Berliner Notiz-Blog 8. Juni 2008

1968. Nacht der Literatur – so war die Veranstaltung in der Akademie der Künste am Freitagabend überschrieben.

Jetzt, dachte ich, jetzt! als Volker Braun in seiner Eröffnungsrede von der Politik sprach, die Armut straff organisiert und „den Reichtum vagabundieren lässt“, von der zunehmenden Zahl der Tagelöhner, als er unser Schweigen mit einer schwarzen, zähen Masse verglich. Endlich, dachte ich. Hier also. In diesem herrlichen Palast aus Glas.

Günter Grass, Uwe Timm, Ulrich Pletzer, Tanja Dückers und Raul Zelik waren auf dem Podium zusammen gekommen, um über „Die Literatur und das politische Engagement“ zu diskutieren. Der Abend versprach spannend zu werden, denn die drei jungen Autoren schreiben politisch engagiert, die Älteren sowieso.

Doch die junge Generation sagte erschreckend wenig. Sie verteidigten sich gegen Günter Grass Anspruch, Literatur müsse politisch sein, weil, so hatte Grass seine Haltung begründet, der Dichter nicht frei sei, sondern eingebunden in eine Gesellschaft und ihre Verhältnisse und, da er, Grass, sich in erster Linie als engagierter Bürger fühle, müsse er sich als Schriftsteller mit dem auseinandersetzen, was ihn bewegt. Er habe manchmal versucht, völlig unpolitisch zu sein, sei jedoch spätestens nach vier Zeilen wieder in seiner Zeit angekommen.

„Literatur muss gar nichts“, entgegnete Tanja Dückers. Ob der Literatur-Nobelpreisträger das nicht schon wusste? Doch damit war ihr Nachhilfeunterricht noch nicht zu Ende. Dem Publikum erläuterte sie später den Unterschied zwischen den Nachrichten im Internet und der Literatur. Danke!

Raul Zelik kritisierte den Literaturmarkt, auf dem so viel Schrott erscheine, woraufhin der Moderator Martin Lüdke sagte, das sei schon immer so gewesen, es habe schon immer Bücher gegeben, die nur von Frauen gelesen worden seien. Und als wäre dieser Satz nicht bereits vulgär genug, nahm er die Apfelsaftflasche, die neben seinem Stuhl stand und trank ganz einfach aus der Pulle.

Verflixt, ist das alles, was es heute Abend über politisches Engagement und Literatur zu sagen gibt? Ist da eigentlich keiner, den der Schmerz über das, was in Deutschland geschieht, an seinen Mac treibt? Hinter welchem leuchtenden Äpfelchen werden die heißen Eisen angegriffen: Dass diese Regierung durch ihre Politik die Demokratie akut gefährdet? Wer gibt dem Elend in Deutschland eine literarische Stimme, schafft authentische Figuren, die uns ergreifen, die uns nicht länger abschalten lassen? Wer stellt die Gleichgültigkeit bloß? Die Arroganz? Wo bleibt die Wut der Dichter?

In der Pause wandelten wir auf der Balustrade des Palastes, schauten rüber zum Reichstag. Wir lobten den Wein und die Farben des Himmels. Und der Mond, die schmale Sichel, schweigt auch so schön.

Kultur der Mischung

Berliner Zeitung

Isabelle Bruniquet hat afrikanische, asiatische und europäische Wurzeln. Sie weiß nicht recht, wohin sie gehört

Wegen ihres Akzents glaubt man, sie sei Französin. Sie ist schlank. Sie hat hellgrüne Katzenaugen, rotes Haar und Sommersprossen.
Die Schwarzen im Lumumba, ihrem Lieblingsclub in der Karl-Marx-Allee, sagen: „Du bist doch eine von uns. Hast eben nur die falsche Hautfarbe.“

„Es ist mein Dilemma“, sagt Isabelle Bruniquet. „Ich weiß eigentlich selbst nicht, wer ich bin.“

Isabelle Bruniquet ist Kreolin. Vor 39 Jahren wurde sie auf Réunion geboren, einer Insel im Indischen Ozean, achthundert Kilometer östlich von Madagaskar. Ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern wurden ebenfalls auf Réunion geboren. Doch dann verlieren sich die Spuren der Familie auf drei Kontinenten, in Indien, Afrika und Europa.

