Berliner Notiz-Blog 14. April 09

Das Feng-Shui von Berlin

Hausnummern wurden erfunden, damit man sich besser zurechtfindet, und in den meisten Städten klappt das auch ganz gut. Nicht in Berlin.

Am S-Bahnhof Friedrichstraße sprach mich gestern eine Frau an, ob ich ihr sagen könne, in welche Richtung sie zur Friedrichstraße Nummer 235 laufen müsse.

Wir gingen ein Stück in Richtung des Kultur-Kaufhauses und stellten fest, dass wir uns auf dieser Seite der Straße in den Neunziger-Nummern befinden. Gegenüber entdeckten wir die Nummern 150 und die 151. Wo aber könnte die 235 sein? In den meisten Städten befinden sich die geraden Zahlen auf der einen, die ungeraden auf der anderen Straßenseite. Man braucht im Grunde nur zwei Häuser, um festzustellen, in welche Richtung sie auf – oder absteigend verlaufen und kann dann ungefähr schätzen, wie weit es noch bis zur gesuchten Adresse ist.

Nicht in Berlin. Hier zählten die Hausnummernvergeber, nachdem sie ein Haus auf der rechten oder linken Straßenseite zur Nummer 1 erklärt hatten, auf dieser Seite einfach immer weiter bis zum Ende der Straße, und anschließend auf der anderen Seite der Straße, rückwärts weiter, so dass die Nummer 1 schließlich der größten Hausnummer gegenüber liegt. Man muss sich das wie eine Haarnadel vorstellen.

Die Friedrichstraße ist sehr lang, eine der größten Haarnadeln Berlins. Ich wusste nicht, ob sich die Nummer 1 am nördlichen oder südlichen Ende befindet. Aber selbst wenn ich es gewusst hätte, wären wir nicht weitergekommen, denn ebenso gut hätte die 235 eines der letzten Häuser auf der Seite der aufsteigenden 90er Nummern sein können als auf der linken Seite mit den aufsteigenden 150er Nummern. Jede der beiden Möglichkeiten lag einige Kilometer von unserem Standpunkt entfernt. Was ich sicher sagen konnte, war nur, dass die Hausnummer 235 wahrscheinlich zu den höchsten in der Friedrichstraße gehört. Tja. Aber diese Information brauchte die Frau nicht.

Sie hatte noch zehn Minuten Zeit bis zu ihrem Vorstellungsgespräch bei einer Firma in der Nummer 235. Sie rieb nervös die Knie aneinander. Sie trug einen kurzen, schmalen Rock. Ich fragte sie, um was für eine Firma es sich handele. Sie sagte, es sei ein Vertrieb für Kommunikationssysteme. Mein Instinkt sagte mir, dass ein Vertrieb nicht in die Nachbarschaft der Start-ups und Werbeagenturen im Norden passt, eher schon an das unschicke, südliche Ende der Friedrichstraße.

Zu Hause schaute ich nach und stellte fest, dass ich sie in die richtige Richtung geschickt hatte. Sie hatte wirklich Glück, dass ich mich so gut in Berlin auskenne.

Wer hat sich nur dieses verwirrende Nummernsystem ausgedacht, in einer Stadt, in der man sich eh immer wie kurz nach einer Explosion fühlt, weil ihre Zentren so weit verstreut liegen? Ein Feng-Shui-Experte sagte, das läge an dem vielen Wasser in der Stadt. Tatsächlich kann Berlin mehr Wasser und Brücken vorweisen als Venedig. In der City breitet die Spree ihre Arme aus. Ein Netz von Kanälen durchzieht die Stadt. Weiter draußen strömen Havel und Dahme, nicht zu vergessen die kleine Panke, die teilweise unterirdisch der Spree entgegen kollert. Das fließende Wasser, sagte der Feng-Shuist, schaffte die berlintypische Unruhe und das Chaos in der Stadt. Es erschwere die Bildung von verlässlichen Strukturen. Die Flüsse trügen das Alte unermüdlich mit sich fort und schafften ständig Neues herbei. Nichts könne sich dauerhaft an diesem Ort etablieren, keine Tradition, keine große Familiendynastie und auch kein Reichtum.

