for the sky not to fall

Ein Abend im Europäischen Zentrum der Künste Dresden

IMG_0258

Festspielhaus Hellerau in Dresden

http://www.hellerau.org

Derzeit läuft in Hellerau das Festival Brasilianische Alternativen. Heute erlebte ich dort eine Choreografie von Lia Rodrigues, eine der bedeutendsten brasilianischen Choreografinnen.

Die zehn Tänzer, Männer und Frauen, setzten sich nackt und ohne die schützende Grenze eines Bühnenraumes den Besuchern aus. Sie bahnten sich Wege durch uns, das Publikum, bekleidete und parfümierte Großstädter. Sie suchten unsere Blicke, streiften unsere Haut, hinterließen Spuren darauf aus Kaffee und Gewürzen, braun und rot. Sie robbten, krochen, flatterten zwischen uns hindurch, ihre Wege bahnend. Später sahen wir ihrem Ritual zu. Sie tanzten wie in Trance, verrückt und glücklich. Den Rhythmus erzeugten sie kraftvoll mit den Füßen. Das war die einzige Musik, die an diesem Abend zu hören war.

„Wir tanzen für die, die nicht tanzen können“, sagt Lia Rodrigues über ihre Choreografie. Wer ist das? Die Trauernden, denen die Glieder schwer geworden sind?  Andere, deren Willen ihre Glieder nicht folgen können? Sind es die Gefangenen, denen mit Erschießung gedroht wird, falls sie zu tanzen wagen? Falls sie aufstehen? Denn so beginnt doch jeder Tanz. Auf den eigenen Füßen.

Am Ende der Performance lasen die Künstler ein Statement zur aktuellen Situation in Brasilien. Sie protestierten gegen den Putsch gegen Dilma Rousseff. Es sei ein Schlag gegen die mühsam errungene Demokratie in Brasilien. Nach dem Putsch seien verschiedene Ministerien geschlossen worden, u.a. das Ministerium für die Gleichstellung der Frau, das Ministerium für die Angelegenheiten indigener Völker und das Energie-Ministerium. Für diese also haben sie getanzt: Für die Frauen, für die Indigenen, für die Lebendigkeit, die von den Despoten gefürchtet wird.

Das „Projeto Brasil“ kommt auch nach Berlin, ins HAU, vom 7.-19. Juni. Geht unbedingt hin! Das Hau hat bereits eine kleine Zeitschrift zum „Projeto Brasil“ gedruckt mit interessanten Aufsätzen zur Situation in Brasilien. Der Titel der Tanzperformance „For the sky not to fall“ wurde umgewandelt in „the sky is already falling“.

Es gibt Hoffnung. Eine ist das Festspielhaus Hellerau und sein Intendant Dieter Jaenicke. Er lebte selbst einige Jahre in Brasilien und übersetzte auf dem kleinen anschließenden Empfang alle Reden. Im Publikum waren die Intendanten der anderen Bühnen, zu denen das „Projeto Brasil“ ebenfalls reisen wird, unter ihnen Amelie Deuflhard, die  viele Jahre die Sophiensäle geführt hat und jetzt das Hamburger Theater Kampnagel leitet. Es gab brasilianisches Gebäck, gesponsert vom Kulturministerium der Stadt. Ein Feueralarm beendete die Feier abrupt. Es hieß, in der Küche sei ein Brand ausgebrochen. Vielleicht hat der Koch auch nur eine Zigarette geraucht. Wir mussten das Haus verlassen.

„Die Sehnsucht vor allem“

IMG_0895

Skulpturen von Sabina Grzimek in der aktuellen Ausstellung in Sepp Maiers Zweiraumwohnung

http://www.seppmaiers2raumwohnung.de/

A U G E N B R Ü C K E N
Eine Ausstellung von Antje Neppach und Sabina Grzimek
Laudatio am 17. März 215 in der Galerie im Rathaus Lichtenberg

Der Titel der Ausstellung irritiert. Weil das Wort Augenbrücken einerseits ein flüchtiges Phänomen assoziiert, das des Augenblicks, diesem aber eine feste bauliche Struktur zuordnet. Letztendlich beschreibt das Wort, worum es in dieser Ausstellung geht: Das unsichtbar Flüchtige einzufangen, festzuhalten und zu zeigen.

