Berliner Notiz-Blog 16. Februar 2009

Er habe die Jahre in Berlin zwischen Ober – und Unterkiefer verbracht, erzählt der pensionierte Zahnarzt Anatol Gotfryd nach seiner Lesung im Jüdischen Kulturverein. So meisterhaft er seine Biographie „Der Himmel in den Pfützen“ – ein Leben zwischen Galizien und dem Kurfürstendamm, schrieb, trägt er nun noch einige Anekdoten seines Lebens vor. Mit diesem verschmitzten Lächeln. Bei den gediegenen Veranstaltungen des Vereins im Centrum Judaicum herrscht eine familiäre Atmosphäre. Die Zuhörer: Überlebende, deren Kinder, Freunde des Vereins und immer mehr solche, die den Verein in den letzten Jahren entdeckten. Er bleibt ein Geheimtipp. Ob man mit ihm denn jiddisch sprechen könne, fragt eine der ältesten Zuhörerinnen den Autor. Gotfryd schüttelt den Kopf. Zu lange liegt seine Kindheit zurück, zu früh musste er sie verlassen. Heute ist er 78 Jahre alt.

Afonsos Spur

Berliner Zeitung

Ein junger Mann verschwindet nach einer Clubnacht in Friedrichshain

Die Nacht, in der Afonso Tiago zum letzten Mal gesehen wurde, war kalt, die Spree trug Eis. Es war gegen 3.40 Uhr. Afonso verabschiedete sich von seinem Freund Ivo. Ivo wollte zum Geldautomaten am Ostbahnhof. Afonso nach Hause, in die Forsterstraße in Kreuzberg, auf die andere Seite des Flusses.

Ivo do Carmo ist Portugiese wie Afonso Tiago. Er glaubt, dass Afonso vom Ostbahnhof aus über die Schillingbrücke nach Kreuzberg gelaufen ist. Er lehnt am Geländer der Brücke. Graue Maskenmütze, dunkler Bart, langer Mantel, eine Krawatte über dem Baumwollhemd – er sieht aus wie eine Vorlage für Robert Capas Spanienkämpferporträts. Ein winziges Kreuz zittert an seinem linken Ohr. Afonso sei zu Fuß gegangen, sagt Ivo, da er kein Bargeld dabei hatte.

Der Fluss schwappt träge in Richtung Alexanderplatz. Auf der Kreuzberger Seite führen Stufen hinab zum Wasser. Man braucht nur über die hüfthohe Absperrung klettern.

Die Polizei vermutet, dass Afonso den Heimweg über die Spree abkürzen wollte, auf das Eis gegangen und eingebrochen ist. „Das passt nicht zu Afonso“, sagt Ivo. „Er war kein Abenteurer. Er ist nicht einmal nachts allein durch den Görlitzer Park gelaufen. Er war ein vorsichtiger Mensch, sehr praktisch und direkt, ein Ingenieur eben.“

Afonso und Ivo waren mit zwei Freunden in der „Kantine“, einem Club am Ostbahnhof. Später beschlossen sie, noch ins „Berghain“ rüber zu gehen. Ivo habe Geld gebraucht und sei deshalb zum Ostbahnhof gelaufen. Afonso habe nach Hause gewollt. Er sei absolut sicher, dass ihnen keiner gefolgt sei, sagt Ivo.

Wenn er heute an die Ereignisse dieser Nacht denkt, fällt ihm auf, dass Afonso weniger getrunken hat als es seine Gewohnheit war. Er habe sich lediglich zu drei Bier überreden lassen. „Ich kann nicht sagen, ob er traurig war oder nicht. Afonso war sehr reserviert. Man sah ihm nicht an, was er fühlte.“ Die Polizei hat nach seinen Kontakten aus dem „Berghain“ geforscht. Ivo erinnert sich an eine Frau, die Afonso mal hier getroffen hat. Die Frau war blond. Mehr weiß er nicht über sie, die Polizei hat keine Spur gefunden.

