Berliner Notiz-Blog 17. Oktober 2007

Die meisten Besucher des Hauptzollamtes in Berlin-Schöneberg sind überrascht, dass es diese Behörde noch gibt. Sie leben in einer Welt, in der Newspaper, Wertpapiere und  Bauanleitungen für Hochgeschwindigkeitszüge per Mausklick um den Globus reisen.

Mit ungläubigen Gesichtern betreten sie die triste Halle, die an ein großes Postamt aus den Sechzigerjahren erinnert, nur ohne Gelb. Einigen friert das Lächeln zu einer verlegenen Maske. Die Pakete, die hier verzollt werden müssen, kommen von außerhalb Europas. Nicht, dass die Leute vergessen hätten, dass es das Ausland noch gibt. Im Gegenteil: Sie kaufen ja täglich dort ein. Sie organisieren online Partys in Tokio, haben Cybersex mit dem Liebhaber in New York, schalten Konferenzen mit Geschäftspartnern in Nairobi. Doch in dieser tristen Schalterhalle fällt der Schlagbaum vor den Weltbürgern.

Es gibt auch andere, Stammkunden, das sind die Sammler und Antiquitätenhändler, die regelmäßig weltweit einkaufen, denen nichts zu teuer ist oder die trotz der Zollgebühren ein gutes Geschäft mit ihren Waren machen, wie der Wilmersdorfer Rentner mit dem weißen Basecap, der Porzellanhunde sammelt. Geduldig wartet er auf der Bank, verwickelt die Leute, die sich zu ihm setzen, ins Gespräch, um ihnen Bilder seiner Sammlung zu zeigen, Vitrinen über Vitrinen mit Porzellanhunden aller Rassen.

Eine junge Frau verliert vorn am Tresen die Fassung, weil das Kleid, das sie bei einer belgischen Firma bestellte, nun aus Hongkong geliefert wird. Jetzt muss sie eine Zollgebühr entrichten, die den Preis des Kleides verdoppelt. Am liebsten würde sie es gar nicht annehmen, aber sie hat sich auf das Kleid gefreut. Sie möchte es jetzt endlich tragen.  Natürlich kann sie reklamieren oder die belgische Firma anzeigen, aber an diesem verregneten Sommermorgen steht sie einem Zollbeamten im blauen Kittel gegenüber, der zu einem schadenfrohen Grinsen angesetzt hat, kein Wort sagt, sie nicht beruhigen kann, keine Alternativen für Fälle wie diesen kennt, mit denen er doch täglich konfrontiert wird. Aber es ist eben nicht sein Job, Alternativen aufzuzeigen, womöglich eine Rechtsberatung durchzuführen oder aufgebrachte Mode-Frauen zu beruhigen, denen die Berliner Läden offenbar nicht ausreichen, so dass sie in der ganzen Welt shoppen gehen müssen. Nein, das ist nicht sein Problem. Seine Aufgabe besteht darin, ein Formular auszufüllen und das Geld zu kassieren. Punkt.

Der Mann in der orangefarbenen Regenjacke kauft Schelllackplatten in Uruguay. Er lehnt mit beiden Armen auf dem Tresen der Paketausgabe und ist empört, weil er erklären muss, warum er Schelllackplatten in Uruguay kauft. „Was geht Sie das an?“ raunzt er. Der Beamte erklärt ihm, dass sich die Höhe der Zollgebühr danach richtet, ob er ein Geschäft mit den Platten mache oder sie für private Zwecke erworben hat. „Private Zwecke“, sagt der Mann in der orangefarbenen Lederjacke und wendet sich wütend von dem Zöllner ab, den Wartenden zu, die hinter ihm von einem Bein aufs andere treten. Sie stehen zwar in einigen Abstand hinter einer aufgemalten Diskretionslinie, aber die aufgebrachten Dialoge am Tresen kann man auch dahinter mitverfolgen.

Nebenan erklärt ein schüchterner Russe dem Graukittel freundlich, warum seine Frau mit deutschen Pendeln nicht arbeiten kann und ihre Lehrmeisterin in Moskau deshalb gebeten hat, ihr russische Pendel zu schicken.

