Kathrins Notiz-Blog 28. Juni 09

© Illustration Liane Heinze

Es war ein warmer Abend, grau wie ein Novembertag. Von irgendwo duftete der Wind nach Regen.

„Merkst du, wie die Leute dich anstarren“, sagte Leon, als wir die Schönhauser hoch liefen. „Sie fragen sich, warum eine so schöne Frau mit einem Kerl wie mir herum läuft, mit einem Tier.“ Er drückte wieder seine Locken in die Stirn.

„Du bist kein Tier.“ Ich strich seine Locken wieder aus dem Gesicht. „Das ist kein Fell. Sag mir ehrlich, wo du lebst: Im Humboldthain?“

„Nein.“ Er blieb stehen und schüttelte den Kopf.

„Im Bürgerpark, in einer Weide an der Panke?“

„Wie kommst du darauf?“ Seine grünen Augen stehen etwas vor. Er blickte mich ängstlich an, seine Augen suchten einen Halt in meinem Gesicht.

„Keine Ahnung. Du bist ein bisschen Tier, zur Hälfte, ein Faun.“

An diesem Abend lud er mich in seine Garage ein. Eine Werkbank stand darin, ein Küchenbuffet, wie sie vor hundert Jahren die Wohnküchen der Arbeiterfamilien geschmückt hatten, und jede Menge Kartons und Kisten und Fahrräder. An den Wänden hingen Rahmen. Wie Leon sich in den engen Gängen zwischen der Werkbank und den Kisten und Kartons bewegte, wie er den Rahmen an den Wänden auswich, wie er hinter dem Buffet verschwand und kurz darauf mit zwei Liegestühlen wieder auftauchte, wie er sich bei der Spinne entschuldigte, deren Netz er dabei zerstört hatte, wie er ihr mit nervösen Blicken folgte, als sie gemächlich über den Betonboden krabbelte, und den Raum um sie weiträumig mit den Armen abschirmte – “Vorsicht!“  – „Ich habe keine Angst vor Spinnen.“ – „Aber dass du sie nicht zertrittst.“ –  war klar, dass dies sein Zuhause war, seine dritte Haut, die ihm wie angegossen saß.

In den Kartons entdeckte ich Fahrrad-Trikots aus dem letzten Jahrhundert, original verpackt in knisternden Tüten, Rundstrick in leuchtenden Nationalfarben, Polokragen, Ärmel mit Bündchen, Wappen auf der Brust. Made in Italy. Made in France.

„Was machst du damit?“

„Ich weiß noch nicht.“ Er schaute in die Kartons. Er trat auf der Stelle wie ein junges Pferd. „Hier, das ist für dich.“ Er zog ein winziges Sprinterhöschen aus grüner Baumwolle mit weißen Paspeln hervor, es war nicht verpackt. „Schön, nicht?“ Ich nickte, zog meine Jeans aus und schlüpfte hinein. Es passte. „Steht dir gut“, sagte er.

„Als Kind habe ich alte Kleider gesammelt. Ich habe sie in einer Kiste auf dem Boden aufbewahrt. Mein schönstes Kleid stammte aus dem 19. Jahrhundert. Ein schwingender Rock mit Volant und tausend winzige Haken am Oberteil.“ Leon interessierte sich für die Haken. „Zeig noch einmal: Wie hast du sie geöffnet?“

„Irgendwann war mir meine Sammlung unwichtig geworden, ich hatte sie aus den Augen verloren, meine Eltern haben die Sachen weg geworfen, ohne mich zu fragen. Mir ist es nicht einmal aufgefallen.“

„Ich hasse es, wenn andere entscheiden, was einem wichtig ist“, sagte Leon und erzählte von den Spielsachen, die sein Bruder Paul weg geworfen hatte, als das Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatten, platt gemacht worden war. „Meine Mutter hat nie etwas weggeworfen. Sie hatte vor den kleinsten Dingen Respekt.“

Ich erinnere mich, ein Theaterplakat von Jolanda bei einem Umzug weg geworfen zu haben, weil es ganz verblichen war und voller Flusen. Jolanda hat mir das nie verziehen.

„Seltsam, ich erinnere mich wirklich nicht mehr an den Tag, an dem mir aufgefallen ist, dass die Kleider verschwunden sind. Vielleicht waren sie nicht mehr wichtig für mich? Aber sie waren mir doch wichtig. Ich hatte auch einen echten japanischen Papierschirm. Ich habe diesen Schirm sehr gemocht. Seltsam.“

Wir saßen auf der Werkbank zwischen den Rennfahrer-Trikots und – Höschen aus dem letzten Jahrhundert und tranken Erdbeerbowle. Meine Beine sahen käsig aus neben Leons.