Isabelle studierte in der Hauptstadt Saint-Denis französische Sprach – und Literaturwissenschaft. Sie liebt die französische Sprache und Literatur. Sie ist froh, dass Réunion politisch zu Europa gehört. Sonst hätte sie, die Tochter einfacher Leute, kaum die Chance zu studieren gehabt.

Sie war noch Studentin, als sie ein interessantes Angebot aus Deutschland bekam. An der Universität Bamberg arbeiteten Sprachwissenschaftler an der Erforschung der Kreolischen Sprachen. Sie erstellten ein Etymologisches Wörterbuch. Und Isabelle sollte dabei sein.

Das ist ihre Chance, die kleine Insel, um die man im Auto in drei, vier Stunden herum fährt, zu verlassen. Sie weiß schon lange, dass sie hier weg möchte, raus in die Welt, zu den Wurzeln ihrer Familie, ihrer Sprache.

Bamberg erschien ihr engherzig und kühl. Aber immerhin verliebte sie sich. In Bamberg kam ihr Sohn Lucien zur Welt. Nach zwei Jahren wurde ihr die Luft in der fränkischen Stadt zu knapp. Mit Mann und ihrem Sohn ging sie nach Berlin und fand Arbeit als Französisch-Lehrerin in einer privaten Sprachschule.

Einmal saß ihr einer ihrer Schüler auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn gegenüber. „Plötzlich sagte er: ‚Ich wusste es! Sie haben afrikanische Füße. Sie kommen aus Afrika’.“

Ein paar Wochen später blätterte die Französischlehrerin im Wartezimmer in einer Zeitschrift und las, dass Anthropologen nach der Länge des zweiten Zehs in griechische und ägyptische Füße unterscheiden.

Isabelle Bruniquet ärgert sich, dass körperliche Nebensächlichkeiten wie Zehenlängen und Hautfarben in Europa ein Thema sind.

Natürlich unterscheidet man auch auf Réunion die Cafres, die Nachkommen der Afrikaner von den Zarabes, den hellhäutigen Indern aus dem Norden und den dunkleren aus dem Süden, den Malbars. Man nennt die Nachkommen der armen Europäer P’tit blancs und die Kinder der Reichen Grand blancs, man spricht von den chinesischen yabs und den französischen Z’oreilles. Wessen Herkunft nicht mehr klar erkennbar ist, der gehört zu den Créoles. Wie Isabelle. Und niemand macht eine große Geschichte daraus, dass sie ein bisschen heller ist und trotz ihrer roten Haare richtig braun wird im Sommer. Was Haut, Haare und Augen angeht, ist auf Réunion, der Name bedeutet Versammlung oder Zusammenkunft, alles möglich.

Bis ins 18. Jahrhundert lebte kein Mensch auf der Insel. Dann kamen gleichzeitig Europäer, Asiaten, Afrikaner, die einen als Plantagenbesitzer, die anderen als ihre Sklaven und Bediensteten.

„Es ist nicht so, dass aus der Mischung eine neue Identität entsteht“, widerspricht Isabelle Bruniquet dem Kulturtheoretiker Edouard Glissant, als er im Französischen Kulturzentrum in Berlin zu Gast ist. Glissant hat eine Vision von der „Kreolisierung“ der Welt, die Theorie, dass sich die Kulturen im Zuge der Globalisierung so weit miteinander vermischen, dass die Identität der Menschen nicht länger aus tief verwurzelten Traditionen und Gebietsansprüchen genährt wird, sondern aus dem Geflecht der Begegnungen und Mischungen. Glissant glaubt, dass daraus neue kulturelle Ausdrucksmöglichkeiten entstehen. Dabei kritisiert er den „Kulturimperialismus“ der Kolonisatoren.
Isabelle sieht die Kolonialmacht Frankreich ambivalent. „Jeder auf Réunion ist froh über das Gesundheits – und Bildungswesen. Ich liebe die französische Kultur. Aber bin ich eine Französin? Nein. Obwohl ich in Berlin fühle, wie französisch ich bin.“

„Nimm dir von allem das Beste“, rät ihr Glissant, doch die rothaarige, weiße Kreolin findet darin keine Antwort. „Das beendet doch nicht diese Quälerei“, sagt sie.

