Kathrins Notiz-Blog 23. März 10

© Illustration Liane Heinze

Beim Frühstück sagte Leon, dass er für die Retro-Bike-Ausstellung am kommenden Wochenende meine Hilfe braucht. Ausgerechnet an diesem Wochenende fliege ich mit Kolja zur SISUSTA! nach Finnland.  Die SISUSTA! ist eine Einrichtungsmesse. Leon schaute mich an, als hätte ich gesagt, dass ich bei Kolja einziehe. Er stimmte ein Geheul an, steckte sein Croissant in den Kaffee und lief auf und ab. Er erinnerte mich an den Zyklopen aus dem alten Sindbad-Film, nachdem Sindbad ihm einen Pfeil in die Ferse gerammt hat.

Im Türrahmen blieb er stehen, die Stirn gegen das Holz, als hätte er sein Horn dort hinein gestoßen und käme jetzt nicht mehr frei. „Das geht so nicht“, sagte er. Er war völlig verzweifelt. Ich fühlte mich schuldig. Ich nahm seine Hand. Ich spürte seinen warmen Atem.

„Jeder denkt nur an seinen eigenen Arsch“, klagte er.

„Diese Messe“, begann ich. „Sie ist sehr wichtig, verstehst du? „Im Hinblick auf…meine Selbständigkeit.“

Er blieb im Türrahmen stecken. Die Ausstellung sei die wichtigste der Branche. Er könne dort die Weichen für die Zukunft stellen. Schließlich wolle er nicht ewig in der Garage hocken und billige Stadträder flicken. Er tue das alles nur für uns, für mich.

Ich erklärte ihm meinen Plan, ein Studium zu beginnen und nebenbei schon ein eigenes Büro aufzubauen, warb um sein Verständnis für den Zeitdruck, unter dem ich mit fast vierzig Jahren stehe, rechtfertigte meinen Anspruch auf ein eigenes, unabhängiges Leben. Ich redete und redete. Ich konnte nicht versprechen, dass ich es für uns tat. Ich würde Zeit brauchen, seine Unterstützung, vielleicht hin und wieder sein Geld.

Mein Schuldgefühl wächst stündlich.

Kathrins Notiz-Blog 15. März 10

© Illustration Liane Heinze

Wenn ich meine linke Wange auf den Schreibtisch lege, blicke ich auf die Müllcontainer im Hof und Sträucher, die sich auf die Explosion im April vorbereiten. Dahinter die graue Fassade eines Hauses aus den Fünfzigerjahren. Auch die Gardinen stammen aus den Fünfzigerjahren. Als wäre die Zeit stehengeblieben. Ich schaue da rüber und erwarte eine Hausfrau in Kittelschürze, die ihren Staubwedel ausschüttelt oder einen Gummibaum ins Fenster stellt.

Lege ich meine rechte Wange auf den Tisch, fällt mein Blick auf den eleganten Fuß eines Dreiundzwanzig-Zoll-Macintoshs. Vor und hinter mir arbeiten Architekten. Wenn wir in die Kantine gehen, um Artischockenherzen zu zerlegen oder Meeresfrüchten aufzuspießen, fürchte ich, dass jemand fragt, was ich früher gemacht habe. Soll ich ihnen erzählen, dass ich im letzten Sommer Erdbeeren gepflückt, im Sommer davor im Tiergarten die Beete gesäubert und noch davor in einem Teeladen gearbeitet habe? Zum Glück fragt niemand. Sie haben immer sehr viel von sich selbst zu erzählen.

Gestern war Leon noch in der Garage, als ich nach Hause kam. Er arbeitete an einem roten Rennrad. Er knurrte, als ich ihm von Koljas Entwurf eines Wohnhauses erzählte, in dem ich den späteren Bewohnern bei der Gestaltung der Innenräume helfen kann. Koljas Konzept sieht vor, dass die Bewohner gemeinsam mit uns planen, wie viele Zimmer sie in welcher Größe brauchen, so dass ganz individuelle Wohnungen entstehen. Er möchte verstellbare Trennwände einsetzen, so dass die Familien ihre Wohnungen später wieder ändern können, zum Beispiel, wenn die Kinder ausziehen.

„Wieder so eine Urban-Village-Masturbation für Schwaben?“ sagte er.

„Das werden keinen Eigentumswohnungen. Es ist eine Ausschreibung vom Senat.“

Leon fluchte über eine Schraube. Seine Lippen waren schmal.

„Ist noch etwas zu essen da?“, fragte ich.

„Nein“, sagte Leon.

„Aber jetzt haben die Läden zu“, sagte ich. „Es ist neun.“

Im Kühlschrank lagen noch drei Tomaten und ein paar Scheiben Salami. Spaghetti waren auch noch da. Und eine Zwiebel. Käse wäre toll. Naja. Ich machte mich an die Arbeit. Ich hatte Hunger.