„Wann spielst du für mich?“

„Warte.“ Leon sprang von der Werkbank. Er klappte seinen Laptop auf. „Ich werde dir etwas zeigen. Das ist meine Band: Blamage. Er nickte zum Garagentor hin, an dessen Innenseite ein schwarz-weißes Poster seiner Band Blamage hängt. „Diese Aufnahme ist von 1984.“ Er schob die CD in den Computer. „Wir waren so daneben,“ sagte er glücklich und schüttelte den Kopf wie ein Hundertjähriger.

Eine dunkle Frauenstimme rief aus einer tiefen Tiefe, aus einer Verzweiflung. Sie wurde begleitet von einem düsteren Grollen. Die Stimme erzitterte, sie brach, das Grollen blieb und steigerte sich. Das Grollen, das war Leon an seinem Schlagzeug, 1984.

Er hockte im Dunkel der Garage. Seine Augen waren jetzt ruhig. Sie blickten gespannt auf meine Reaktion. Sie schienen aus derselben Tiefe zu blicken, aus der auch die Stimme der Frau kam. Ein seltsames Gefühl beschlich mich, ein Gefühl großer Fremdheit. Oder war das die Einsamkeit? Ich fühlte eine kalte, nasse Höhle sich in mir ausbreiten. Ich begann zu frieren und wollte flüchten. Draußen zwitscherten die Vögel. In der Tiefe der Garage funkelten Leons Augen. In diesem Augenblick fürchtete ich, er könne wahnsinnig sein. „Ist nicht so mein Ding“, sagte ich, schob mich von der Werkbank und lief nach draußen in den Garten. Leon grinste. „Ich zeige dir noch etwas anderes.“ Er wählte ein neues Lied aus. Ich blieb im Garten, warf mich in einen der Liegestühle, schloss die Augen. Ich wäre am liebsten abgehauen. Ich mochte den Abend nicht mehr. Der nächste Song ähnelte dem ersten, war etwas rockiger, aber wieder tönte die Stimme dieser Gefangenen und nahm mich zurück in die Garage, in das kühle Dunkel, in die feuchte Höhle, in die Angst vor Leons Wahnsinn.

„Es macht mir Angst.“

Leon warf die CD aus.

„Es ist gut, es ist stark, es macht mir Angst, ich weiß nicht, warum ich es nicht aushalte. Ich wollte nicht respektlos sein. Es ist immerhin deine Musik, sie interessiert mich….“ Mein Versuch, etwas nettes zu sagen, wirkte wahrscheinlich nicht sehr überzeugend.

„Wir waren so daneben“, sagte Leon wieder. Ich fühlte mich schuldig.

Kathrins Notiz-Blog 27. Juni 09

© Illustration Liane Heinze

Leon kommt jeden Abend. Jeden Abend fragt er, ob er am nächsten Tag wiederkommen darf. Es rührt mich, wie er fragt. Sein abgebrochener Zahn rührt mich und wie er seine Locken glättet. Wie er sich bemüht, mir zuliebe ein urbaner Mensch zu werden.

Wenn Jolanda bei ihrem Freund Sören schläft und wir die kleine Wohnung für uns allein haben, bleibt er über Nacht. Wir schlafen dicht aneinander geschmiegt. Leon duftet nach seinem Baum. Er hält sich an mir fest. Er lässt keinen Spalt Luft zwischen unseren Körpern. Er zieht meinen Po gegen seinen Bauch. Er umschlingt meine Brust mit seinen Armen, hält mich mit seinen Beinen gefangen. Bevor wir einschlafen, steckt er seinen Penis in mich, und dann rühren wir uns nicht mehr. Manchmal spüre ich noch, wie sein Penis weich wird und zwischen meine Schenkel rutscht.

Kathrins Notiz-Blog 21. Juni 09

© Illustration Liane Heinze

Leon klingelte gestern Abend gegen sieben. Meine Tochter Jolanda hat ihm geöffnet. Jolanda ist achtzehn Jahre alt. Sie möchte Kriminalistin werden.

Als ich nach Hause kam, kochte Leon. In unserer engen Küche schwang er wie ein Punchingball zwischen Herd und Tisch hin und her. Jolanda saß in dem Korbsessel am Fenster, las ein Buch und stopfte sich eine Erdbeere nach der anderen in den Mund. Sie nahm keine Notiz von dem Punchingball. Ich deckte den Tisch. Leon arrangierte auf den Tellern Shrimps in einer Sahnsoße, dazu Reis. Nach dem Essen sahen wir uns zu dritt Buster-Keaton-Filme an.