Die Quälerei fing schon in ihrer Kindheit an. Obwohl in ihrem Elternhaus Kreolisch gesprochen wird, verbietet die Mutter Isabelle, draußen, auf der Straße oder in der Schule kreolisch zu sprechen, nicht, weil der Einwanderer-Mix, für den es keine einheitliche Schrift gibt, als offizielle Sprache verboten ist, sondern weil sie sich dafür schämt. „Wer kreolisch spricht, ist ein Depp“, sagt die Mutter. Kreolisch ist nicht die Sprache der Gebildeten. Ende der Siebzigerjahre existiert noch keine kreolische Literatur. Auf kreolisch werden Märchen von Generation zu Generation weiter gegeben. Es ist die Sprache der Sänger und der einfachen Leute, der Arbeiter, der Bauern. Als Isabelle zur Schule geht, publiziert lediglich die kommunistische Zeitung der Insel Artikel auf kreolisch. In den Siebzigerjahren kämpfen einige Intellektuelle dafür, dass die Sprache eine einheitliche Schrift bekommt, die sich möglichst von Französisch unterscheiden sollte. Sie gelten als radikal.

„Es ist meine Sprache“, sagt Isabelle. „Und es waren die Franzosen, die diese Sprache unterdrückt haben.“

Ihre Eltern verstehen bis heute nicht, dass sie sich ernsthaft mit ihrer Muttersprache auseinandersetzt, sie erforscht und sogar an einem Wörterbuch mitgearbeitet hat.

In der Berliner Wohnung von Isabelle stehen Regale voller französischer Literatur, zwischendrin Skulpturen und Instrumente aus Afrika. Sie lernt jetzt afrikanisch trommeln und tanzen. Sie hat sich auf die Suche nach Leuten von Réunion gemacht und tatsächlich einige gefunden. In Berlin sind sie zu dritt, es gibt noch jemanden in Dresden und mehrere im Rheinland. Sie haben den Verein „Reunion der Kulturen“ gegründet, den Verein zur Förderung der Kultur Réunions e.V.

In einer Ecke ihres Zimmers hat sie die Fotos ihrer Familie aufgehängt. Ihr sehr weißer Sohn Lucien neben dem dunklen Großvater. Die indische Urgroßmutter im Kreis ihrer Kinder.

„Auf Réunion“, sagt sie, „lebt man mehr in der Gemeinschaft. Wir lernen von klein auf, die Tabus der anderen zu respektieren. Es gibt jede Religion und eine Menge Aberglauben. Die Kirchen läuten, die Muezine rufen von den Moscheen. Und niemand beschwert sich, wenn er wegen einer religiösen Prozession im Stau steht. Wenn ich früher zu meiner Großmutter gegangen bin, habe ich darauf verzichtet, einen Ledergürtel zu tragen, weil es ihre religiösen Gefühle verletzt hätte. Sie glaubte, dass Kühe heilige Tiere sind.“

Es sieht aus wie ein kleiner Altar für ihre Ahnen, ein Ort der Sehnsucht. Vielleicht brechen Menschen auf und begeben sich an andere Orte, damit ihre Sehnsucht Namen bekommt. Die Namen der verlassenen Orte. Die Namen der Menschen auf den Fotos und den Gräbern.
In den Forts von Senegal, Ghana, Benin und Mosambik, an den Orten, an denen die Gefangenen Afrikas auf Schiffe verladen wurden, endet ihre Identität im Nichts.

Isabelle war erst einmal in Afrika. In Burkina Faso, der Heimat ihres Freundes. „Sie haben mich dort wie eine Einheimische behandelt“, erzählt sie. „Nicht wie eine französische Touristin. Niemand hat versucht, mich übers Ohr zu hauen.“ Sie spricht von der Solidarität der Afrikaner, dem Familiensinn, der ihr näher ist, als die zentrifugalen Ego-Kräfte Europas. Sie denkt, dass sie eher nach Afrika gehört als nach Europa.