Die Beamten gleichen sich, nicht nur in der Farbe der Kittel, sondern auch in der Art, wie ihr Kopf etwas steif über dem Kragen sitzt. Ihr Gesichtsausdruck wechselt zwischen der Selbstzufriedenheit, als Arm des Gesetzes zu wirken und dem unterwürfig-entschuldigenden Lächeln dafür, dass ihre Arbeit nicht mehr so recht in die Welt der Globalplayer passt.

„Was soll ich jetzt damit machen?“ Der Zöllner schüttelt das Paket mit den Vitaminen in seinen schmächtigen, grauen Armen. Der junge Amerikaner ist dem Zöllner sympathisch. Ganz offensichtlich braucht er die Vitamine, so schmal und fahrig und blass, wie er vor dem Tresen tänzelt, die Augen hinter der Brille vor Schreck weit aufgerissen. Die Einfuhr von Medikamenten, auch von harmlosen Vitaminpillen, ist verboten. „Geben Sie es mir doch einfach“, antwortet der junge Amerikaner. Aber das bringt der Beamte nicht fertig. Er darf nicht. Er ist machtlos gegen die Zollbestimmungen. Der junge Mann stürmt wütend aus dem Amt. Ohne Vitamine. Der Zöllner sackt ein Stück in sich zusammen. Er trägt das Paket nach hinten. Heute Abend werden die Vitamine entsorgt, zusammen mit den Viagra-Paketen.

Vom Störpotenzial alter Fotos

Es geht um die Natur der Fotos.

Sie sollten unberechenbar, mit einem gewissen Störpotential versehen bleiben. Man sollte ihnen erlauben zu verschwinden bis sie eines Tages aus dem Nichts wieder auftauchen. Mit Fusseln dran. Sie müssen erschrecken. Berühren. Der weiße Fleck auf der Seite eines Albums. Die Beunruhigung. Wir müssen der Vergangenheit einräumen, unvermutet über uns hereinzubrechen. Wenn wir gerade von einer Party kommen, zum Beispiel. Sie muss beim Blättern aus den Seiten eines Buches rutschen.

Digitale Fotoalben verbannen das letzte Risiko aus unserem Alltag.

Die Fotos meiner Großeltern befanden sich in der untersten Schublade ihres Sekretärs. Oft saß ich unter der Schreibtischplatte, den Rücken am Ofen und blätterte darin. Schwarz-weiß-Fotos mit hübsch gezackten Rändern. Seidenpapier mit dem Muster von Spinnennetzen. Die Hochzeitsreise nach Wien: Meine Großmutter in einem Seidenhemdchen am Schreibtisch im Gegenlicht des Hotelzimmers. Ihre Körper beim Paddeln und Baden. Ich fühlte mich wie ein Voyeur. Als stöberte ich in ihrer Wäsche.

Ein Foto betrachtete ich immer und immer wieder. Es zeigte meine Großmutter als junges Mädchen an der Ostsee. Sie liegt mit ihren Freunden im Sand. Sie bilden einen Kreis. Die Füße sind der Mittelpunkt. Sie strecken die Arme aus und halten sich an den Händen. Ein Rad mit Speichen. Sie lachen.

Ich überlegte, ob es Glück ist, dass meine Freunde und ich niemals derart uncool vor einer Kamera posieren würden oder Pech, eine unbefangenere Zeit für immer versäumt zu haben.

In einer Holzkiste im Keller entdeckte ich andere Fotos: Mein Großvater im Krieg in einer Nazi-Uniform. Die Postkarten des Gefreiten an seine Frau.

Alle Fotos unserer Familie haben miteinander zu tun. Jedes Leben wurde von denen davor geprägt. Man kann es sehen.

Ile Opaque

Edouard Glissant, der Botschafter der All-Welt (Tout-Monde), fordert für alle Menschen das Recht auf Opazität, das heißt: Das Recht darauf, unverstanden zu bleiben.

Auf der Ile Opaque darf jeder Mensch seine Sprache pflegen, auch wenn nicht alle ihn verstehen, weil ja die Herkunft eines jeden Inselbewohners verschieden ist.

Kein Kiesel am Strand der Ile Opaque gleicht dem anderen. Sie sind undurchsichtig, opak. Das Meer lispelt über die Steine. Es flüstert und singt in allen Sprachen.