Ivo und Afonso hatten sich im Sommer in einer Bar kennengelernt, kurz nachdem Afonso mit einem Stipendium für ein Praktikum bei „Active Space Technology“, einer wissenschaftlichen Dienstleisterfirma, nach Berlin gekommen war.

„Als ich hörte, dass er verschwunden ist, vermutete ich zuerst eine Frauengeschichte“, erzählt Ivo. „Dann dachte ich, er wäre nach Portugal abgehauen. Ich wusste, dass ihm die Trennung von seiner Freundin schwer gefallen war. Nach dem Praktikum wurde ihm bei seiner Praktikumsfirma eine feste Stelle angeboten. Er hat sich zwar riesig auf eine Zukunft in Berlin gefreut, aber Berlin bedeutete auch die Trennung von seiner Freundin. Sie konnte nicht aus Lissabon weg.“

Die Erinnerungen an den Freund lassen Ivo keine Ruhe. Es gibt so viele weiße Flecken. Ivo merkt, dass er zu wenig weiß. Die Suche nach Afonso wird zur Suche nach einem Menschen, den er kaum kannte.

Die Tür zur Firma „Active Space Technology“ geht von einem gesichtslosen Korridor in einem grauen Neubau in der Wissenschaftsstadt Adlershof ab. Acht Ingenieure und Physiker in Afonsos Alter sitzen in zwei engen Büros vor ihren Computern.

„Ich dachte sofort, dass etwas Schlimmes geschehen sein muss, ein Unfall“, sagt Ricardo Nadalini, der Geschäftsführer. Er mag zehn Jahre älter sein als seine Mitarbeiter. Er sieht müde aus. Ein Ende seines Oberlippenbartes druselt auseinander. Die Wasserflaschen auf seinem Schreibtisch sind zerknautscht. „Er hat sich immer sofort gemeldet. Er war zuverlässig. Als seine Eltern hier anriefen, haben wir sofort in allen Krankenhäusern der Stadt nachgefragt.“

Der Arbeitsplatz von Afonso ist nicht mehr vorhanden, denn an jenem Montag, an dem er nicht erschien, wurden die Tische auseinander geschraubt und neu sortiert. „Wir räumen häufig um“, erklärt Ricardo Nadalini. „Praktikanten kommen und gehen.“ Afonso sei an der Entwicklung von Instrumenten beteiligt gewesen, die später in Sonden zur Erforschung von Mars und Merkur eingesetzt werden sollten. Dass er wegen seines Insiderwissens entführt wurde, hält Nadalini für ausgeschlossen. „Hier gibt es kein Geheimnis.“

Afonso sei ein normaler Mensch gewesen. Er habe das geliebt, was alle jungen Leute an Berlin lieben: Die Clubs und Bars, die Diskotheken. Ansonsten weiß der Chef nichts über sein Privatleben. „Ich sehe Afonso oft“, sagt er noch. „Das sind kurze Momente, mitten am Tag. Er sieht mich an, wenn er draußen steht und raucht. Immer sind es Blicke, an die ich mich plötzlich erinnere.“

Catarina Tiago, die Schwester von Afonso, ist sofort nach seinem Verschwinden von Lissabon nach Berlin geflogen. Ihr Lebensgefährte Nono Gonzaga begleitet sie. Sie leben bei Nonos Cousin in einer Hinterhofwohnung im Prenzlauer Berg. Die Zimmerwände sind in mediterranen Farben gespachtelt. In einem kleinen Raum steht ein Eichentisch aus einem alten deutschen Wohnzimmer. Catarina sitzt reglos, wie eingeklemmt zwischen Tisch und Stuhl. Nur ihre Finger bewegen sich. Sie dreht eine Zigarette.

