Berliner Notiz-Blog 21. Mai 2011

ein junger Amerikaner im U-Bahnhof Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte

Ich kann Lars von Trier nicht mehr leiden. Ich mag nicht Männer, die sich wie pubertierende Jungs benehmen, sobald sie zwischen zwei schönen Frauen sitzen. Kirsten Dunst (während der Pressekonferenz zu seiner Linken, Charlotte Gainsbourgh saß rechts von ihm) rückte sichtbar von ihm ab und hat wohl einen Moment überlegt, ob sie aufstehen und gehen sollte, blickte sich um, ob andere an der Tafel den gleichen Impuls verspüren.

Ich habe mir die Pressekonferenz nicht in erster Linie wegen der Nazi-Kiste angeschaut, sondern weil ich mich gerade mit Melancholie beschäftige und wissen wollte, ob von Trier etwas zum Titel seines Films gesagt hat.

Ist es gerechtfertigt, einen Erwachsenen, der den pubertierenden Provokateur als Kunst-Performer verkaufen will, von der Côte d‘ Azur zu verbannen?

Ja! Ja! Ja!

 

Weil von Triers Statement wie ein Elektroschock für uns ist, die wir tagtäglich mit den Folgen der Nazizeit leben müssen. Sie ist ein Schlag für die Kinder der Holocaust-Überlebendenden, die von ihrer Familiengeschichte stark belastet sind, ebenso wie für die Enkel, die noch immer mit den Traumen ihrer Eltern und Großeltern leben müssen. Sie trifft alle Kinder, deren Mütter und Väter als Kinder durch den Krieg und seine Folgen schwer verletzt wurden.

Die Generation der Enkel, meine Generation, ist die erste, die diese Familiengeschichten bewusst reflektiert. Vielleicht gelingt es uns, den Teufelskreis zu druchbrechen. Aber noch müssen wir täglich damit fertig werden.

Lars von Trier soll zu Hause vor dem Fernseher bei einem Bier bleiben, auch zwei, so viel er will, um mit sich selbst auf seine deutschen Wurzeln anzustoßen. Meinetwegen. Aber er soll uns mit seinen öffentlichen Auftritten verschonen.

Eure Kathrin

 

Berliner Notiz – Blog 4. September 2010

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Berlin. Oranienstraße 25.

Schwer zu sagen, wie alt sie ist. Sie trägt ein braun gestreiftes Kopftuch und über die ausladenden Hüften einen schwarzen Mantel, der bis zu den Knöcheln reicht.

Sie drängelt mit einem Plastiksack voller Fladenbrote zwischen den tanzenden Frauen und der Tafel hindurch und verteilt das Brot zwischen den Käseplatten und den Schälchen mit Humus, Tomatensalat und Oliven. Ihre Hände sehen jung aus, fast kindlich.

Ich bin ihr im Weg. „Was schreibst du?“ Ein neugieriger, zugleich skeptischer Blick fällt auf mein Notizbuch. „Ich schreibe über das Frühstück“, sage ich und mache ihr Platz. Sie stößt den Brotsack weiter. Sie macht einen Witz über meine Gummistiefel. Die älteren Frauen auf der anderen Seite der Tafel schauen grinsend herüber.

Ich bin zu Gast beim Frauenfrühstück des Vereins AKARSU in Berlin-Kreuzberg. AKARSU kümmert sich um Frauen und Mädchen aus sozial benachteiligten Familien. Fast alle Frauen an der Tafel tragen das Kopftuch. Auch die Anwältin, die eingeladen wurde, um in rechtlichen Fragen weiterzuhelfen. Die Probleme, in denen sie die Frauen am Tisch berät, drehen sich um Familienprobleme und Ärger mit dem Jobcenter.

Die Angestellten des Vereins, typische Kreuzberger Akademikerinnen, zeigen ihr Haar: glatt oder gelockt, meist bis zur Schulter oder länger. Sie tragen Jeans, Pullover und Brille. Auf den ersten Blick kann ich zwischen türkischen und deutschen Frauen nicht unterscheiden. Eine Sozialarbeiterin erzählt, sie sei mit der Rechtsanwältin zur Schule gegangen und erstaunt, dass sie jetzt ein Kopftuch trägt.

Ayla Yilmaz, die Vorstands-Vorsitzende, kommt später. Sie trägt ein buntes Sommerkleid und ein herzliches Lachen. An ihren Ohren glitzern Steine im rötlichen Ton ihres welligen Haares. Ich habe die Geschäftsfrau in einem Salon getroffen. Ich mochte sofort ihre herzliche, offene Art und wie sie sofort meine zwanzigjährige Tochter Selma umarmte, weil sie einen türkischen Namen trägt. Aber Selma ist auch ein jüdischer Name. Wir nannten unsere Tochter nach einer ihrer jüdischen Tanten aus Amerika. Ich glaube, dass Ayla und Selma sich sofort umarmten und den ganzen Abend lang unterhielten, lag an ihrem ähnlichen Temperament. Selma wird auf Grund ihres Namens und ihres Aussehens in Berlin oft für eine türkische Frau gehalten. Sie ist nicht sehr groß und etwas rundlich, hat volles, gelocktes Haar und ausdrucksvolle, hellbraune Augen.

Ayla zog zwei Visitenkarten aus ihrer Tasche, die ihrer eigenen Firma –sie arbeitet als Steuerberaterin- und die des Vereins Türkischer Unternehmer und Handwerker Berlins, den sie mit ihrem Mann Hüseyin gegründet hat. Hüseyin Yilmaz ist auch der Geschäftsführer von AKARSU. Die Yilmaz sind jetzt in den Fünfzigern. Sie haben sich beim Studium in Deutschland kennengelernt. Ihre Töchter sind inzwischen erwachsen.

