Das Orakel

Zum ersten Mal besuche ich den Salon tz-p. Diesmal findet er in der Galerie F92 am Teutoburger Platz statt, wo Dorit Trebeljahr und Anton Schwarzbach, die Gastgeber des Salons und Herausgeber des Magazins „Prolog“ gemeinsam mit anderen Künstlern gerade ausstellen.

Es wird musiziert. Gedichte und Prosatexte werden gelesen und die Lieblingsdrinks der Gäste gemixt. Die Stimmung ist heiter. Reinhold Gottwald von der Galerie Walden verteilt Kärtchen mit Orakelsprüchen. Auf meiner Karte steht: Deine Zukunft ist deine Vergangenheit. Ich erschrecke. Das klingt nach Sterben. Ich will nicht sterben, denke ich.

Das sei nicht so gemeint. Man könne diesen Satz durchaus auch anders lesen, beschwören mich die anderen. Aber ich bleibe beunruhigt.

Später werden Kärtchen mit Fragen verteilt. Meine Frage lautet: Wo ist Schluss? Das hat doch wieder mit dem Tod zu tun! Wo ist Schluss? Im Sarg. Auf dem Friedhof. Der Gastgeber sagt, die Frage richte sich nicht auf einen Ort, sondern darauf, wie weit ich gehen würde. „Zum Beispiel. Du bist bereit, Geld für Kunst auszugeben, aber du würdest niemanden dafür umbringen.“ Ja. Ja. Verstehe. Ich schaue auf den Satz und weiß nicht, wie weit ich gehen würde. Ich denke an Gräber.

Nach dem Salon sagt Anton Schwarzbach, dass ihm leid tut, dass die Karten mich so erschreckt haben. „Es liegt nicht an den Fragen, sondern an mir“, sage ich. „Ich denke einfach zu viel über den Tod nach. Ich muss meine Gedanken besser kontrollieren.“

Als ich nach Hause komme, finde ich in meiner Post eine Todesanzeige. Ein Freund, der Maler Clemens Gröszer, ist vor wenigen Tagen gestorben.

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Clemens Gröszer, Selbstporträt

http://rnd.rewesh.de/schrader/article.php?sub=portrait&article=1

 

Was israelische, palästinensische und deutsche Jugendliche verbindet


Zwei preisgekrönte Jugendprojekte der Europeans for Peace beschäftigen sich mit Vertreibung, Flucht und dem Menschenrecht auf Asyl

Foto: ⓒ Andrea Vollmer

Es ist auch heute noch möglich, 15 – bis 16jährige Jugendliche mit dem Erinnern an den Holocaust zu berühren. Der Brückenschlag von der Vergangenheit in die Gegenwart gelingt, wenn die alten Fragen vor einem neuen Hintergrund gestellt werden.

Das sind die besten der vielen guten Nachrichten von der diesjährigen Preisverleihung des Jugendprogramms Europeans for Peace der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ).

Fünf der dreiunddreißig geförderten Projekte zum Thema „Menschenrechte in Vergangenheit und Gegenwart“ im Schuljahr 2011/12 erhielten am 7. Januar 2013 in Berlin einen Award der Stiftung EVZ, darunter zwei deutsch-israelische Jugend-Projekte. Das Besondere am „Borderline-Remix“, der Hip-Hop-Oper für Grenzgänger und blinde Passagiere“ und dem Tanzstück „Exodus Reloaded“ ist, dass beide Projekte die Erfahrungen und Lehren aus dem Holocaust und der

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Die Go-to-Area

Unter dem Titel „Die Go-to-Area“ erschienen im FREITAG vom 24. Januar 2013 vier Texte, in denen Autoren erzählten, warum sie gern in Einkaufszentren gehen. Meine Einkaufscenter-Episode heißt:

Bin ich einsam?

Foto ⓒ Andrea Vollmer

Nach anstrengenden Bürotagen erhole ich mich im Einkaufszentrum. Es ist hell und warm und bis neun Uhr geöffnet. Die Läden interessieren mich weniger. Ich möchte unter Menschen sein.
Am liebsten sitze ich mit einem Kaffee auf der Bank gegenüber der Rolltreppe und beobachte die Leute. Eines Tages entdeckte mich Hannes, der Mann meiner Freundin Katharina. „Kaufst du HIER ein?“ Er verzog angewidert das Gesicht. „Nie! Ich habe mich gerade verlaufen!“, stammelte ich schnell und vergaß zu fragen, was er hier eigentlich machte. Er schleppte eine volle Fahrradtasche. An der anderen Hand hielt er seinen kleinen Sohn.

Ich dachte daran, wie mir Katharina im Sommer vom Campingurlaub mit den zwei Kindern erzählt hatte und fragte mich plötzlich, ob ich einsam war. Ich saß am Abend mit einem Pappbecher Kaffee vor der Rolltreppe in einem Einkaufszentrum. Auf einmal wirkte das Licht künstlich, der Ort banal und hässlich. Ich schämte mich ein bisschen.

Eines Tages blickte ich gerade von dem antiquarischen Büchertisch im Untergeschoss des Einkaufszentrums auf, als der Schriftsteller K. auf der anderen Seite des Tisches schon fast vorbeigelaufen war. Er ist mir sympathisch, seit ich ihn mal interviewt habe. Er hatte mich nicht bemerkt. Und falls er mich doch gesehen hatte – immerhin lesend. Zum Glück wusste er nicht, dass ich fast jeden Tag hier bin.