Die Übersetzer balancieren auf den Steinen zu ihren Booten. Sie haben gelernt, zu jeder Insel dieser Welt über zu setzen.

Sie tragen die Kiesel der Ile Opaque in die großen Städte. Wo immer jemand verzweifelt, wütend oder sarkastisch den Satz „Ich verstehe dich nicht“ sagt und sich von seinem Geliebten abwendet, legen sie ihm einen Opal unter die Zunge.

Plötzlich haben die Menschen keine Angst mehr vor der Dunkelheit des anderen. Sie tasten nach ihrem Geliebten. Sie spüren sein Herz. Dieser Rhythmus ist ihnen vertraut. So beginnt jedes Lied.

Botschafter der All-Welt: Interview mit Edouard Glissant

Freitag

FREITAG vom 22. September 2006

Das Miteinander von Ureinwohnern, europäischen Einwanderern und den Nachkommen der afrikanischen Sklaven, die in seiner Heimat, den Antillen, neue Kulturen und Sprachen entstehen ließen, nimmt der Autor und Kulturtheoretiker Edouard Glissant zum Vorbild, um eine weltweite „Kreolisierung“ zu postulieren. Kreolisierung“ findet überall dort statt, wo verschiedene Kulturen unvermittelt aufeinandertreffen und Verbindungen eingehen.

Glissant fordert die Öffnung für neue Beziehungsformen und Identitäten. Er kritisiert das lineare, analytisch – zentristische Denken des Westens als unzeitgemäß. Nicht mehr die Abgrenzung vom anderen, die tief verwurzelte Herkunft, aus der sich territoriale Besitzansprüche und die Legitimität des Seins ableiten, sollte die Quelle der Identität des Bürgers der neuen „All-Welt“ (tout-monde) sein, sondern das weit verzweigte, komplexe Rhizom, das Wurzelgeflecht, die Verschmelzung mit den Anderen, selbst dann, wenn diese unverstanden bleiben.

Edouard Glissant lebt auf Martinique und in New York, wo er an der City University of New York lehrt.
Auf Deutsch erschien zuletzt die Aufsatzsammlung „Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit“ 2005. Verlag Wunderhorn.

Edouard Glissant war 2006 Gast des Literaturfestivals Berlin. Er hielt die Eröffnungsansprache.

Interview mit Edouard Glissant am 8. September 2006

Herr Glissant, Sie sprechen von Vorposten des Bewusstseins und der Hoffnung, die den konfliktreichen Prozess der Kreolisierung begleiten. Welche Vorposten sind das?

E.G.: In vielen Gebieten Brasiliens und Mexikos, auch in Afrika beobachte ich den Prozess der Kreolisierung. Zum Beispiel vertiefen sich die Beziehungen zwischen Mali, Senegal und der Elfeinküste mehr und mehr.
New Orleans in den USA ist ebenfalls ein Ort der Mischung und Begegnungen.

Was ist mit New York, der Stadt, in der sie zeitweise leben?

E.G.: In New York spricht man von einer multikulturellen Gesellschaft, aber das ist nicht, was ich mit Kreolisierung meine. Die ethnischen Gruppen existieren nebeneinander. Sie vermischen sich nicht. Es gibt eine Straße, die Chinatown von Little Italy trennt, aber niemand überquert diese Straße.
Noch findet in New York keine Kreolisierung statt. Aber ich bin optimistisch.

Paradoxerweise zeigen uns die aktuellen Ereignisse auf der Welt, dass gerade jene Orte, in denen sich Anfänge einer Mischung, einer Kreolisierung, abzeichnen, Angriffsziel der Fanatiker sind. Sarajevo zum Beispiel oder Beirut.

Warum, glauben Sie, ist das so?

E.G.: Es geschieht dort etwas, das die Rassisten nicht steuern können. Normalerweise sind sie es, die Mischung kreieren. Sie sind es, die den Austausch kreieren. Sie legen fest: Ihr lebt dort und wir leben hier. Aber Kreolisierung entzieht sich ihrer Kontrolle.
Also zielen sie auf diese Orte, zerschlagen sie oder vernachlässigen sie wie New Orleans. Auch das ist typisch.
Das man diese Orte auf die ein oder andere Weise attackiert, zeigt, dass dort etwas sehr lebendiges geschieht.