Als ich Ayla und Hüseyin gegenüber sitze, mit einem süßen, dunklen Tee, dann stelle ich mir vor, dass es früher in Berlin viele solcher engagierten jüdischen Paare gegeben hat. Sie haben die Atmosphäre der Stadt, ihre Dynamik und ihren Witz, nachhaltig geprägt.

Sie habe nichts gegen das Kopftuch, wenn es aus religiösen Gründen getragen werde, sagt Ayla. Auch ihre Mutter habe immer ein Kopftuch getragen. Aber in den letzten Jahren bekomme es immer stärker eine politische Bedeutung, in der Türkei zum Beispiel, wo die konservative AKP regiert und Frauen sich berufliche Vorteile vom Kopftuch versprächen.

Die kleine Frau mit dem Brotsack möchte nicht, dass ich ihren Namen in mein Notizbuch schreibe, aber sie verrät mir ihr Alter: Vierunddreißig. Sie ist geschieden. Ihre Tochter ist zehn Jahre alt. Einen Beruf hat sie nicht gelernt. Sie putzt morgens in einem Café. Sie macht eine wegwerfende Geste. „Was möchtest du gern machen?“ frage ich. „Zu Hause bleiben und schlafen“, antwortet sie. Sie kichert. „Witz“, sagt sie.

Sie sagt, ihre Religion verlange, dass sie das Kopftuch trägt. „Aber es sind religiöse Frauen hier, die kein Kopftuch tragen“, sage ich. Sie zieht die Schultern hoch. „Warum du?“, bohre ich weiter. Sie weist mit der Hand in die Runde der Frauen, als delegiere sie meine Frage weiter. „Muss“, sagt sie. Unter dem Kopftuch sehe ich den lockigen Haaransatz über ihren kleinen Ohren. Sie kommt mir plötzlich bekannt vor, als wäre ich ihr schon einmal begegnet, ohne Kopftuch, beim Fußballgucken in dem Café in meiner Straße, mit einer glitzernden Spange im Haar. Ich meine nicht, dass sie es war. Ich meine, dass ich eine Frau gesehen habe, die genauso schaute, sprach und kicherte wie sie.

Berliner Notiz-Blog 8. September 09

Die Zahl der Kinder, die in Deutschland von Armut bedroht sind, nimmt immer mehr zu. Deutschland liegt in der Liste der industrialisierten Länder, die es nicht auf die Reihe bekommen, sich um ihre Kinder zu kümmern, ganz weit vorn. Irgendetwas stimmt nicht in diesem Land.

Am liebsten würde ich aus der Herde des „Wählerviehs“ ausscheren. Endlich. Geht aber nicht. Denn da ist immer noch die NPD, gegen die man anwählen muss. Jetzt habe ich begriffen, warum die Nazis in Deutschland nicht endlich verboten werden.

Damit wir, der verantwortungsbewusste Rest des Landes, an die Wahlurnen geht. Man erpresst uns!!

Wir sind moralisch gezwungen, mit unserer Stimme Personen, die Banken retten, aber Kinder im Stich lassen, Dienstwagen, Chauffeure, Einfluss und das beste Essen zu sichern. Und selbst brav weiter zu hungern. Wie lange lassen wir uns das noch bieten?

Die Zahl der Selbständigen, die Hartz IV beantragen müssen, hat sich seit 2004 verdoppelt. Das heißt, das nicht nur Menschen ohne Arbeit oder mit zu wenig Arbeit von Hartz IV leben, sondern auch die Unternehmen. Denn würden die Unternehmer richtige Löhne zahlen, müsste kein Selbständiger Sozialhilfe beantragen. Man kann also sagen, dass das ganze Land an Hartz IV nuckelt. Das ganze Land nuckelt und schweigt. Prost!

Berliner Notiz-Blog 7. September 09

Im September sind alle wieder zurück. Wir treffen uns, reden von den Ferien, gönnen uns in den milden Nächten noch einen Nachschlag vom Sommer. Nie sehen die Leute so gut aus wie jetzt.

Ich habe mir im letzten Monat ein paar freie Tage gegönnt, war zwischendurch hier, aber meine Aufenthalte im Büro waren wie die Löcher in einem Schweizer Käse. Es zählte nur das Drumherum: Die Touren mit meinem neuen Mountainbike im Harz, Schwimmen gehen, die Tage mit Sam, dem Sohn von meinem Freund Philippe, der jedes Jahr seine Sommerferien in Berlin verbringt und für den Rest des Jahres in Guyana lebt.

In unserem Office haben zwei Neue angefangen. Johanna, eine Grafik-Designerin und Bippo, ein Journalist. Er hat von einer zweimonatigen Recherche in Ruanda Kaffee mitgebracht. Also haben wir mit ruandischen Kaffee angestoßen. Für einen kurzen Moment, als unsere Tassen aneinander stießen, waren wir verbunden, ein SommerEnd-Team, bevor jeder an seinen Schreibtisch zurück kehrte und allein für sich wieder seinen Job tat, wie bisher, eine zufällige Gemeinschaft von Einzelkämpfern, die kaum etwas voneinander wissen, ständig bedroht von Geldmangel, auch der Angst, sich diesen schönen Arbeitsplatz in der Nähe der Spree nicht mehr leisten zu können.

Auf ein gutes, neues Jahr, hätte ich beinahe gesagt, wirklich, ich fände den Jahreswechsel am 1. September passender als zu Silvester. Man könnte am Strand feiern und wäre nicht so erledigt von Weihnachten.