Sie möchte dorthin zurück, die sogenannte Sklavenroute abfahren. Sie weiß, dass es unmöglich ist, die Wege der Sklaven nach Réunion nachzuvollziehen, aber sie hat in Erfahrung gebracht, auf welchen Wegen die Bevölkerung verschachert wurde, dass auch Schwarze Schwarze verkauften, die Stärkeren die Schwächeren. Sie hat gehört, dass es eine Route über Südafrika an die Ostküste gab, dass viele der Sklaven auch aus dem Landesinneren kamen, nur weiß keiner, aus welchen Ländern. In Burkina Faso hat sie Leute aus dem Tschad getroffen und Worte aus dem Kreolisch ihrer Heimat aufgespürt, mit derselben Bedeutung. Das ist noch kein Beweis. Es ist nur ein Gefühl, dass ihre Vorfahren möglicherweise von dort…?

„Aber solange ich auch suche“, sagt sie. „Ich werde es nie wissen.“

Berliner Notiz-Blog 13. Mai 2008

Ein Buddha aus hellem Sandstein tritt aus dem Dunkel des Raumes. Das ist kein industrieller Mode-Buddha, wie sie in Jeans – und Pulloverläden in den Auslagen stehen. Dieser stammt aus der Stille eines Tempels. Wenn ich abends an der geschlossenen Galerie vorüber gehe, tönt die Stille in meine Gedanken. Ich bleibe dann stehen und werfe einen Blick an dem Buddha vorbei ins Fenster. Ich muss den Blick an der Scheibe abschirmen, um drinnen etwas zu erkennen. Teppiche von magischer Schönheit hängen an den rohen, unverputzten Wänden. Auf den zerkratzten Dielen liegen Rollen, Bündel, wie hingeworfen. Einige sind zerlöchert. Andere existieren nur noch als Fragment. Aber gerade diese zerrissenen, durchlöcherten Reste sind ergreifend. Als habe man die geretteten Teile uralter, geheimnisvoller Schriftrollen vor sich.

Eines Tages brennt drinnen Licht. Bambusröhren klappern an der Klinke. Auf der Galerie erscheint ein drahtiger Mann, die dunklen Haare zu einem Zopf gebunden. Pascal Michaud studierte Sinologie. China hatte Anfang der Neunzigerjahre gerade begonnen, sich dem Westen zu öffnen, als er seine ersten Teppiche auf Flohmärkten und in alten Bauernhäusern im tibetischen Hochland fand und zu sammeln begann.

Er spricht von den Überlieferungen der Teppiche. Die Weberinnen erzählten Faden für Faden, Zeile für Zeile ihren Alltag, ihre Märchen und Sagen und ihren Glauben.

Viele Bücher wurden seither mit den Deutungen der Teppichmuster gefüllt. Pascal Michaud hat sie gelesen und weiß, dass jeder Experte seine eigene Deutung hat. Die Diskussionen darüber ermüden ihn, genauso wie die Händler, die das Charisma der Teppiche nicht sehen, aber viel Geld damit machen wollen. Es ist schwer geworden, noch alte Teppiche zu finden. Das Geschäft mit alter Handwerkskunst blüht.

Die Teppich-Wollen wurden mit reinen Naturfarben gefärbt. Keine Farbcharge glich der anderen, so sehr sich die Färber damals auch darum bemühten. Aber gerade die winzigen Nuancierungen begründen ihre lebendige Ausstrahlung. Im vermeintlich Unvollkommenen liegt das Geheimnis ihrer Schönheit.

Nachsatz 2010: Wenige Monate, nachdem ich Pascal Michaud besucht habe, wich seine Galerie einem Modegeschäft. Wo die Teppiche ausgestellt waren, hängen jetzt ein paar Hosen und Blusen an Fleischerhaken. Das Scheunenviertel entwickelte sich in den letzten zehn Jahren zu einer der beliebtesten Gegenden Berlins. Edel-Läden und kleine, teure Bistros bestimmen mehr und mehr das Bild der engen Straßen, in denen einst die ärmsten Menschen der Stadt ums Überleben kämpften, nicht immer auf legale Weise. Beinahe jedes freie Grundstück wurde mit Wohnhäusern bebaut, in denen teure Lofts zum Verkauf stehen. Internationale Konzerne mit Marken wie Adidas, Boss oder Lacoste verdrängten kleine, individuelle Händler wie Michaud, um an diesem Standort mit einer Filiale präsent zu sein.