Eine Woche später fuhr K. einige Stufen vor mir die Rolltreppe hinauf ins Obergeschoss. Ich traute mich nicht, ihn anzusprechen, obwohl auch er nach dem Gesetz des Zufalls ziemlich oft hier sein musste, es also keinen Grund gab, sich voreinander zu schämen.

Seit ich weiß, dass ich K. hier treffen könnte, genieße ich meine Feierabende im Einkaufszentrum noch mehr. Ich befinde mich schließlich in guter Gesellschaft. Auf der Bank vor der Rolltreppe, halb bedeckt von fleischigen Zimmerpflanzen, warte ich darauf, K. wiederzusehen. Ich habe mir vorgenommen, mein Versteck zu verlassen und ihn anzusprechen, wenn er das nächste Mal kommt. Aber war schon lange nicht mehr hier.

Berliner Notiz-Blog, 29. Juni 2011

Gift gegen griechische Demonstranten

Von meinem Schreibtisch aus schaue ich zu, wie in Athen Demonstranten mit Gas – und Atemmasken und nassen Tüchern vor dem Gesicht auf der Flucht vor den Polizeigeschwadern auseinander stieben. Die Kamera zittert, man sieht ein Chaos von Beinen, den Himmel, dichte, graue Wolken – der Pavillon des Fernsehsenders wurde umgerissen.

Es ist 15:34. Gerade hat das Parlament in Athen den Sparmaßnahmen zugestimmt. Die Kamera taucht aus dem Chaos wieder auf, hält auf einen jungen Mann mit hellbraunen, langen Haaren. Er hat ein Handtuch vor das Gesicht gepresst. Er atmet schwer und hält sich an irgendetwas fest, den Blick nach unten gerichtet. Er muss sich sammeln, konzentrieren, damit er weiterlaufen kann, trotz der Übelkeit.

Rauchschwaden steigen über den Straßen auf. Leute rufen, schreien, husten. Dazwischen, wechselnd in Französisch und Englisch, ein Aufruf an alle Zuschauer, die griechischen Botschaften in allen Ländern anzurufen, um gegen den Gifteinsatz zu protestieren. Die Demonstranten seien unbewaffnet. Sie sind tatsächlich unbewaffnet. Es sind ganz normale Leute, in Sommerkleidung. Manche tragen einen Rucksack. Eben sah die Demonstration von oben noch aus wie Markttreiben.
Der Sprecher hat Probleme mit der Stimme. Wir machen weiter, sagt er. Wir werden siegen.

Neben dem Film läuft ein Chat. Menschen in verschiedenen Sprachen tauschen Botschaften aus, kurze, wirre Gesprächsfetzen. Verschwörungstheorien tauchen auf. Leute streiten über Sozialismus und Kommunismus. Jemand sagt, Merkel sei doch kommunistisch erzogen und daher käme das Unglück.

Die Bilder kommen nicht aus Libyen oder aus einem anderen Land eines anderen, durchgeknallten Diktators. Sie kommen aus Athen. In Athen stand die Wiege Europas. Hier fand die Antike statt. Die Demokratie wurde von den Athenern erfunden. Nicht ganz die Demokratie, auf die wir einmal so stolz waren, denn damals in der Antike waren noch keine Frauen dabei.

Selten in meinem Leben haben mich Bilder so schockiert. Das letzte Mal am 11. September. Das hier ist wieder ein 11. September. Nichts wird so bleiben wie es ist. Eine Welt geht gerade zugrunde. Und es gibt tatsächlich Idioten, die glauben, Europa wäre gerettet, weil das griechische Parlament dem Sparpaket zugestimmt hat.

Berliner Notiz-Blog 25. Mai 2011

Am 21. Mai 2011 in Berlin                                                                           Foto: Johanna Martin

Vor einigen Wochen reiste eine Französin nach Berlin, um sich mit linken, politischen Gruppen zu vernetzen. Sie war kurz zuvor in Frankreich dafür ausgezeichnet worden, gemeinsam mit anderen Arbeitslosen ein Web-Radio auf die Beine gestellt zu haben.
In Berlin suchte sie nach einer Demonstration gegen Sozialabbau. Die einzige Demo, die sie schließlich fand, war die der Hartz-IV-Empfänger, die sich jeden Montag an der Weltzeituhr versammeln. Maxi Leinkauf berichtete im Freitag über diese armselige Truppe.

http://www.freitag.de/alltag/1110-sisyphos-vom-alex

Die Französin war erstaunt und ein bisschen enttäuscht, dass in Berlin nichts läuft, obwohl doch inzwischen in so vielen europäischen Ländern demonstriert wird: In Frankreich, in Spanien, in Griechenland….

Plötzlich bewegt sich etwas. Letzten Samstag schickte mir eine Freundin über Facebook die Einladung zu einer Demonstration am Brandenburger Tor. Die Bewegung -Wahre Demokratie Jetzt- aus Spanien hatte diese Demo an zwei Tagen organisiert. Die Zahl der Teilnehmer verdoppelte sich von Freitag zu Samstag. He, und da waren plötzlich Schilder wie dieses auf dem Foto zu sehen! Die Bewegung „Wahre Demokratie Jetzt“ organisiert in vielen europäischen Städten Demonstrationen. Jeden Tag, erstaunlich häufig in Leipzig, hoffentlich bald wieder in Berlin, der Geburtsstadt des geistigen Urgroßvaters der Bewegung, Stéphane Hessel, der seine Streitschrift „Indignez-vous“ (Empört Euch) vor allem an junge Menschen wie diese richtete, die nun „Yes, we camp!“ überall für ihre Rechte auf die Straße gehen.