Beim Frühstück heute Morgen sagte Jolanda: „Willst du wissen, wie er seinen Zahn verloren hat?“

„Ich finde das nicht wichtig”, sagte ich. “Es ist ein halber Zahn, sonst nichts.”

„Ein halber Zahn ist gigantisch.” Jolandas Augen funkelten wütend. „Es ist dir egal, dass dein Liebhaber herumläuft wie jemand, der sich den Zahnarzt nicht leisten kann?”

„Er ist so ungeschützt, findest du nicht?” sagte ich. „Er hat sicher keine Krankenversicherung.”

Jolanda angelte eine Scheibe Knäckebrot aus der englischen Dose und zog das Schokoladenglas neben ihren Teller. Sie schaute mich an, als hätte ich ihr eine Ratte auf die Serviette gelegt.

„Ohje, du bist verknallt”, sagte sie.

„Du hast ihn also verhört?“

„Ich musste schließlich was mit ihm reden.“

Ich stand auf. Ich würde eh viel zu spät ins Erdbeerfeld kommen.

„Er behauptet, dass er die Katze der Nachbarin aus dem Kippfenster befreit und dabei mit dem Zahn auf den Fensterrahmen geknallt ist.“

„Autsch.“ Ich streifte meine Regenjacke über.

„Er lügt schlecht”, rief Jolanda mir durchs Treppehaus hinterher.

„Aber er hat Phantasie”, rief ich zurück.

Kathrins Notiz-Blog 20. Juni 09

© Illustration Liane Heinze

Vom Bett aus sah ich ihn in der Küche hin und her tänzeln. Er war nackt bis auf einen dunkelblauen Anorak, den er um die Hüften geknotet trug. Er trug eine taillierte Kaffeemaschine. Er schien etwas zu suchen, Streichhölzer oder den Herd.

Er ist nicht von hier. Diese Wohnung hat er sich schnell besorgt, weil er mir gegenüber so tun will, als gehöre er dazu. Es stehen keine Möbel in den Zimmern, nur drüben, an der Wand gegenüber dem Bett, hockt ein Schlagzeug.

Seine Beine wölben sich fest unter den Leisten. Es ist kein Fett daran, nichts zum Zwicken. Die Locken darauf sind rötlich. Er hat gesagt, dass er es nicht mag, wenn die Frau oben sitzt. Ich sei die Erste, mit der es aufregend gut war. Vielleicht sagt er das jeder Frau. Man will immer für jemanden DER oder DIE Erste sein. Das weiß er. Weiß er es? Wahrscheinlich sagt es ihm sein Instinkt. Er ist ein Fabeltier, ein Faun. Ich erkenne es an seinem tänzelndem Schritt, den fliehenden Schultern und daran, wie er die Locken in die Stirn presst, als wollte er sie glätten. Er muss in einem Baum leben, wahrscheinlich dort, wo wir uns vor zwei Tagen im Regionalzug getroffen haben, als ich vom Erdbeerfeld kam. Er behauptete, auf einer Radtour vom Regen überrascht worden zu sein.
Ich bin hinüber zu den Trommeln geschlichen und habe die feine Kette bewegt, die auf einem der Becken lag. Sie machte ein Geräusch wie Sand, der durch Papier rieselt. Die Dielen wärmten meine Fußsohlen.

Ich mag Erste Nächte, weil sie überhaupt nichts Feierliches haben und den Alltag trotzdem für eine Zeit außer Betrieb setzen. Erste Nächte enthalten ein Versprechen, das nie eingelöst werden muss.

Ich ging zu dem Faun in die Küche, strich ihm um die Taille, küsste seinen Nacken. Er drehte sich überrascht um, drückte die dunklen Locken fahrig in die Stirn. Seine grünen Augen stehen übrigens etwas vor und rutschen seitlich aus dem schmalen Gesicht. Vorn fehlt ihm ein halber Zahn.

„Was ist?“, flüsterte er. Er legte die Arme um mich. „Es kann jeden Moment jemand kommen, dem die Kette abgesprungen ist oder der Lenker gebrochen.“ Er wies mit dem Kopf zum Fenster, auf die hellblauen Garagentüren im Hof. „Jetzt im Sommer kommen die Ersten manchmal schon um acht.“

Auch die Küche ist fast leer. Aber er trennt den Müll in rosa Plastiktüten. Er gibt sich wirklich große Mühe, nicht aufzufallen.

Wir tranken den Kaffee im Stehen. Er schaute immer wieder in den Hof. Er presste die Locken in die Stirn und zog den abgerutschten Anorak wieder hinauf zu den Hüften.