Dann entzieht sich Kreolisierung also jeder Kontrolle. Das heißt, sie taugt auch nicht als politisches Programm?

E.G.: Kreolisierung ist etwas, das man geschehen lassen muss. Dieser Prozess hat keine Moral. Es werden nicht alle nett und freundlich miteinander umgehen, es gibt positive und negative Aspekte, es wird Rückstöße geben und Fortschritte.

Und keine „Leitkultur“ übernimmt die Führung in diesem Prozess?

E.G.: Das sind alte Ideen, dass eine Kultur der anderen überlegen ist, das sind die Ideen vieler Herrscher in Europa, im Westen.
Es mag Kulturen geben, die mehr technische Vorteile haben, mehr technische Kenntnisse, aber keine Kultur ist der anderen überlegen.

In ihrem Buch „Kultur und Identität“ schreiben sie, das die westliche Kultur auf das Eine und die Einheit gerichtet ist. Und sie sagen, das hätte auch mit den geschlossenen Landschaften des mediterranen Raums zu tun, im Gegensatz zu den geöffneten Landschaften der amerikanischen Küsten.
Was können wir Europäer denn tun, da wir nun einmal mit diesem Meer leben müssen, von dem jener Geist der Sammlung und Konzentration auf das Eine ausgeht?

E.G.: So vereinfacht habe ich das nicht gesagt. Was ich sagen wollte, ist, dass die Kultur des Westens aus der Idee des Einen und der Einheit geboren ist, nicht aus der Idee der Vielheit. Es existierte aber eine Kultur der Vielheit rings um das Mittelmeer, bevor die monotheistische Religion dort ihren Anfang nahm.
Infolge der monotheistischen Religion sind die ursprünglichen Ideen der westlichen Kultur die des Einen, des Einzigen, sie verweigern sich der Vielheit und der Menge. Sie verweigern sich der Mischung und Teilung.
Übrigens ist die westliche Kultur mit sich selbst zerstritten. Der Konflikt mit dem Islamismus ist aus meiner Sicht kein Konflikt zwischen Orient und Okzident, sondern ein typisch westliches Problem. Der Islam ist eine der drei monotheistischen Religionen, eine westliche Religion. Ihr habt da ein Problem im eigenen Haus.

Ob es nun das eigene Haus ist oder das der Nachbarn. Die Frage ist doch: Wie sollten wir mit diesem Konflikt umgehen?

E.G.: Diese Frage dürfen Sie nicht nur mir stellen. Man muss alle fragen, auch die Terroristen: Was glaubst du, ändern zu können, wenn du mit einem Flugzeug in ein Hochhaus rast?
Ich weine, wenn ich den Krieg im Libanon sehe, wenn ich sehe, wie da ein junger Mann oder eine junge Frau sterben. Ich weine um sie.
Wir ändern doch mit diesen Kriegen nicht ihr Bild und ihre Vorstellung von der Welt. Wir dürfen unsere Beziehungen nicht länger mit den Kriegen, wie sie im 20. Jahrhundert geführt wurden, klären.

Heute überqueren Menschen unter großen Gefahren das Mittelmeer, um ein besseres Leben führen zu können, aber Europa schickt sie zurück. Schotten sich die Europäer gegen die Kreolisierung ab?

E.G.: Das kann man so nicht sagen.
Der Grund, warum die Menschen Afrika verlassen, ist doch, dass sie nicht mehr von ihren eigenen Ressourcen leben können und das ist so, weil die Ressourcen Afrikas den internationalen Konzernen phantastische Gewinne bringen.
Die Emigration würde sofort aufhören, wenn die Ressourcen Afrikas den Menschen dort zur Verfügung stünden.
Die Klärung dieses Problem muss heute an allererster Stelle stehen.

Zu Ihren Visionen neuer Beziehungs-Formen gehört das Recht des Menschen auf Opazität. Was genau verstehen Sie darunter?

E.G.: Die Transparenz war immer ein kultureller Anspruch des Westens.
Sie waren bestrebt, andere, ihnen fremde Kulturen auf die Transparenz ihrer eigenen Kultur zu reduzieren.
Man sollte aber akzeptieren, mit anderen zu leben, auch wenn man sie nicht immer versteht.
Den anderen auf die eigene Transparenz, auf sein eigenes Modell zu reduzieren, ist eine Form der Barbarei.
Zu akzeptieren, dass man den anderen nicht vollständig versteht, ist eine Form der Zivilisation.

