Die Go-to-Area

Unter dem Titel „Die Go-to-Area“ erschienen im FREITAG vom 24. Januar 2013 vier Texte, in denen Autoren erzählten, warum sie gern in Einkaufszentren gehen. Meine Einkaufscenter-Episode heißt:

Bin ich einsam?

Foto ⓒ Andrea Vollmer

Nach anstrengenden Bürotagen erhole ich mich im Einkaufszentrum. Es ist hell und warm und bis neun Uhr geöffnet. Die Läden interessieren mich weniger. Ich möchte unter Menschen sein.
Am liebsten sitze ich mit einem Kaffee auf der Bank gegenüber der Rolltreppe und beobachte die Leute. Eines Tages entdeckte mich Hannes, der Mann meiner Freundin Katharina. „Kaufst du HIER ein?“ Er verzog angewidert das Gesicht. „Nie! Ich habe mich gerade verlaufen!“, stammelte ich schnell und vergaß zu fragen, was er hier eigentlich machte. Er schleppte eine volle Fahrradtasche. An der anderen Hand hielt er seinen kleinen Sohn.

Ich dachte daran, wie mir Katharina im Sommer vom Campingurlaub mit den zwei Kindern erzählt hatte und fragte mich plötzlich, ob ich einsam war. Ich saß am Abend mit einem Pappbecher Kaffee vor der Rolltreppe in einem Einkaufszentrum. Auf einmal wirkte das Licht künstlich, der Ort banal und hässlich. Ich schämte mich ein bisschen.

Eines Tages blickte ich gerade von dem antiquarischen Büchertisch im Untergeschoss des Einkaufszentrums auf, als der Schriftsteller K. auf der anderen Seite des Tisches schon fast vorbeigelaufen war. Er ist mir sympathisch, seit ich ihn mal interviewt habe. Er hatte mich nicht bemerkt. Und falls er mich doch gesehen hatte – immerhin lesend. Zum Glück wusste er nicht, dass ich fast jeden Tag hier bin.

Eine Woche später fuhr K. einige Stufen vor mir die Rolltreppe hinauf ins Obergeschoss. Ich traute mich nicht, ihn anzusprechen, obwohl auch er nach dem Gesetz des Zufalls ziemlich oft hier sein musste, es also keinen Grund gab, sich voreinander zu schämen.

Seit ich weiß, dass ich K. hier treffen könnte, genieße ich meine Feierabende im Einkaufszentrum noch mehr. Ich befinde mich schließlich in guter Gesellschaft. Auf der Bank vor der Rolltreppe, halb bedeckt von fleischigen Zimmerpflanzen, warte ich darauf, K. wiederzusehen. Ich habe mir vorgenommen, mein Versteck zu verlassen und ihn anzusprechen, wenn er das nächste Mal kommt. Aber war schon lange nicht mehr hier.

Eine komische Frau

Das Foto zeigt den Schatten einer Skulptur der Bildhauerin Johanna Martin

Weil sie das Programm auf großen Bühnen zu weltfremd fand, gründete Constanze Behrends mit 22 ihr eigenes Theater in Berlin. Das „Prime Time“, das ohne öffentliche Gelder auskommt, wurde eine Erfolgsgeschichte.

Die Schauspielerin Constanze Behrends ist eine große Komödiantin. Sie dreht gerade für eine Vorabendserie in der ARD und führt ein eigenes Theater in Berlin, in dem sie auch spielt. Mit 31 Jahren hat sie 101 Bühnenstücke geschrieben. Constanze Behrends ist hübsch. Sie hat lange, blonde Haare und einen Körper wie ein Model. Verheiratet ist sie auch, und seit zwei Jahren Mutter.

Es gibt sie also, diese Menschen, die alles haben und denen alles gelingt.

Sie hat zur Premierenfeier in die Prime Time Kantine eingeladen, gleich neben ihrem Theater, Müller – Ecke Burgsdorfstraße im Berliner Wedding. In dieser Gegend treiben sich nachts gewöhnlich nur noch Spielsüchtige und Männer auf der Suche nach einem Bordell herum. Heute     Weiterlesen

Vermintes Gelände

Berliner Zeitung

Latenter Antisemitismus ist unter muslimischen Jugendlichen weit verbreitet. Eine Schule in Kreuzberg kämpft dagegen an – Lehrer besuchen mit ihren Schülern Orte jüdischer Geschichte in Berlin, die Sozialarbeiterin organisiert Klassenreisen nach Israel.