Kathrins Notiz-Blog 1. Juni 09

Auf der Leipziger Buchmesse im März 2009

Rimbaud soll gesagt haben: „Meine Überlegenheit besteht darin, dass ich kein Herz habe.“

Rimbaud hat Recht. Das Herz passt nicht. Besser wäre ein Knopf, um Traurigkeit, Angst und Liebeskummer abzustellen. Aber das Herz ist nicht zu besänftigen und es sehnt sich. Wieso ist die Liebe wichtig (auch wenn sie keinen biologischen Zweck mehr erfüllt)? Warum machen wir Kinder (obwohl sie sich nicht rechnen)? Warum sind wir bereit, für einen Menschen alles zu geben (es gibt doch so viele und vielleicht ist uns der nächste nützlicher)?

Das Herz ist der letzte, unerhörte Rebell gegen die gesellschaftlichen Zustände. Es schlägt und schlägt und schlägt, ist Herz, ist Herz, ist Herz. Und warum schweigen wir? In der chinesischen Medizin gehört die Zunge zum Organkreis des Herzens. Im Reden manifestiert sich das Herz. Das Herz ist Feuer, ist bitter und rot. Wer seinen Kummer auf der Zunge trägt und redet, ihn mit der Welt teilt, wird vom Herz getrieben.

Ich lese gerade ein ziemlich altes Buch. Die Seiten sind hellbraun wie ein frisch gebackener Keks. Wenn ich es aufschlage, verströmt es einen süßen Duft nach Holz. Es ist der erste Band der Fundus Reihe aus dem Verlag der Kunst Dresden. Es erschien 1959. „Von der Notwendigkeit der Kunst“ von Ernst Fischer.

Über ihn heißt es: „Ernst Fischer zählt zu den maßgebenden Politikern und Theoretikern des Marxismus der Gegenwart. Als „den glänzenden Publizisten, den hervorragenden Kunstkritiker, den hochgebildeten und unermüdlichen Marxisten“ hat man ihn an seinem 60. Geburtstage gefeiert. Thomas Mann schrieb über die Essays Ernst Fischers: Das „im schönsten Sinne optimistische Einstehen für die ewige Sendung der Kunst…, das alles hat mich außerordentlich gefesselt und geistig belebt; ich freue mich des Umgangs mit einem so feinen und starken, von menschheitlichem Gefühl bewegten und erwärmten Verstand“.

Ernst Fischer erzählt, wie sich die Rolle des Magiers in den Stammesgesellschaften später in die Rollen des Künstlers und Priesters aufspalten. Er spricht über die Entmenschlichung der kapitalistischen Gesellschaft und deren unterschiedliche Spiegelungen in der Kunst. Und er erklärt die Rolle der Kunst in der Klassengesellschaft.

„Erstens, dass nicht wenige Künstler und Schriftsteller von Niveau die Modelle liefern, die dann von der Kunstkonfektion in grober Form und billiger Herstellung nachgeahmt werden, und dass auf diese Art die Haute-Couture des Antihumanismus die Massenkonfektion beeinflusst; und zweitens, dass eine Kunst, die hochmütig das Bedürfnis der Massen ignoriert und ihren Ruhm darin sieht, nur von wenigen verstanden zu werden, dem Dreck der Vergnügungsindustrie freie Bahn gibt.“

Nach dem Fall der Mauer war mir aufgefallen, dass die Leute im Westen sagen: „Ich gehe heute in die Oper“, wie man sagt: „Ich habe eine Villa am Wannsee“ oder „Ich fliege morgen auf die Malediven“. Mich stören die elitären, gutbürgerlichen Zirkel einerseits und die verranzten Subkulturen andererseits. Dazwischen gibt es fast nichts, außer einigen Gruppen aus Ostlern, die mittlerweile an Jahren fortgeschritten sind. Ich hatte nicht gewusst, WIE klassenlos die Kunst – und Kulturszene war, in denen ich mich in der DDR mit Anfang Zwanzig wie ein Fisch im Wasser bewegt hatte.

Ich komme tatsächlich aus einer (fast) klassenlosen Gesellschaft. Das macht mich ein bisschen stolz. Aber ganz egal, woher wir kommen, wir müssen reden. Wir dürfen diese Spaltungen nicht zulassen. Alles Gelaber von Ganzheitlichkeit ist doch nur dünne Soße (mit der auch nur Profit gemacht wird), unter der ein in Stücke zerhackter Körper liegt. Kein Wunder, dass mein Immunsystem das nicht mehr mitmacht. Weil ich das körperlich spüre…Mein gegen sich selbst rebellierendes Immunsystem ist die Krankheit der Gesellschaft, die Zerstückelung des Menschen, der Stich mitten ins Herz.