Schafft das nicht große Unsicherheiten im Umgang miteinander?

E.G.: Aber nein, es ist ein Glück, es ist Poesie, den anderen nicht vollständig zu verstehen. Es ist doch langweilig, wenn ich immer sagen kann: Ich verstehe dich und du verstehst mich. Das grenzt doch aus. Es grenzt nämlich alles aus, was ich nicht verstehe. Deshalb sollte das Recht auf Opazität ein grundlegendes Menschenrecht sein.

Ist also die Forderung nach Integration eine Verletzung dieses Rechts?

E.G.: Das hängt von den Konditionen ab, die man verlangt. Ich denke, man kann Teil einer Gemeinschaft sein, ohne die Werte dieser Gemeinschaft zu teilen. Ich glaube, das dies möglich ist.
Ob es unter den gegenwärtigen Bedingungen machbar ist, weiß ich nicht, aber ich glaube, dass es möglich ist, miteinander zu leben und unterschiedliche Werte zu haben. Aber das ist eine Hochform der Zivilisation.
Ich weiß nicht, ob die Völker schon in der Lage sind, das zu akzeptieren.

Demnächst gründen Sie in Paris ein Institut der All-Welt (Institut de Tout-Monde). Mit welchem Ziel?

E.G.: Das Institut wird die Notwendigkeit und die Richtigkeit der Idee der Kreolisierung, der Mischung, unterstreichen.
Ein Studienzentrum wird dazu gehören, eine Zeitschrift, ein Theater usw.

Herr Botschafter der All-Welt, ich bedanke mich für dieses Gespräch.

Der Wächter der Stoffe

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Das Magazin Mai 2007

Er verachtet Turnschuhträger und Menschen, die Klamotten sagen, wenn sie Kleidung meinen. In Berlin herrscht Oleg Ilyapour über ein kleines Reich aus seltenen, wunderbaren Stoffen voller Geschichten

Inmitten der bunten Szeneläden in der Berliner Akazienstraße, zwischen Estrellas Chocolaterie und dem Coffeeshop Double-Eye, klemmt ein schmales Geschäft. Die Eingangstür bewacht ein kräftiger Mann mit langem, grauen Bart.
Im Winter trägt der Mann einen Schafwollmantel, im Sommer bunte Gewänder.

Oleg Ilyapour steht jeden Tag auf der Treppe vor seinem Geschäft. Er ist eine verlässliche Größe im Kiez. Die Leute kennen ihn seit Jahren, bleiben auf eine Zigarette mit ihm stehen, plaudern über Politik und Krankheiten, Familienprobleme und die Preise.

Ilyapours Geschäft heißt Fichu, was soviel heißt wie: kaputt, futsch, erledigt, im Eimer.
Im Schaufenster liegen Stoffballen. Das handgeschriebene Schild mit den Öffnungszeiten ist im Laufe der Jahre ergraut.
Wenn der Frühling kommt, hängt Ilyapour Kleider an die Tür, im Winter Jacken aus Tweed.

Passanten, die sich durch die schmale Tür drücken und einfach mal schauen wollen, werden nicht, wie in den anderen Mode-Läden ringsum, von gefälliger Musik und klingelnden Bügeln, Sonderangeboten und Bonbongläsern auf polierten Ladentafeln umworben, sondern von Ilyapour in rauhem Ton darauf hingewiesen, was sie hier erwartet. Nichts gewöhnliches, sondern originale Naturstoffe aus den Zwanziger – bis Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Qualitätsware.

Die Stoffballen liegen bis unter die Decke gestapelt, so dicht wie die Menge an Jahren und Wochen eines ganzen Jahrhunderts. Schwere Wollstoffe erdrücken geblümte Sommerreste aus Seide. Die Klassiker: Pepita, Fischgrat, Salz & Pfeffer in verschiedenen Qualitäten über – und nebeneinander gepresst, ein Zipfelchen Chintze darüber und zwischendrin karierter Hemdenstoff aus ägyptischer Baumwolle. Fünfziger Jahre. „Garantiert frei von Pestiziden“, sagt Ilyapour. Steifes Leinen, streng wie Hausfrauenstolz, zwischen weichen Jerseys und noppigen Tweeds.
Die freien Wandplätze sind von Mode – Reliquien besetzt: Hackenschuhe, ein Schirm aus Papier, Schmuck aus riesigen bunten Klunkern, ein gestreiftes Kleid aus Azetatseide.