Seit zwanzig Tagen ist ihr Bruder bereits verschwunden. Noch immer fehlt jede Spur. „Es ist schwer, sich vorzustellen, wie das Leben danach sein wird“, sagt sie. Und es ist nicht ganz klar, was sie mit ‚danach‘ meint. Die Suche oder das Finden oder die Zeit nach Berlin, wenn sie nach Lissabon zurückkehren und ihre Tierarztpraxis weiter führen wird. Ihre Stimme klingt müde. Ihr langes Haar liegt in schweren Streifen auf den Schultern. Der Rhythmus von Wachen und Schlafen, von Hunger, Durst, Essen und Trinken ist dem Rhythmus von Trauer und Hoffnung gewichen.

Wenn ein Mensch stirbt, kann man einen Ort aufsuchen, an dem er ruht. Das ist ein Trost. So merkwürdig es klingt. Wenn ein Mensch verschwindet, gibt es keinen Ort der Ruhe. Als Untoter bleibt er unter denen, die ihn lieben, überlässt sie dem Handel mit dem Tod und dem Handel mit dem Leben. Sie drucken und kleben Plakate. Sie pflastern die Stadt mit den Porträts von Afonso. Die Plakate werden immer mehr und immer größer. Freunde und Bekannte kommen und helfen. Sie streifen nächtelang durch die Finsternis und kleben. „Sehen Sie, er lacht auf jedem Bild.“ Ein sozialer Mensch sei er, jemand, der verantwortlich mit allen umgehe.

Er habe noch nie ein solches Engagement von einer Familie erlebt, sagt Hans-Joachim Blume, Kriminaldirektor der Vermisstenstelle des Landeskriminalamtes. Zwei- bis dreitausend Erwachsene verschwinden jedes Jahr in Berlin. Beinahe alle werden wieder gefunden. „Wir schauen uns jetzt in Portugal um“, sagt er. „Wir möchten wissen, wen er zuletzt von seinem portugiesischen Handy aus angerufen hat.“ Dass Afonso verreist ist, hält die Polizei für ausgeschlossen. Auf seinem Konto bewegt sich nichts.

Es gäbe eine Besonderheit, sagt Blume. Beide Telefone, das portugiesische und das deutsche Handy, seien zur genau gleichen Zeit vom Netz gegangen, in unmittelbarer Nähe des Ostbahnhofes.

Doch keiner der Passanten, die zwischen den Partybezirken Kreuzberg und Friedrichshain pendelten, keiner der Taxifahrer, habe in dieser Nacht einen Unfall oder ein Verbrechen beobachtet. Keinen Schrei. Keinen Aufprall im Wasser. Nicht das Bersten von Eis. In der Nähe der Schillingbrücke haben die Taucher nichts gefunden. Im Winter seien die Strömungsverhältnisse unklar, so dass man nicht wisse, wo in den vielen Gewässern Berlins man eine nächste Tauchaktion unternehmen könne. „Wir müssen das Frühjahr abwarten“, sagt Hans-Joachim Blume.

Berliner Notiz-Blog 9. Februar 2009

Ich bin dafür, dass der Februar mit sofortiger Wirkung abgeschaltet wird. Ein Tag weniger ist ein halbherziger Versuch, den grauesten aller grauen Monate abzustrafen. Nie sind die Bäume so kahl wie jetzt. Die Straßen glänzen wie im Fieber. Einige Etymologen vermuten sogar einen Zusammenhang zwischen dem Wort „Februar“ und „Fieber“.
Kein Wunder, dass im Februar alle krank sind. Die einbrechende Helligkeit verursacht eine quälende Unruhe. Man glaubt, nach dem Winter wieder durchstarten zu können und Bumm! liegt man auf der Nase. Vom Krankenbett aus bemerke ich, dass die Fensterscheiben undurchsichtig geworden sind. Ich ziehe die Gardine vor und zappe durch die Berlinale. Wieder nicht dabei gewesen! Keinen Film gesehen, kein Autogramm gejagt. Das Wetter ist einfach zu mies. Der Kopf tut weh. Die Nase tropft. Ich rede mir ein, nichts verpasst zu haben. Das Fernsehen zeigt Stars, die in dünnen Kleidchen tapfer über den roten Teppich im Sony-Center eilen. Sie lächeln verfroren in die Menge.
Ich kappe die Antenne, lege mir Teebeutel auf die Augen und stelle den Wecker auf Poesie.

