort gründeten sie mit dem Musiker Sascha Sulimma „andcompany & co.“, eine Theatergruppe, an die sich andere Künstler und Künstlergruppen projektgebunden andocken können. In Amsterdam und New York, wo ihre Arbeit sie häufig hinführte,  hörte man Nicolas Kindheitserinnerungen unvoreingenommen und mit großer Ernsthaftigkeit zu. Häufig wurde sie von Kollegen ermuntert, mit den Erfahrungen ihrer Kindheit zu arbeiten. „In Deutschland wären wir wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen, ein Stück über den Kommunismus mit Nicolas Erinnerungen zu machen“, sagt Alexander Karschnia. „Dort war die Geschichte noch viel zu nah und zu blutig.“

„Little red“ wird der erste große Erfolg von „andcompany & co.“ Nicola Nord glaubt, sie habe mit dem Stück „das große Schweigen“ endlich gebrochen. Im Vorfeld der Arbeit hatte sie ehemalige DKP-Mitglieder interviewt. Weil Nicola eine von ihnen war, hatten sie eingewilligt und zaghaft von ersten Zweifeln gesprochen, die sie bereits damals hatten.

„Little red“ entsteht gegen die Bedenken von Nicolas Eltern. Es ist ein erster Schritt zum eigenen Umgang mit der Kindheit, die Nicola ihren Eltern niemals zum Vorwurf gemacht hat. Nicht radikal, noch ängstlich, dass ihre Arbeit zum Bruch mit den Eltern führen könnte, wählt Nicola Nord die kindliche Perspektive auf die Geschichte, immer wieder gebrochen durch ironische Distanz. Ideologische Unentschlossenheit flackert durch die gesamte Inszenierung. Wenn Nicola von der Angst ihrer Eltern spricht, dass ihnen im Theaterstück der Tochter die eigene Vergangenheit um die Ohren fetzen, man sich über sie lustig machen könnte, wird spürbar, wie sehr das auch noch ihre eigene Angst ist. Doch die absurde Zeitreise im Dekor der sowjetischen Dreißiger – und ostdeutschen Siebzigerjahre tut niemandem weh.

Nicola setzt die Effekte ihrer DDR-Performances genau. Sie setzt ihren Sozialismus in Szene. Sie spielt ihn. Nach dem Spiel überlässt sie Alexander das Gespräch. Von ihm kommt der intellektuelle Unterbau der Inszenierungen. Alexander Karschnia promovierte über das Theater von Heiner Müller. Die Debatten der Intellektuellen in den Anfangsjahren der DDR schmökert er weg wie andere skandinavische Krimis. Das Paar liest Heiner Müller und Brecht. Sie diskutieren Derrida. Von dem russischen Futuristen Velimir Chlebnikov ließ sich Alexander zur Idee der „time republic“, dem Nachfolgestück von „little red“ inspirieren. Dem dritten Teil „Mausoleum buffo“ ging ein intensives Studium des Stalinismus und seiner Folgen und eine Reise nach Moskau voran. Die Intensität dieser Arbeit macht die Klugheit und den eigenen Stil, und damit den Erfolg von „andcompany & co.“ aus.

Der Schmerz, Nicolas Schmerz, der auch Alexanders Schmerz ist, arbeitet mit, noch verschwiegen. Nicola zieht eine abgegriffene Plastikhülle aus ihrer Handtasche. Darin steckt eine zerfledderte Ausgabe der Zeitung „Pionier“ aus dem Jahr 1988. Das Cover zeigt Nicola mit ihrer Band „Coolkids“. Aus runden, blauen Augen blickt sie ernst in die Kamera, in einer 80er-Jahre-Bandleader-Pose, Nase nach vorn. Ein Abschiedsbrief steckt auch in der Hülle, aus dem Jahr 1990. Eine Freundin beschreibt darin detailliert ihren Abschied von der DDR, den sie am Tag der Wiedervereinigung allein mit DDR-Fahne in der Küche ihrer Eltern zelebriert.

Im vergangenen Jahr ist das Paar nach Berlin gezogen, nach Kreuzberg. Voraus gegangen war das Angebot einer dauerhaften Zusammenarbeit mit Matthias Lilienthal vom Hebbel am Ufer. In Berlin gehen sie bei Theatermachern der DDR ein und aus, für die der Traum vom Kommunismus in jenem Jahr starb, als das DKP-Verbot im Westen aufgehoben wurde und Nicolas Eltern eintraten: 1968, im Jahr des Prager Frühlings.

„Auf der Bühne bin ich Kommunist“, sagt Alexander. „Brecht sagte, dass Kunst und Kommunismus mit dem Unmöglichen zu tun haben. Deswegen habe ich in unseren Blog geschrieben: Seien wir realistisch, Genossen! Versuchen wir das Unmögliche!“

Und Nicola? Sie nickt. Vorsichtig. „In meinem Herzen auf jeden Fall“, sagt sie. Es ist ein schwieriges Geständnis. Ganz und gar nicht reif für eine typische andcompany-Performance. Noch nicht.

Die nächsten Aufführungen von andcompany & co:
Mausoleum buffo:
20.04.2009 Krakow
Cracow Theatrical Reminiscences Festival (PL)
02. + 03.05.2009 Theaterhaus Jena
crash.boom.bau.festival

Little Red:
24.+25.04.2009 Behauviour Festival, The Arches, Glasgow (UK)
29.+30.04.2009 54. Sterijino PozorjeFestival, Novi Sad (SRB)

Berliner Notiz-Blog 14. April 09

Das Feng-Shui von Berlin

Hausnummern wurden erfunden, damit man sich besser zurechtfindet, und in den meisten Städten klappt das auch ganz gut. Nicht in Berlin.

