Kathrins Notiz-Blog 15. März 10

© Illustration Liane Heinze

Wenn ich meine linke Wange auf den Schreibtisch lege, blicke ich auf die Müllcontainer im Hof und Sträucher, die sich auf die Explosion im April vorbereiten. Dahinter die graue Fassade eines Hauses aus den Fünfzigerjahren. Auch die Gardinen stammen aus den Fünfzigerjahren. Als wäre die Zeit stehengeblieben. Ich schaue da rüber und erwarte eine Hausfrau in Kittelschürze, die ihren Staubwedel ausschüttelt oder einen Gummibaum ins Fenster stellt.

Lege ich meine rechte Wange auf den Tisch, fällt mein Blick auf den eleganten Fuß eines Dreiundzwanzig-Zoll-Macintoshs. Vor und hinter mir arbeiten Architekten. Wenn wir in die Kantine gehen, um Artischockenherzen zu zerlegen oder Meeresfrüchten aufzuspießen, fürchte ich, dass jemand fragt, was ich früher gemacht habe. Soll ich ihnen erzählen, dass ich im letzten Sommer Erdbeeren gepflückt, im Sommer davor im Tiergarten die Beete gesäubert und noch davor in einem Teeladen gearbeitet habe? Zum Glück fragt niemand. Sie haben immer sehr viel von sich selbst zu erzählen.

Gestern war Leon noch in der Garage, als ich nach Hause kam. Er arbeitete an einem roten Rennrad. Er knurrte, als ich ihm von Koljas Entwurf eines Wohnhauses erzählte, in dem ich den späteren Bewohnern bei der Gestaltung der Innenräume helfen kann. Koljas Konzept sieht vor, dass die Bewohner gemeinsam mit uns planen, wie viele Zimmer sie in welcher Größe brauchen, so dass ganz individuelle Wohnungen entstehen. Er möchte verstellbare Trennwände einsetzen, so dass die Familien ihre Wohnungen später wieder ändern können, zum Beispiel, wenn die Kinder ausziehen.

„Wieder so eine Urban-Village-Masturbation für Schwaben?“ sagte er.

„Das werden keinen Eigentumswohnungen. Es ist eine Ausschreibung vom Senat.“

Leon fluchte über eine Schraube. Seine Lippen waren schmal.

„Ist noch etwas zu essen da?“, fragte ich.

„Nein“, sagte Leon.

„Aber jetzt haben die Läden zu“, sagte ich. „Es ist neun.“

Im Kühlschrank lagen noch drei Tomaten und ein paar Scheiben Salami. Spaghetti waren auch noch da. Und eine Zwiebel. Käse wäre toll. Naja. Ich machte mich an die Arbeit. Ich hatte Hunger.

Als das Essen fertig war, rief ich Leon an. Ich naschte von der Soße und wartete. Es war nach zehn. Ich rief Leon wieder an. Ich begann zu essen. Als Leon endlich kam, warf er seine rote Mütze so heftig auf den Küchentisch, dass die Kerze ausging. Er pappte die Locken in die Stirn und spülte sich die Hände. Er bedankte sich nicht dafür, dass ich wieder mal gekocht hatte. Er schaute mich nicht an. Als sein Teller leer war, sagte er: „Gute Soße.“

Kathrins Notiz-Blog 20. Februar 10

© Illustration Liane Heinze

Jolanda hat angerufen. Sie bittet mich vorbei zu kommen. Die Waschmaschine sei kaputt gegangen und Sören sei langweilig geworden. Ich sagte ihr, wo sie die Telefonnummer des Hausmeisters findet und dass sie jederzeit auch zu uns kommen könne.

„Ist so weit weg“, maulte sie. Ich recherchierte auf Google Maps. Leons Wohnung liegt zirka 700 Meter außerhalb des Reviers, das Jolanda nur unter zwingenden Umständen verlässt, wenn sie ein Amt aufsuchen muss zum Beispiel oder mit der Klasse ein Museum oder eine Gedenkstätte besichtigt.

Kathrins Notiz-Blog 18. Februar 10

© Illustration Liane Heinze

Während meine Bewerbungen an Möbelhäuser und Innenarchitekten durch das Faxgerät rutschten, sah ich Leon zu, wie er das Eis vor der Garage weg hackte. Seine rote Mütze saß wie ein Zwergenhut auf seinen Locken.

Am Tag zuvor hatte er Ersatz für den abgebrochenen Zahn bekommen. Das erste Mal habe ich ihn gefragt, was mit dem Zahn passiert ist.