An einem warmen, sonnigen Junitag war das Schuljahr in der Skalitzer Straße in Kreuzberg mit einem Fest zu Ende gegangen. Die Schüler hatten Couscous-Salate zubereitet. Dazu gab es Süßigkeiten, Tee und Limonade. Eine Gruppe von Mädchen und Jungen tanzte im Kreis zu orientalischer Musik. Es war ein schönes Fest für die Kinder der Sekundarschule in der Skalitzer Straße. Ein Fest, wie es in fast jeder Schule dieser Gegend stattfinden könnte.

Und doch gab es hier eine Besonderheit. An einem eigenen Stand informierte der Wahlpflichtkurs Menschenrechte über die gemeinsame Reise nach Israel. Die meist arabisch- und türkischstämmigen Schüler erzählten, wie überrascht sie waren von jenem Land, dem sie zuvor so ablehnend gegenüber gestanden haben. Und sie erzählten von ihren neuen jüdischen Freunden.

Als die Ferien vorüber sind und der Ramadan zu Ende, kommen die Jugendlichen aus Israel zum Gegenbesuch nach Berlin. Weiterlesen

Wohnzimmer-Lektionen

VOLKSBILDUNG: Wie kann man politisches Bewusstsein wecken? Der Franzose Pierre Kaskys gibt dazu Workshops in Berlin

Pierre Kaskys in Berlin, Oktober 2011

Foto: © Anna Kristina Bauer

Die Polstermöbel in dem hellen Zimmer sehen so aus als kämen sie vom Sperrmüll. Es ist eine typische Berliner Altbauwohnung mit Stuck an der Decke, sechs Leute unterschiedlichen Alters und verschiedener Nationalität sitzen in den Sesseln um einen flachen Tisch und schreiben. „Wer möchte beginnen?“, fragt der Moderator.

„Petite histoire, grande histoire“ (kleine Geschichte, große Geschichte) heißt der Workshop, zu dem der 28jährige Pierre Kastner-Kysilenko über verschiedene Facebookgruppen in seine Wohnung eingeladen hat. Er notiert auf einer Papierbanderole an der Wand Jahreszahlen und „die kleinen Geschichten“ der Teilnehmer. Sie handeln vom ersten Golf – und zweiten Weltkrieg, von der Angst vor Krieg am 11. September 2001, von erlebten Rassismus und Armut, einer Ehescheidung und zwei Suchen nach der eigenen Identität.

Weiterlesen

Walhalla mit Vergnügen

Noch ein paar Tage am Kiosk: Die Sommerausgabe von DAS MAGAZIN „für alle, die sich nass machen lassen“ 😉 mit Texten u.a. von Kirsten Fuchs, Alex Capus und Anita Wünschmann, einem Komödien-Rätsel, der Geografie des deutschen Humors und guten Jungs wie Stefan Kaminski….

Foto: © Jeanne Degraa

An Richard Wagner scheiden sich noch immer die Geister. Bei Stefan Kaminski treffen sie sich wieder

Heute steht Kaminskis flexibler Bürostuhl auf der Bühne der Bar jeder Vernunft, einem Varieté im Berliner Westen. Das Publikum, gut situierte Paare und Familien, haben das Dinner beendet und sitzen nun in Erwartung der Kunst der Bühne zugewandt. Wie ein Bandleader winkt Stefan Kaminski den Gästen zu, als er zwischen der Glasharfenistin Hella von Ploetz und dem Percussio – und Cellisten Sebastian Hilken seinen Platz auf dem Bürostuhl einnimmt. Dort unternimmt er zuerst eine halbe Drehung nach hinten und hypnotisiert mit der ausgestreckten Hand die Studiolampe über der Bühne, bis sie rot aufleuchtet und der Schriftzug on air erscheint. Auf dem Programm steht das „Rheingold“, der erste Teil des „Ring der Nibelungen“ von Richard Wagner. Kaminski spielt alle Rollen selbst, ungeschminkt, in Jeans und T-Shirt, von seinem gepolsterten Stuhl aus: Nymphen und Zwerge, Riesen, Götter und Halbgötter. Später wird man schwören wollen, sie alle gesehen zu haben. Kaminski ist umgeben von einer Art Klangküche aus Werkzeugen, Materialien, Stoffen und Alltagsgegenständen, auch Mikrofonen, die seine Stimme verzerren, so wie er selbst auch mit den Fingern an seinen Lippen und Wangen zerrt, um Stimmen für das gesamte Wagnersche Personal zu erzeugen. Ein faltiger Luftballon quietscht wie pralle Nymphenhaut, als der Zwerg Alberich den Töchtern des Rheins nachstellt und…

Weiterlesen