Lillys Klavier

Berliner Zeitung

Ein Mädchen aus Schöneberg hat wenig Geld, aber gute Ideen

Wenn Lilly und ihr Bruder Robin morgens aus dem Haus treten, rollen die Blumenverkäuferinnen nebenan die Rosenbüsche und Palmen hinaus auf den Bürgersteig und die Buchhändlerin sucht wie jeden Tag vergeblich einen Parkplatz vor ihrem Geschäft. Lilly und Robin wohnen am Bayerischen Platz in Schöneberg.

Die meisten halten die beiden für Zwillinge. Robin ist nicht einmal ein Jahr älter als Lilly. Sie haben dasselbe blonde Haar, in dem einige Strähnen dunkler und andere heller sind. Und sie haben die gleichen karamellbraunen Augen. Am Nachmittag gehen die Geschwister entweder töpfern oder zum Judo oder in die Musikschule. Robin lernt Schlagzeug, Lilly Klavier spielen.

Eines Tages sagt die Lehrerin, Lilly brauche jetzt ein richtiges Klavier zum Üben. Das Keyboard reiche nicht mehr aus. Am Bayerischen Platz in Schöneberg gehören Klaviere ebenso selbstverständlich in den Alltag neunjähriger Mädchen wie Blumen und Bücher in die Wohnzimmer der Eltern. Doch Lillys Mutter hat gerade keine Arbeit. Das Geld ist knapp.

Lilly möchte deswegen mit keinem Mädchen am Bayerischen Platz tauschen. Sie ist viel zu sehr Abenteurerin, als dass sie sich wünschte, das Geld für ein Klavier einfach von der Sparkasse holen zu können. Ein neues Klavier zu kaufen, wenn man gerade kein Geld hat, das ist eine Herausforderung ganz nach ihrem Geschmack.

Als die Sommerferien zu Ende gehen, macht Lilly sich an die Arbeit. Sie wirft das lange, blonde Haar in den Rücken und zeichnet eine Annonce, die sie am nächsten Tag in verschiedenen Läden und in der Musikschule an die schwarzen Bretter pinnt. Am Abend bäckt sie mit ihrer Mutter einen Pflaumenkuchen und viele Muffins.

Ein Verkaufsstand ist bald gefunden: Das leere Gestell des verlassenen Lebensmittelladens, auf dem noch vor kurzem die Stiegen für Tomaten, Zwiebeln und Salate standen. Lilly und Robin breiten ein Tuch darüber, malen Noten darauf und stellen ihre Ware dorthin. Auf dem Bürgersteig platzieren sie einen bunt bemalten Schuhkarton mit einem breiten Schlitz im Deckel. „Wir sparen für ein Klavier“, steht auf dem Karton. „Selbst gebackene Kuchen“, ruft Lilly den Passanten zu. „Mit frisch geernteten Pflaumen aus dem Oderbruch.“

Einige Leute halten vor dem Stand inne, nicken, lächeln und gehen weiter. Ein älterer Herr läuft mit gesenktem Kopf vorüber. Seine Nase hängt wie ein dicker Tropfen aus dem Gesicht. Plötzlich bleibt er stehen und kommt zurück. Er hebt nur kurz den Kopf und lächelt die Kinder an. Dann steckt er zehn Euro in den Schuhkarton. Seine Hände zittern leicht. Kuchen möchte er nicht nehmen. Er hat gerade keinen Appetit. Später kommen andere Schöneberger, die gern Muffins und Pflaumenkuchen kaufen.

Nach zwei Tagen verliert Robin die Lust an dem Job für seine Schwester. Lilly möchte weitermachen. Die Marktfrau ist für sie nur eine weitere lustige Rolle des Lebens. Lilly zählt das Geld. Achtzig Euro haben sie an zwei Nachmittagen verdient.