„Nichts“, sagte er. „Er ist abgebrochen.“

„Aber wie?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich wollte ich eine Schraube damit lockern.“

Wenn Leon mir ausweicht, ist es wie auf diesen Bildern aus der Zeit nach dem Krieg, auf denen Menschen in Wohnungen zu sehen sind, denen eine Wand fehlt. Jeder kann sehen, wie sie ihre Betten schütteln und Strumpfhalter überziehen. Wenn Leon mir ausweicht, ist es, als bräche eine Wand in meinem Herzen weg, so dass der Wind hindurch bläst und alle Leute meinen nackten Schmerz sehen können.

Das Telefon klingelte. Ein Mann meldete sich. Seine Stimme klang jung und distanziert. Sie seien drei Architekten und zwei Innenarchitekten in einem gemeinsamen Büro und wenn ich wolle, könne ich vorbei kommen und es mir ansehen.

Ich stürzte mit der Nachricht in den Hof. Leon war völlig aus dem Häuschen. „Siehst du, es hat geklappt. Jetzt geht es los.“ Er nahm die rote Mütze ab und pappte sich die Locken in die Stirn. Er strahlte mit seiner kompletten Zahnreihe. Ich küsste ihn und leckte seine Zähne.

Der Kunstzahn fühlt sich anders an, dichter und irgendwie auch wärmer. Ich werde nie erfahren, was mit seinem Zahn passiert ist. Ich werde niemals alles von ihm wissen.

Kathrins Notiz-Blog 28. Januar 10

© Illustration Liane Heinze

Ich habe den Wandschirm hinter das Schlagzeug gestellt. Die gläsernen Fischschuppen schimmern in den Tiefen der Meere und Seen, vom Türkis der Côte d’Azur und durchscheinendem Aquamarin, dem fabulösen Goldflitter der Brandenburger Waldseen, wenn die Sonne in das Plankton scheint, bis zum Graphit der Ostsee.

„Ich wusste es.“ Leon stand in der Tür. Nichts hatte er gewusst. Er war überrascht. Er zog einen Stiefel aus, dann trat er mit dem restlichen Stiefel ins Zimmer, blieb stehen, schniefte. Er roch nach Winter, nach kaltem Metall. „Ich finde, wir sollten ihn vor das Bett stellen. Dann sehen wir ihn morgens beim Aufwachen“, sagte er. Also trugen wir den Wandschirm zwischen Bett und Fenster.

„Los, wir probieren ihn aus.“ Er riss sich den Stiefel und die Sachen vom Körper und zog mich aufs Bett. Er roch nach Schweiß. Ich hatte Gänsehaut. Er setzte sich mit dem Rücken gegen die Fischschuppen. Durch meine geschlossenen Lider sah ich das Graphitblau. Es war, als ob wir in der Ostsee trieben, ohne Halt. Die Schuppen klapperten im Wind. Die Wellen klatschten gegen uns. Es schmerzte. Es war ein süßer Schmerz. Und dann lagen wir erschöpft auf einer Sandbank und kicherten, weil es so gut war.

Kathrins Notiz-Blog 26. Januar 10

© Illustration Liane Heinze

Froschkinn schaukelte die Luft zwischen Unterlippe und Kinn, während sein blasser, dicker Zeigefinger das Rädchen der Maus traktierte. Der Beruf heißt: Innenarchitekt. Froschkinn sagte, dass es keine Maßnahme gibt. Mit einem leisen Pfeifen entwich die Luft aus seinem Mundbeutel. Sein Kinn war wieder platt wie ein Fahrradreifen. Sein Zeigefinger lag jetzt reglos auf der Maus. Er blickte ununterbrochen auf den Monitor, als fürchte er, dass unversehens doch noch eine Maßnahme aufblinken und ihm Arbeit verursachen könnte.

„Wie kann ich Innenarchitektin werden?“ Ich wollte so schnell nicht locker lassen. Ich dachte an Leon, der niemals locker lässt. Vergangenen Herbst zum Beispiel waren wir in einer Gegend gelandet, die so finster war wie Draculas Rachen. Als wir endlich eine Haltestelle ertastet hatten, weigerte sich der Fahrer unsere Räder mitzunehmen. Dabei war der Bus leer. Wir waren die letzten Ausflügler, die zurück in die Stadt wollten. Eine halbe Stunde lang hatte Leon auf den Busfahrer eingeredet. Seine Argumentation hatte zivilen Ungehorsam, die Verkehrsopfer auf den Brandenburger Straßen, Nazis und couragierte Widerstandskämpfer eingeschlossen, bis der Busfahrer endlich nachgegeben hatte, stolz darauf, zu den Widerstandskämpfern gegen den Faschismus zu gehören.