Wenn wir einander anschauen, entsteht eine Brücke. Manchmal zerfällt sie a u g e n b l i c k l i c h. Aber es geschieht auch, dass wir uns auf die entstandene Brücke wagen, mit ersten unsicheren Schritten. Trägt sie? Aus der Begegnung entsteht möglicherweise Weiterlesen

Völlig hingerissen

Wir haben alles, wir brauchen nichts, das Richtige zu schenken ist ohnehin ein kompliziertes Ding. Sind Weihnachtsgeschenke folglich sinnlos? Niemals!
Eleonore Roedel.Katze

Illustration © Eléonore Roedel

Zum Geburtstag habe ich eine dieser Manga-Katzen aus Plastik geschenkt bekommen, die ständig winken. Man sieht sie häufig in Schaufenstern von Asia-Shops. Ich war irritiert, als meine Freundin mir die Katze überreichte. Das konnte eigentlich nur ironisch gemeint sein. Am nächsten Tag trug ich die rote Katze in der Wohnung umher, auf der Suche nach einem Platz, der ausreichend respektvoll ist, an dem sie aber nicht stören würde. Schließlich stellte ich sie im Bad in die weiß geflieste, in die Wand eingelassene Ablage für Klopapierrollen. Ich schaute der Katze eine Weile beim Winken zu und dachte über meine Freundin nach.

Wir hatten uns vor einigen Jahren in der Warteschlange vor einem Theater kennengelernt. Das heißt, es war gar kein Theater gewesen, sondern ein verlassenes Stadtbad, in dem „Das Gastmahl“ von Platon aufgeführt wurde. Weiterlesen

Feuerwerk jetzt!

IMG_2645

 

Ich bin dafür, den Jahreswechsel in den September vor zu verlegen. Es gibt mehrere gute Gründe dafür. Einer und zugleich der wichtigste ist, dass Silvesterfeiern im September die Welt verbessern würde.

Man sagt, dass revolutionäre Ideen oft in Notsituationen geboren werden, die Erfindung des Feuers beispielsweise oder des Rades. So war es auch in diesem Fall. Mein Freund und ich, wir waren eine Zeitlang gezwungen, jedes Jahr Ende August nach Paris zu fahren, weil eines unserer Kinder die Sommerferien bei uns verbracht hatte und nun wieder nach Hause zu seiner Mutter in ein französisches Übersee-Departement fliegen musste. Es war jedes Jahr ein trauriger Abschied. Wir winkten der Maschine nach, bis sie als kleine zitternde Fata Morgana im Himmel verschwand. Danach schlichen wir über den schmelzenden Teer in den Straßen von Paris und hielten in der verlassenen Stadt nach der halb geöffneten Jalousie eines Eckladens Ausschau, um uns mit großen Wasserflaschen auszurüsten, bevor wir auf der nächsten Parkbank zusammen brachen. Paris im August ist der Ausnahmezustand. Weiterlesen

only a second away

only a second
Foto: © Andrea Vollmer
Der 30. Juni 2015 war eine Sekunde länger als alle anderen Tage diesen Jahres und aller Tage aller Jahre davor. Naja, vielleicht nicht aller, ich vermute, dass es irgendwann schon mal einen Tag gab, der eine Sekunde länger dauerte, aber es muss länger als fünfzehn Jahre her sein. Nur eine Sekunde – und wutsch! Das wars! Meine langjähriges Postfach zerbarst.
Weil ich mich partout nicht an den Aufenthaltsort eines verflossenen Liebhabers erinnern kann, ist es auch nicht mehr wieder herzustellen. Ich habe daraus gelernt, dass es nicht gut ist, beim Anlegen einer Sicherheitsfrage einer augenblicklichen Leidenschaft nachzugeben.
Allerdings würde mir auch der Aufenthaltsort meines damaligen Liebhabers nicht weiterhelfen, weil ich außerdem auch die Nummer meiner vor-vor-vor-vor-vorherigen Kreditkarte nicht mehr im Kopf habe (was für ein mieses Gedächtnis!) Aber da ich tatsächlich alle alten Karten aufhebe – lacht nicht –  wühlte ich also in einem dutzend Bahncards, Bankcards, Bibliothekencards, Presseausweisen etc. – aber die Kreditkarte, die 2002 ungültig geworden war, war nicht mehr darunter.
In den letzten 24 Stunden habe ich alle Mitarbeiter der Apple-Hotline kennengelernt, mit Namen und Temperament, bzw. Coolness- und Sensitivity-Level. Keiner konnte mir helfen.