Als erstes meldet sich eine ältere Frau auf Lillys Annonce. Sie sagt, sie habe ein Klavier zu verschenken. Doch als Lilly und ihre Mutter zur verabredeten Zeit bei ihr klingeln, öffnet niemand die Tür.

Die Mutter ersteigert ein Klavier auf Ebay. Es wird mit einem zerbrochenen Bein geliefert. Nachts hören sie die Holzwürmer darin kratzen. Lillys Mutter muss einen Anwalt nehmen, um das Klavier wieder los zu werden und ihr Geld zurück zu bekommen.

Im Oktober geschieht etwas Merkwürdiges. Die Dame ein Stockwerk tiefer hat gehört, dass Lilly ein Klavier sucht. „Ich weiß nicht, ob es dir gefallen wird“, sagt sie. „Es ist schon sehr alt.“ Lilly trippelt ungeduldig hinter ihr ins Wohnzimmer. Wegen der schweren Tüllgardinen ist es dämmrig darin, doch der rötlichbraune Deckel des Klaviers und die gedrechselten Beine glänzen wie frisch poliert. „Ich habe mir immer ein altes gewünscht“, sagt Lilly und hält ihre Hände fest, damit sie das Klavier nicht aus Versehen streichelt. Sie ist nicht sicher, ob man ein Klavier, das einem noch nicht gehört, unter den Augen der Besitzerin einfach streicheln darf. Die Nachbarin schlägt den Deckel auf und nimmt das schwarze, blumenbestickte Filztuch von den Tasten. Hier und dort sind sie schon etwas vergilbt. Im Deckel ist der Name des Herstellers in Intarsien eingelegt: Julius Machalet Berlin.

„Darf ich?“ Lilly trippelt.
„Natürlich, probiere es aus.“ Die Nachbarin zieht den Hocker darunter hervor. Lilly rutscht auf dem Hocker hin und her. Dann spielt sie eines ihrer Lieblingsstücke, den ukrainischen Tanz, den sie ganz zu Beginn des Klavierunterrichts gelernt hat.

Sechshundert Euro möchte die Nachbarin für das Klavier haben. Ihre Tochter habe einst darauf gelernt, doch die sei schon lange ausgezogen. Vorher, erzählt die alte Dame, habe das Klavier bei einer Familie im dritten Stock gestanden.

Lilly mag nicht rechnen, wie viel Kuchen sie noch verkaufen müsste, um das Klavier bezahlen zu können. Sie rechnet nicht gern und traut ihren Ergebnissen nicht.

Zum Glück zahlt Oma den Rest. Oma, die von Beruf Sängerin war und mit Opa und einer berühmten Big Band durch die DDR tourte. Nach Opas Tod ist Oma zu ihnen an den Bayerischen Platz gezogen, in eine sehr kleine Wohnung. Sie sagt, sie brauche jetzt nicht mehr so viel Platz. Außerdem habe sie ja noch das Grundstück im Oderbruch. Da fahren Lilly, Robin und ihre Mutter jedes zweite Wochenende hin. Sie toben durch die Wiesen und reiten und musizieren zusammen.

Lillys Mutter ist auch Sängerin. Außerdem spielt sie Gitarre und Singende Säge. Aber das ist nicht ihr Beruf. Sie hat gelernt, Hüte und Kleider und Taschen zu entwerfen und zu nähen. Das Kleid, das Lilly zum Vorspielen in der Musikschule zu Beginn der Sommerferien trug, hat die Mutter genäht. Dazu bekam Lilly neue Schuhe, schwarze Ballerinas, etwas zu groß, aber sie haben Sohlen hinein gelegt. Schließlich sollen die Schuhe im nächsten Jahr noch passen.