Ich vermute, dass es diese Energie des fließenden Wassers ist, die ich spüre, sobald ich am Hauptbahnhof nach längerer Abwesenheit meinen Fuß auf den Bahnsteig setze. Es ist diese Energie, die mich sofort fröhlich macht, wenn ich zurück nach Hause komme. Ich strudele im Strom der Passanten, die getrieben von Projekten und Plänen, immer gerade zu einer Beratung, einem Meeting, einer Präsentation oder Meditation hasten.

Die Berliner sind blass, schlecht ernährt und nachlässig gekleidet, aber immer voller Optimismus. Das Wasser treibt uns zu Höchstleistungen und laugt uns aus. Es ist wie eine Droge. Wenn in anderen Städten die Sperrstunde beginnt, kommt das Nachtleben in Berlin gerade erst in Gang. Dann verwechseln die Berliner ihre Tango- Salsa – und Swingnächte mit Schlaf. Am nächsten Tag wundern sie sich, warum sie müde sind. Sie haben doch nur getanzt. Aber schon am nächsten Kiosk blinken grüne und rote Pünktchen und formen das verheißungsvolle Wort: Kaffee.

Das Leben in diesem Teilchenbeschleuniger ist auf Dauer ungesund. Irgendwann, jenseits der dreißig, spürt das jeder. Die jungen Zuwanderer verlassen die Stadt wieder, sobald sie Kinder bekommen und besser bezahlte Jobs in ihren Heimatstädten. Ihren Umzug kündigen sie meist nicht an, aus Angst, dass ihre Freunde sie überreden könnten zu bleiben. Die echten Berliner hingegen reden ständig davon, die Stadt zu verlassen. Aber sie bleiben.

Berliner Notiz-Blog 9. März 2009

Afonso Tiago ist tot. In der Freitagnacht hat man ihn auf dem Grund der Spree gefunden.

Am Sonntag hing ein Strauß Blumen am Geländer der Schillingbrücke. Zwei Grabkerzen standen davor. Die Blumen und Kerzen sind heute wieder verschwunden. Wahrscheinlich verstießen sie gegen die Sicherheit.

Es ist nur eine kleine Notiz in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung. Keine Anzeichen von Gewalt. Afonso ist in dieser kalten Januar-Nacht ins Eis gebrochen. Ein junger Portugiese, der keine Ahnung von Frost hatte.

Die Blumen auf der Brücke sind verschwunden. Der Fluss schwappt ungerührt weiter.  Das Thema ist durch. Ein Mann mit schweren Stiefeln passiert die Brücke, zieht sich die Kapuze gegen den Wind tiefer ins Gesicht, blickt aggressiv nach draußen. Drüben, vor dem Eingang des Ibis-Hotels, regelt einer am Telefon seine Geschäfte.

Die Sonne scheint. Heute ist Afonsos Geburtstag. Er wäre 28 Jahre alt geworden.

Berliner Notiz-Blog 16. Februar 2009

Er habe die Jahre in Berlin zwischen Ober – und Unterkiefer verbracht, erzählt der pensionierte Zahnarzt Anatol Gotfryd nach seiner Lesung im Jüdischen Kulturverein. So meisterhaft er seine Biographie „Der Himmel in den Pfützen“ – ein Leben zwischen Galizien und dem Kurfürstendamm, schrieb, trägt er nun noch einige Anekdoten seines Lebens vor. Mit diesem verschmitzten Lächeln. Bei den gediegenen Veranstaltungen des Vereins im Centrum Judaicum herrscht eine familiäre Atmosphäre. Die Zuhörer: Überlebende, deren Kinder, Freunde des Vereins und immer mehr solche, die den Verein in den letzten Jahren entdeckten. Er bleibt ein Geheimtipp. Ob man mit ihm denn jiddisch sprechen könne, fragt eine der ältesten Zuhörerinnen den Autor. Gotfryd schüttelt den Kopf. Zu lange liegt seine Kindheit zurück, zu früh musste er sie verlassen. Heute ist er 78 Jahre alt.