Treibstoff der Poesie

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Keine Kalorien-Tabelle verrät, wie viel Energie beim Bücherschreiben verbraucht wird. Ernährungsexperten fächern das Spektrum der menschlichen Tätigkeiten in unterschiedlich anstrengende Beschäftigungen wie Fitnesstraining, Autofahren, Hundeausführen und Fernsehen. Die Poesie kommt darin nicht vor.
Der Schriftsteller sitzt am Schreibtisch. Das sieht leicht aus. Von außen wirkt er relativ unbewegt, und solange man ihn nicht anspricht, sogar entspannt.
Er wirkt, als lebte er von Luft und Duft und gelegentlich einer Handvoll Haselnüssen. Die Künstler selbst tun wenig, diesen Irrtum aus der Welt zu schaffen.
Keiner spricht über die Mühen. Eher lakonisch lassen die Dichter die Schwierigkeiten mit den Worten anklingen. Man ahnt den Ringkampf mit der Sprache. Dass er sie häufig vom Monitor weg, in die Defensive in Richtung Küche treibt, dieses Detail des künstlerischen Prozesses halten sie nicht der Rede wert. Eine Nachfrage offenbart pikante Gewohnheiten.
Die Literaturübersetzerin Elina Kritzokat gesteht, dass manche Schreibunterfangen so bedrohlich scheinen, dass sie sich mit einem extra vollen Magen dafür präpariert. »Man lernt ja schon als Baby, dass Sicherheit sich durch Essen einstellt.«
Es kann nicht verkehrt sein, sich derart zu bevorraten, denn immerhin verschlingt der Kopf zwanzig Prozent unseres gesamten Energiebedarfes. Wissenschaftler behaupten zwar, es spiele dabei keine Rolle, ob jemand viel oder wenig denkt. Dichten würde demnach nicht mehr Energie verbrauchen als Briefesortieren.
Dem widersprechen Berichte wie die von Jens Sparschuh. Er sagt: » Das Schreiben macht mich sehr hungrig, mehr als Gartenarbeit.« Vermutlich haben die Wissenschaftler bei ihren Berechnungen die Kunst außen vor gelassen. Kunst lässt sich eben nicht in Kalorien umrechnen. Es ist bekannt, dass kreative Denkprozesse ziemlich viel Dampf im Kopf erzeugen. Doch woher kommt diese Energie?
Jenny Erpenbeck schleicht hin und wieder zu ihrem geheimen Vorrat an Salzlakritz und quitschsauren Gummis. Tamara Bach zerfetzte ihre Lippen mit Salt & Vinegar-Chips, während sie ihre mehrfach preisgekrönten Jugendromane »Marsmädchen« und »Jetzt ist hier« schrieb. Sogar Richard Wagner, der ein äußerst ambivalentes Verhältnis zur Küche hat, sucht diese gelegentlich am Vormittag auf, um sich einige Röllchen einer deftigen italienischen Salami abzuschneiden, wenn er mal nicht weiter weiß.
Poeten brauchen offenbar starke Geschmacksreize. Wie sollten sie auch Werke komprimierten Lebens schaffen, wenn sie sich von blassen Flocken oder Blättern ernährten? Jenny Erpenbeck drückt es so aus: »Manchmal braucht man etwas Physisches, damit die Gedanken kein Übergewicht bekommen.«
Süße, Säure, der Geschmackskick eben, hilft offenbar, die Kopflast auszutarieren, die kreative Lust zu zügeln.
Für die Literatur zerstören die Autoren ihre Zähne, ihre Haut, den Magen und die Arterien. Vielleicht spielte Peter Rühmkorf auf diese Diskrepanz zwischen Kunst und Gesundheit an, als er sagte: »Wer sich nicht ruiniert, aus dem wird nichts.«