Nur ein schmaler Gang ist zwischen den Stoffballen geblieben. Ilyapour, breit wie ein Bär, passt gerade noch so hindurch. Er zwängt sich voran, gefolgt von seinen Kunden.

Das schwule Pärchen sucht Stoff für Sitzkissen. Sie sind nicht sicher. Hahnentritt vielleicht. Ach nee. Ein Salz – und Pfeffer – Anzugstoff aus den Zwanzigern, wie ihn die Proletarier damals gern auf den Parteiversammlungen trugen?
Wie wäre es mit diesem da? Uni. Orange. Reine Schurwolle aus den Sechzigern.
„Kratzt aber“, warnt Ilaypour.
„Ich sitze da ja nicht nackig drauf. Normalerweise trage ich Hosen“, entgegnet der Käufer.
„Na dann bin ich ja beruhigt.“ Ilyapour wickelt den Stoff in braunes Packpapier.
„Sieht aus wie ein Wurstpaket“, freut sich sein Kunde. Eine leichtfertige Bemerkung, die Ilyapour heraus fordert. „Woanders bekommen Sie für Ihr Geld eine schöne Verpackung mit nix drin“, dröhnt er. „Bei mir ist es umgekehrt. Übrigens ist das auch gutes Packpapier.“

Er knurrt einen Abschiedsgruß. Die beiden ziehen glücklich weiter. Sie mögen die bärbeißige Kompetenz des Stoffhändlers.

Oleg Ilyapour macht keinen Hehl daraus, dass er auf die meisten seiner Kunden auch verzichten kann. Er will ja nicht reich werden. Er braucht eh nicht viel. Morgens und mittags einen Kaffee im Double-Eye nebenan, die billigsten Zigaretten, wenig Strom. Einmal in der Woche geht er tanzen. „Hätte ich ein Auto und würde zweimal im Jahr verreisen, könnte ich den Laden nicht halten.“

Die Stoffe sind das Erbe seiner Eltern. Sie kamen in den Zwanzigerjahren aus dem Iran nach Berlin. Sie lebten gut vom Handel mit den Stoffen, bis auch die letzte kleine Nähmanufaktur in Berlin aufgab. Das war irgendwann in den Siebzigerjahren.
„Das schmeißen wir nicht weg. Dafür haben Leute hart gearbeitet“, sagte seine Mutter damals, als sie die Ladentür für immer schloss.
Wenige Jahre später sperrte der Sohn sie wieder auf.

Die Frau, die einen neuen Gürtel für ihren blauen Trenchcoat sucht, weil der alte zerbröselte, ist nach Ilyapours Geschmack. Für Kunden wie sie, die Ausbesserer, Erhalter, Bewahrer, steht er morgens auf, trottet von seiner Wohnung zum Laden, dekoriert die Schaufenster alle paar Wochen neu.
Lange sucht er in den Stapeln nach dem passenden Popelin im Blau des Mantels. Er schneidet den Stoff auf das richtige Maß, erklärt der Frau, wie er verarbeitet werden sollte, wickelt ihn ein.

Spürt der Wächter der Stoffe bei seinen Besuchern Interesse, verbreitern sich seine Kommentare zu kleinen Referaten oder Erfahrungsberichten. Ein gemütliches Berlinisch wie das seine ist in der vornehmen Akazienstraße nur noch selten zu hören.

Wundersame Dinge weiß er zu erzählen: Von Kaschmirtüchern, wie sie die Aristokraten zur Zeit Napoleons liebten, so hauchzart und leicht, dass sie ausgebreitet in der Luft stehen blieben.