Berliner Notiz-Blog 9. Februar 2009

Ich bin dafür, dass der Februar mit sofortiger Wirkung abgeschaltet wird. Ein Tag weniger ist ein halbherziger Versuch, den grauesten aller grauen Monate abzustrafen. Nie sind die Bäume so kahl wie jetzt. Die Straßen glänzen wie im Fieber. Einige Etymologen vermuten sogar einen Zusammenhang zwischen dem Wort „Februar“ und „Fieber“.
Kein Wunder, dass im Februar alle krank sind. Die einbrechende Helligkeit verursacht eine quälende Unruhe. Man glaubt, nach dem Winter wieder durchstarten zu können und Bumm! liegt man auf der Nase. Vom Krankenbett aus bemerke ich, dass die Fensterscheiben undurchsichtig geworden sind. Ich ziehe die Gardine vor und zappe durch die Berlinale. Wieder nicht dabei gewesen! Keinen Film gesehen, kein Autogramm gejagt. Das Wetter ist einfach zu mies. Der Kopf tut weh. Die Nase tropft. Ich rede mir ein, nichts verpasst zu haben. Das Fernsehen zeigt Stars, die in dünnen Kleidchen tapfer über den roten Teppich im Sony-Center eilen. Sie lächeln verfroren in die Menge.
Ich kappe die Antenne, lege mir Teebeutel auf die Augen und stelle den Wecker auf Poesie.

Berliner Notiz-Blog 19. Januar 09

Vor einer Woche lief ein Mann auf dem Schlachtensee Schlittschuh. Er war nicht mehr ganz jung. Er fuhr sicher, obwohl das Eis knubbelig war und –anders als auf den Kunsteisflächen in der Stadt- spiegelglatt.

Er fuhr einige Figuren. Es sah elegant aus. In Berlin sieht man selten Männer auf dem Eis tanzen. In Montreal hab ich Männer auf dem Eis Pirouetten drehen und Walzer tanzen sehen. In Deutschland würden sie riskieren, schwul genannt zu werden.

Vieles, was Männer für Frauen anziehend macht, wird hier schwul genannt. Wenn ein Mann sich für Menschen interessiert, wenn er Sensibilität und Vornehmheit besitzt, wenn er an der Volkshochschule eine Sprache lernt, weil er gern unter Frauen ist, wenn er knallbunte Socken liebt und kocht. Mir fallen Szenen aus Büchern und Filmen der Zwanzigerjahre ein, während ich das schreibe. Es fehlen eben jüdische Männer. Zum Glück bringen einige Einwanderer die „weiblichen“ Eigenschaften für Männer mit.

Ich vermute, dass der Mann auf dem Schlachtensee aus Skandinavien kommt. Vielleicht arbeitet er gerade in Berlin. Es gelang mir nicht, ihn anzulächeln, weil ich bis zur Nase in einem Schal steckte und trotzdem gefrorene Lippen hatte.

Über den See wehte ein eisiger Wind. Er tanzte in der Nähe des Nordufers, auf einer Fläche, die von Schnee frei gefegt worden war und frei von den kleinen Stöckchen, die Hundebesitzer im Spiel überall herum werfen.

Während ich ihm zuschaute, kam ein riesiger, schwarzer Hund auf mich zugelaufen und begann, an meinen Handschuhen zu knabbern. Ich bat die Besitzer, ein Pärchen, ihn aufzufordern, das zu lassen. Der Mann grinste mich an und die Frau sagte: „Er knabbert gern an Handschuhen, wenn man die Hände so hält.“

Wie soll man die Hände denn halten, wenn man über den Schlachtensee spaziert? An der Hosennaht?