Als das Essen fertig war, rief ich Leon an. Ich naschte von der Soße und wartete. Es war nach zehn. Ich rief Leon wieder an. Ich begann zu essen. Als Leon endlich kam, warf er seine rote Mütze so heftig auf den Küchentisch, dass die Kerze ausging. Er pappte die Locken in die Stirn und spülte sich die Hände. Er bedankte sich nicht dafür, dass ich wieder mal gekocht hatte. Er schaute mich nicht an. Als sein Teller leer war, sagte er: „Gute Soße.“

Kathrins Notiz-Blog 20. Februar 10

© Illustration Liane Heinze

Jolanda hat angerufen. Sie bittet mich vorbei zu kommen. Die Waschmaschine sei kaputt gegangen und Sören sei langweilig geworden. Ich sagte ihr, wo sie die Telefonnummer des Hausmeisters findet und dass sie jederzeit auch zu uns kommen könne.

„Ist so weit weg“, maulte sie. Ich recherchierte auf Google Maps. Leons Wohnung liegt zirka 700 Meter außerhalb des Reviers, das Jolanda nur unter zwingenden Umständen verlässt, wenn sie ein Amt aufsuchen muss zum Beispiel oder mit der Klasse ein Museum oder eine Gedenkstätte besichtigt.

Kathrins Notiz-Blog 18. Februar 10

© Illustration Liane Heinze

Während meine Bewerbungen an Möbelhäuser und Innenarchitekten durch das Faxgerät rutschten, sah ich Leon zu, wie er das Eis vor der Garage weg hackte. Seine rote Mütze saß wie ein Zwergenhut auf seinen Locken.

Am Tag zuvor hatte er Ersatz für den abgebrochenen Zahn bekommen. Das erste Mal habe ich ihn gefragt, was mit dem Zahn passiert ist.

„Nichts“, sagte er. „Er ist abgebrochen.“

„Aber wie?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich wollte ich eine Schraube damit lockern.“

Wenn Leon mir ausweicht, ist es wie auf diesen Bildern aus der Zeit nach dem Krieg, auf denen Menschen in Wohnungen zu sehen sind, denen eine Wand fehlt. Jeder kann sehen, wie sie ihre Betten schütteln und Strumpfhalter überziehen. Wenn Leon mir ausweicht, ist es, als bräche eine Wand in meinem Herzen weg, so dass der Wind hindurch bläst und alle Leute meinen nackten Schmerz sehen können.

Das Telefon klingelte. Ein Mann meldete sich. Seine Stimme klang jung und distanziert. Sie seien drei Architekten und zwei Innenarchitekten in einem gemeinsamen Büro und wenn ich wolle, könne ich vorbei kommen und es mir ansehen.

Ich stürzte mit der Nachricht in den Hof. Leon war völlig aus dem Häuschen. „Siehst du, es hat geklappt. Jetzt geht es los.“ Er nahm die rote Mütze ab und pappte sich die Locken in die Stirn. Er strahlte mit seiner kompletten Zahnreihe. Ich küsste ihn und leckte seine Zähne.

Der Kunstzahn fühlt sich anders an, dichter und irgendwie auch wärmer. Ich werde nie erfahren, was mit seinem Zahn passiert ist. Ich werde niemals alles von ihm wissen.

Kathrins Notiz-Blog 28. Januar 10

© Illustration Liane Heinze

Ich habe den Wandschirm hinter das Schlagzeug gestellt. Die gläsernen Fischschuppen schimmern in den Tiefen der Meere und Seen, vom Türkis der Côte d’Azur und durchscheinendem Aquamarin, dem fabulösen Goldflitter der Brandenburger Waldseen, wenn die Sonne in das Plankton scheint, bis zum Graphit der Ostsee.

„Ich wusste es.“ Leon stand in der Tür. Nichts hatte er gewusst. Er war überrascht. Er zog einen Stiefel aus, dann trat er mit dem restlichen Stiefel ins Zimmer, blieb stehen, schniefte. Er roch nach Winter, nach kaltem Metall. „Ich finde, wir sollten ihn vor das Bett stellen. Dann sehen wir ihn morgens beim Aufwachen“, sagte er. Also trugen wir den Wandschirm zwischen Bett und Fenster.

„Los, wir probieren ihn aus.“ Er riss sich den Stiefel und die Sachen vom Körper und zog mich aufs Bett. Er roch nach Schweiß. Ich hatte Gänsehaut. Er setzte sich mit dem Rücken gegen die Fischschuppen. Durch meine geschlossenen Lider sah ich das Graphitblau. Es war, als ob wir in der Ostsee trieben, ohne Halt. Die Schuppen klapperten im Wind. Die Wellen klatschten gegen uns. Es schmerzte. Es war ein süßer Schmerz. Und dann lagen wir erschöpft auf einer Sandbank und kicherten, weil es so gut war.