Am S-Bahnhof Friedrichstraße sprach mich gestern eine Frau an, ob ich ihr sagen könne, in welche Richtung sie zur Friedrichstraße Nummer 235 laufen müsse.

Wir gingen ein Stück in Richtung des Kultur-Kaufhauses und stellten fest, dass wir uns auf dieser Seite der Straße in den Neunziger-Nummern befinden. Gegenüber entdeckten wir die Nummern 150 und die 151. Wo aber könnte die 235 sein? In den meisten Städten befinden sich die geraden Zahlen auf der einen, die ungeraden auf der anderen Straßenseite. Man braucht im Grunde nur zwei Häuser, um festzustellen, in welche Richtung sie auf – oder absteigend verlaufen und kann dann ungefähr schätzen, wie weit es noch bis zur gesuchten Adresse ist.

Nicht in Berlin. Hier zählten die Hausnummernvergeber, nachdem sie ein Haus auf der rechten oder linken Straßenseite zur Nummer 1 erklärt hatten, auf dieser Seite einfach immer weiter bis zum Ende der Straße, und anschließend auf der anderen Seite der Straße, rückwärts weiter, so dass die Nummer 1 schließlich der größten Hausnummer gegenüber liegt. Man muss sich das wie eine Haarnadel vorstellen.

Die Friedrichstraße ist sehr lang, eine der größten Haarnadeln Berlins. Ich wusste nicht, ob sich die Nummer 1 am nördlichen oder südlichen Ende befindet. Aber selbst wenn ich es gewusst hätte, wären wir nicht weitergekommen, denn ebenso gut hätte die 235 eines der letzten Häuser auf der Seite der aufsteigenden 90er Nummern sein können als auf der linken Seite mit den aufsteigenden 150er Nummern. Jede der beiden Möglichkeiten lag einige Kilometer von unserem Standpunkt entfernt. Was ich sicher sagen konnte, war nur, dass die Hausnummer 235 wahrscheinlich zu den höchsten in der Friedrichstraße gehört. Tja. Aber diese Information brauchte die Frau nicht.

Sie hatte noch zehn Minuten Zeit bis zu ihrem Vorstellungsgespräch bei einer Firma in der Nummer 235. Sie rieb nervös die Knie aneinander. Sie trug einen kurzen, schmalen Rock. Ich fragte sie, um was für eine Firma es sich handele. Sie sagte, es sei ein Vertrieb für Kommunikationssysteme. Mein Instinkt sagte mir, dass ein Vertrieb nicht in die Nachbarschaft der Start-ups und Werbeagenturen im Norden passt, eher schon an das unschicke, südliche Ende der Friedrichstraße.

Zu Hause schaute ich nach und stellte fest, dass ich sie in die richtige Richtung geschickt hatte. Sie hatte wirklich Glück, dass ich mich so gut in Berlin auskenne.

Wer hat sich nur dieses verwirrende Nummernsystem ausgedacht, in einer Stadt, in der man sich eh immer wie kurz nach einer Explosion fühlt, weil ihre Zentren so weit verstreut liegen? Ein Feng-Shui-Experte sagte, das läge an dem vielen Wasser in der Stadt. Tatsächlich kann Berlin mehr Wasser und Brücken vorweisen als Venedig. In der City breitet die Spree ihre Arme aus. Ein Netz von Kanälen durchzieht die Stadt. Weiter draußen strömen Havel und Dahme, nicht zu vergessen die kleine Panke, die teilweise unterirdisch der Spree entgegen kollert. Das fließende Wasser, sagte der Feng-Shuist, schaffte die berlintypische Unruhe und das Chaos in der Stadt. Es erschwere die Bildung von verlässlichen Strukturen. Die Flüsse trügen das Alte unermüdlich mit sich fort und schafften ständig Neues herbei. Nichts könne sich dauerhaft an diesem Ort etablieren, keine Tradition, keine große Familiendynastie und auch kein Reichtum.

Ich vermute, dass es diese Energie des fließenden Wassers ist, die ich spüre, sobald ich am Hauptbahnhof nach längerer Abwesenheit meinen Fuß auf den Bahnsteig setze. Es ist diese Energie, die mich sofort fröhlich macht, wenn ich zurück nach Hause komme. Ich strudele im Strom der Passanten, die getrieben von Projekten und Plänen, immer gerade zu einer Beratung, einem Meeting, einer Präsentation oder Meditation hasten.

Die Berliner sind blass, schlecht ernährt und nachlässig gekleidet, aber immer voller Optimismus. Das Wasser treibt uns zu Höchstleistungen und laugt uns aus. Es ist wie eine Droge. Wenn in anderen Städten die Sperrstunde beginnt, kommt das Nachtleben in Berlin gerade erst in Gang. Dann verwechseln die Berliner ihre Tango- Salsa – und Swingnächte mit Schlaf. Am nächsten Tag wundern sie sich, warum sie müde sind. Sie haben doch nur getanzt. Aber schon am nächsten Kiosk blinken grüne und rote Pünktchen und formen das verheißungsvolle Wort: Kaffee.

Das Leben in diesem Teilchenbeschleuniger ist auf Dauer ungesund. Irgendwann, jenseits der dreißig, spürt das jeder. Die jungen Zuwanderer verlassen die Stadt wieder, sobald sie Kinder bekommen und besser bezahlte Jobs in ihren Heimatstädten. Ihren Umzug kündigen sie meist nicht an, aus Angst, dass ihre Freunde sie überreden könnten zu bleiben. Die echten Berliner hingegen reden ständig davon, die Stadt zu verlassen. Aber sie bleiben.