„Sie haben Berufserfahrungen als Verkäuferin, Callcenter-Agentin, gärtnerische Hilfskraft und Putzfrau“, las Froschkinn und blähte sich wieder auf. „Bunt.“ Das Wort entwich ihm kaum hörbar mit der Luft. Es klang wie ein Aufstoßen.

Ich nahm mir vor, erst von dem Stuhl aufzustehen, wenn er eine Maßnahme für mich gefunden hätte. Aber wie lange könnte das dauern? Zwei Stunden? Bis zu dem Moment, in dem er den Computer endlich ausschalten und mich vielleicht einmal ansehen würde? Ich hatte Zweifel, das durchzuhalten. Ich wollte raus. So schnell wie möglich. Wie kalt es auch immer war. Selbst fünfzehn Grad Frost waren leichter zu ertragen als der Mief bei Froschkinn.

„Was raten sie mir?“

„Wie gesagt: Wir haben da nichts im Angebot.“ Es war wie in einem Gemüseladen in der DDR.

„Ich könnte mich selbständig machen.“

Froschkinn nickte langsam. „Bringen sie einen Business-Plan. Dann reden wir darüber. Wäre eine Maßnahme.“

Business-Plan. Idiot! Ich ärgerte mich, dass ich wieder nicht aufmüpfig gewesen war. Leon hatte inzwischen dreimal angerufen. Ich rief ihn zurück. Er erzählte aufgeregt, dass er in einem großen Einrichtungshaus war, dass er mit dem Chef über mich gesprochen habe, dass der begeistert sei und mich kennenlernen wolle. „Geh am besten gleich dahin. Und fordere ein gutes Gehalt.“

Das Möbelgeschäft befand sich in den oberen Stockwerken eines Stalinbaus in der Karl-Marx-Allee. Kurz bevor ich eintrat, warf ich einen flüchtigen Blick in das Schaufenster. Als ich vor dem Lift stand, zögerte ich, nach oben zu fahren. Etwas in dem Fenster hatte mich gefangen genommen. Ich ging zurück. Es war so etwas wie ein Raumteiler. Seine Struktur ähnelte Fischschuppen. Sie leuchteten in Grün – und Blautönen, ich konnte nicht genau erkennen, ob die Fischhaut aus Glas oder Plastik war.

Ich fuhr mit dem Lift nach oben. Der Aufzug öffnete sich. Ich befand mich in einer schallgedämpften Einrichtungswelt. Es war licht wie in der Kugel des Fernsehturms. Musik von Air schwebte über allem.

Auf dem weichen, trockenen Teppich trat ich in den Raum, schritt zwischen Sofas und riesigen Vasen hindurch. Eine schlanke Frau blickte streng von ihrem Schreibtisch auf. Sie fragte, ob ich Kaffee oder grünen Tee möchte, oder nur ein Wasser. Sie verschwand hinter einer glitzernden Metallic-Bar und setzte die Espresso-Maschine in Gang. Ein dünner Mann schlenderte auf mich zu. „Kann ich helfen?“ Er hatte Mühe mit einer Haarsträhne, die ihm immer wieder über die Brauen rutschte. Ich sagte, dass ich mit dem Filialleiter verabredet bin. Er musterte mich. „Der ist nicht da. Er kommt heute auch nicht mehr. Worum geht es?“ Die Espresso-Maschine hinter uns setzte mit einem Höllenlärm an, Crema auf mein Tässchen zu pressen. Ich berichtete von dem Gespräch zwischen Leon und dem Filialleiter. Der Mann grinste. Er wurde rot. Leon hatte gar nicht mit dem Chef gesprochen, sondern mit ihm, dem Assistenten. Der Assistent sagte, dass es sich um ein Missverständnis handeln müsse. Sie suchten gar niemanden. „Schauen Sie doch wieder vorbei“, sagte er.

Ich erkundigte mich bei der Frau nach dem Preis für die Fischschuppen-Trennwand. Vierhundertneunundfünfzig Euro. Ich trank den Espresso und überlegte, ob ich sie sofort kaufe oder noch eine Nacht darüber schlafe.

„Wie hast du den Laden entdeckt?“, fragte ich Leon.

„Im Vorbeifahren. Die hatten gute Sachen im Fenster. Da war so ein gläsernes Ding…“

„Die Fischschuppen?“

„Genau.“

„Magisch, nicht? Hast du sie gekauft?”

„Ich bin doch nicht verrückt. Ich möchte nicht wissen, was die kosten.”

Ich schaute auf meinem Konto nach. Ich würde meinen Dispo bis zum Anschlag ausreizen. Es geht also.