Tanja Dückers bekennt sich öffentlich als Schokoholic. »Schokolade erdet mich«, sagt sie. »Sie verhindert, dass der Geist beim Schreiben völlig in luftige Höhen abdriftet.«
Tanja Dückers macht hedonistischen Shopping-Touren durch die süßesten Läden Berlins und lässt ihre Schokoladentafeln offen auf dem Schreibtisch liegen, mindestens zwei, bevorzugt helle Bitter oder satte Vollmilch, fair gehandelt und beim Fachhändler erworben. Ausführlich informiert sie sich über neue Sorten mit gewagten Gewürzkombinationen und probiert sie alle aus. Dückers genießt und steht dazu. Wenn sie gerade keine Schokolade isst, denkt sie über Schokolade nach. Sie beschäftigt sich mit Sorten, Lagen und Ernten, mit der wirtschaftlichen Situation der Anbauländer und der sozialen Lage der Kakaobauern. Sie studiert Rezepte und Trends und verfolgt den Streit um die Prozentpunkte, ab wann sich eine Schokolade bitter oder halbbitter nennen darf.
Die New Yorker Autorin Lily Brett hat allen Treibstoffen der Künstler abgeschworen und komprimiert den Verzicht auf Zucker, Schmalz, Alkohol und Nikotin, indem sie sich exzessiv mit ihren Ess-Störungen auseinandersetzt. Sie ist das prominenteste Beispiel der neurotischen »hypermodernen Esser«. Lily Brett isst niemals nur des Genusses wegen, sondern um sich mit Mineral –und Ballaststoffen, Vitaminen, Polyphenolen, Omega-3-Fettsäuren und ausreichend Flüssigkeit auszustatten.
Was ist es, das uns im Innersten zusammenhält, im Magen, dem die traditionelle chinesische Medizin das Element Erde und den süßen Geschmack spätsommerlicher Ernten zuordnet? Keine Berufsgruppe scheint so anfällig für Extremernährung wie die der Künstler.
Die junge Autorin Tamara Bach pflegt ein freundschaftliches Verhältnis zu ihrer Küche. Noch. Sie schreibt, raucht, isst und rockt darinnen. Gelegentlich wirft sie dabei Vasen und Teetassen um. Macht ja nichts. Den Laptop hängt sie anschließend zum Trocknen über den Herd.
Doch je reifer die Dichter, desto disziplinierter und bewusster wird ihr Umgang mit den Gefahrenklassen. Sie schätzen deren inspirierende Wirkung hoch und lassen sich nur noch selten vom Mangel an einem Wort willenlos in Richtung Keksdose treiben. Selbst Tanja Dückers beschränkt den Schokoladenkonsum inzwischen auf maximal eine halbe Tafel pro Tag.
Auch Richard Wagner mag neben den erwähnten Salamihäppchen zwischendurch mal ein Stück gute Schokolade mit hohem Kakaoanteil. »Das regt an und belebt. Schreiben ist ja auch eine sinnliche Erfahrung. Das ist aber auch das Einzige, was ich in der Küche mache. Denn ich koche nie.« Das hängt mit seiner persönlichen Geschichte zusammen. Er stammt aus Rumänien, 1987 kam er in die Bundesrepublik. »Anfang der Achtzigerjahre gab es in Rumänien wenig zu essen. In den Restaurants wurde kaum etwas angeboten. Ich musste jeden Tag selber kochen. Das war aufwändig. Als ich nach Deutschland ausgereist bin, habe ich mir geschworen, nie wieder zu kochen.« Heute isst er jeden Tag um die gleiche Zeit in dem kleinen italienischen Bistro in seiner Straße. Nach der Arbeit am Schreibtisch taucht er mit Bauarbeitern, Handwerkern und Angestellten in den Lärm der Straße, schaut den Köchen zu, wie sie Teig kneten und wenden und werfen und blitzschnell belegen. Er wählt sorgfältig aus und lässt sich Zeit für seine Mahlzeit.