Obwohl die Mutter viele Kleider, Hüte und Taschen entwirft und näht, hat sie noch nie in ihrem Beruf gearbeitet. Gleich nach dem Studium half sie in der Arztpraxis ihres Mannes mit. Doch seit sich die Eltern von Lilly und Robin getrennt haben, möchte die Mutter nie mehr in einer Arztpraxis arbeiten. Jetzt lernt sie einen neuen Beruf. Sie wird Eventmanagerin, weil ihr das Organisieren von Festen und Konzerten fast so viel Spaß macht wie das Entwerfen und Nähen von Hüten, Kleidern und Taschen.

Betritt man das alte Haus am Bayerischen Platz, durchquert man einen marmornen Flur mit blank gewienerten Spiegeln und läuft eine gewundene Treppe hinauf. In Lillys Wohnung sieht es aus wie bei Leuten, die am liebsten musizieren, töpfern, schneidern und basteln. Gegenüber dem riesigen Spiegel im Flur stehen ein bunt bemalter Marterpfahl und eine schwarze Kleiderpuppe, die einen Hut mit einem Schleier und einen breiten Gürtel trägt.

An einem Vormittag im November wird das alte Klavier hinauf getragen.

„Wo ist es? Wo ist es?“ Lilly wirft die Schultasche neben den Marterpfahl und stürzt in das Nähzimmer ihrer Mutter. Das Klavier steht an der Wand mit den Familienfotos. Lilly umarmt es zur Begrüßung. Ihre ausgebreiteten Arme reichen nicht ganz über alle Oktaven. Lilly schlägt den Deckel auf. Sie nimmt das blumenbestickte Tuch von den Tasten und beginnt zu spielen. Sie spielt den letzten Satz des 109. Menuetts von Mozart, den sie nicht so gut leiden kann, weil er so schwierig ist. An derselben Stelle wie immer beißt sie die Zähne zusammen und schneidet eine Grimasse. Macht nichts. Das war schon richtig so.

Berliner Notiz-Blog 19. Januar 09

Vor einer Woche lief ein Mann auf dem Schlachtensee Schlittschuh. Er war nicht mehr ganz jung. Er fuhr sicher, obwohl das Eis knubbelig war und –anders als auf den Kunsteisflächen in der Stadt- spiegelglatt.

Er fuhr einige Figuren. Es sah elegant aus. In Berlin sieht man selten Männer auf dem Eis tanzen. In Montreal hab ich Männer auf dem Eis Pirouetten drehen und Walzer tanzen sehen. In Deutschland würden sie riskieren, schwul genannt zu werden.

Vieles, was Männer für Frauen anziehend macht, wird hier schwul genannt. Wenn ein Mann sich für Menschen interessiert, wenn er Sensibilität und Vornehmheit besitzt, wenn er an der Volkshochschule eine Sprache lernt, weil er gern unter Frauen ist, wenn er knallbunte Socken liebt und kocht. Mir fallen Szenen aus Büchern und Filmen der Zwanzigerjahre ein, während ich das schreibe. Es fehlen eben jüdische Männer. Zum Glück bringen einige Einwanderer die „weiblichen“ Eigenschaften für Männer mit.

Ich vermute, dass der Mann auf dem Schlachtensee aus Skandinavien kommt. Vielleicht arbeitet er gerade in Berlin. Es gelang mir nicht, ihn anzulächeln, weil ich bis zur Nase in einem Schal steckte und trotzdem gefrorene Lippen hatte.

Über den See wehte ein eisiger Wind. Er tanzte in der Nähe des Nordufers, auf einer Fläche, die von Schnee frei gefegt worden war und frei von den kleinen Stöckchen, die Hundebesitzer im Spiel überall herum werfen.

Während ich ihm zuschaute, kam ein riesiger, schwarzer Hund auf mich zugelaufen und begann, an meinen Handschuhen zu knabbern. Ich bat die Besitzer, ein Pärchen, ihn aufzufordern, das zu lassen. Der Mann grinste mich an und die Frau sagte: „Er knabbert gern an Handschuhen, wenn man die Hände so hält.“

Wie soll man die Hände denn halten, wenn man über den Schlachtensee spaziert? An der Hosennaht?