Jens Sparschuh schlendert gern abends über den Wochenmarkt. Er betrachtet das Gemüse, prüft es, entwirft ein Abendessen für die Familie. Er passt das Ritual des Essens dem Kreislauf der Natur an und kauft nur saisonales Gemüse. In der Küche, am Herd oder in der Nähe eines Steinofens findet der Dichter die Verbindlichkeit wieder, die sein vagabundierender Geist während der Arbeit aufgibt. »Es ist ja gar nicht wahr, dass wir freien Künstler so frei sind«, sagt Jens Sparschuh. »Da drücken Termine. Du musst heute dahin und morgen dorthin.« Er hat nicht etwa eine Abneigung gegen Ortswechsel an sich. Im Gegenteil. Wie die meisten Schriftsteller empfindet er das Reisen als anregend.
In jedem Fall unterbrechen sie die Rituale des Essens. Wieder muss sich der Dichter dem Frühstücksbuffet in einem Hotel ausliefern, den immer gleichen gummiartigen Käse – und fettigen Wurstsorten, überzuckerten Cornflakes, zerkochten Kompotten und Billigmarmeladen. Wieder bekommt er nach den Lesungen und am Rand der Empfänge nur miese Salzbrezeln zu knabbern und dazu billigen Sekt, selbst, wenn der Bürgermeister spricht. Lesereisen sind meist eine kulinarische Tortur. Der Schriftsteller denkt an den Kräuterquark zu Hause im Kühlschrank, an die Bio-Kartoffeln, die er in der Schale röstet. Er sehnt sich nach einer Gemüsesuppe. Es geht ihm wie schon seinem Kollegen Oscar Wilde vor hundert Jahren: »Ich schwärme für die einfachen Genüsse. Sie sind die letzte Zuflucht der Komplizierten.«
Lily Brett hätte eine Lesereise durch Europa beinahe abbrechen müssen, weil ihre Portionen, die sie von zu Hause voraus geschickt hatte, im falschen Hotel angekommen waren. Tanja Dückers litt auf ihren Studienfahrten durch die osteuropäischen Länder unter dem Mangel an guter Schokolade, bis sie doch noch einige schmackhafte Sorten entdeckte: Polnische Kastanienschokolade und rumänische Karamellpralinen.
Thomas Brussig mag vor allem die italienische Küche. »Ich habe noch nie jemanden mit so viel Genuss essen sehen wie ihn«, erzählt seine Assistentin Kathrin Thienel. »Es ist unbeschreiblich. Seine Augen leuchten. Er sieht so glücklich aus.« Thomas Brussig wollte das Thema nicht selbst besprechen. Also ließ er seine Assistentin von seinen Kochkünsten schwärmen. »Nirgendwo habe ich so einen guten Latte Macchiato getrunken und das will etwas heißen. Ich habe immerhin 18 Jahre lang in Italien gelebt“, erzählt Kathrin Thienel.
Jeden Nachmittag bereite er ihn zu. »Dazu gibt es eine Süßigkeit, ein Stück Kuchen. Zum Arbeiten trinkt er aber lieber Eistee, den er selbst aus grünem Tee, Zitrone und Süßstoff zubereitet.« Zu seinen Ritualen gehört auch die Fastenzeit im Februar. »Da isst er einen ganzen Monat lang nichts. Nicht aus religiösen Gründen, sondern weil es gesund ist.« Auch wenn er hungert, arbeitet er weiter. » Er hält sogar Lesungen. Man merkt ihm nichts an. Er ist äußerst diszipliniert. Lediglich seine Stimme wird etwas schwächer. In dieser Zeit stellt er sich vor, wie es sein wird, wieder zu essen und zu kochen. Er liest Rezepte und Speisekarten dann wie einen Roman.«

Berliner Notiz-Blog 18. April 2008

Die zwei Damen im Bus nach der Heerstraße stecken die Köpfe zusammen. Sie tragen helle Mäntel und Hüte. Der Bus ist voll. Sie stehen am Fenster. Sie halten sich mühsam fest. Sie reden über Kleider, die sie in den Läden in der Wilmersdorfer probiert haben.

Auf der anderen Straßenseite ziehen die Plakate für und gegen den Erhalt des Flughafens Tempelhof vorüber. Ein Plakat der Flughafen-Gegner zeigt eine junge Frau mit einem Kind auf dem Arm.

„Det is doch jar keene Deutsche. Det is doch eindeutig ne Ausländerin. Wat hat die denn mit Tempelhof zu tun?“ Die andere nickt zustimmend. Sie schauen der jungen Frau auf dem Bild schweigend nach, während der Bus weiter die Neue Kant hoch zieht.