Die Geschichte vom Querdenker Joseph-Marie Jaquard, der lustlos die Weberei seiner Eltern in Lyon übernahm, zwischen den Webstühlen saß und träumte, bis er gänzlich verarmt war. Dann erfand er einen maschinell betriebenen Webstuhl, den man als den ersten Computer bezeichnen könnte. Weil er nach demselben Prinzip funktioniert. Jaquard speiste ihn mit Lochkarten. Sein Code bestand zwar nicht aus Nullen und Einsen, doch auch aus lediglich zwei Informationseinheiten: „Loch“ und „kein Loch“. Loch hieß: Faden heben. Kein Loch: Faden senken.
So „programmiert“ entstehen an den Jaquard-Webstühlen die kompliziertesten Stoffmuster.

Das Gewand eines afrikanischen Stammesfürsten inspiriert Ilyapour zu einer Plauderei über Muster. Jene sinnlichen bunten Stoffe, die wir heute als typisch afrikanisch empfinden, stammen ursprünglich aus Indonesien, von wo die afrikanischen Sklaven sie mit nach Hause brachten.
Das Karo hingegen ist keine europäische Erfindung, sondern wurde zuerst in Indien und Afrika gewebt.

Immer weniger Leute schneidern selbst. Kaum einer setzt noch eine Nähmaschine in Bewegung, um etwas zu reparieren und auszubessern.
Doch in den letzten Jahren interessieren sich mehr und mehr die Film – , Theater – und Museumsleute für Ilyapours Stoffe, denn das exotische Lager erzählt Kulturgeschichte.
Die Botschaft der Stoffe handelt nicht nur von Moden, sondern von Lebensweisen, Träumen, Zeitgeist und vergangenen Utopien. Die Kulturwissenschaftler lassen sich von Ilyapour beraten.

Allein der Stoff eines einzigen Jahrhunderts ist unendlich. Ilyapour weiß, dass er nichts weiß. Er lernt gern dazu.

Kurz nach dem Mauerfall schlenderten zwei Damen aus der DDR durch die Schöneberger Akazienstraße. Sie kamen vom Dessauer Bauhaus und hatten von Fichu gehört.
Als sie hinter dem großen, bärtigen Mann zwischen die Stoffballen drängten, fanden sie, was sie suchten: Originale Bauhaus-Stoffe von Anfang der Dreißigerjahre.
In dieser Zeit, erfuhr Ilyapour, wurden viele Bauhaus-Entwürfe industriell gefertigt. Das neue Motto des Bauhauses hieß damals: Volksbedarf statt Luxusbedarf.
„Was möchten Sie für diesen Stoff haben?“, fragten die Frauen. Ilyapour murmelte etwas von „hundert Mark der Meter“. Die Damen waren entsetzt. Das sei doch viel zu billig. Die Stoffe seien mindestens das Drei – bis Vierfache wert. Und das wollten sie auch dafür zahlen. Selbstverständlich.
Ilyapour muss sie verstört angeschaut haben. Diese kleine Begebenheit hat seine Meinung über die Ostdeutschen nachhaltig geprägt. „Ich habe damals viel von den Leuten aus dem Osten gelernt. Da waren Fachleute dabei, die drüben in der Bekleidungsindustrie gearbeitet hatten.“
Seither verwahrt er die Bauhaus-Stoffe an einem diebessicheren Ort.

Ilyapour ist ein Beobachter. Er steht auf der Treppe, saugt an den Zigaretten, die seinen grauen Bart um die Lippen gelb färben und lauscht den Geschichten der Leute.

Manchmal drückt er den Passanten, die bei ihm stehenbleiben, zu Beginn der Plauderei einen Zettel in die Hand. „Da steht was drauf, was du gleich sagen wirst. Ließ das erst, wenn ick es sage.“
Mit dieser ruhigen, tiefen Stimme, die manchmal von weit hinten zu grollen beginnt.
Nach zirka fünf Minuten fordert er seinen Gesprächspartner auf zu lesen. Da steht: Ich muss jetzt weiter. Habe zu tun.
Ilyapour lacht. „Früher wollten die Leute gar nicht mehr weg. Heute haben es alle eilig. Gemütlich darf es nicht werden.“

Manchmal wird es doch gemütlich, zum Beispiel, wenn eine ehemalige Mitbewohnerin aus alten WG-Zeiten vorbei schaut. Sie steigt auf die Fußbank an der Wand mit den Chanel-Knöpfen, um an seine Wange zu reichen und ihm einen Kuss zu geben. Wie früher.
Als habe sich seit damals nichts geändert. Unter den Knittern sitzt dieselbe Qualität, die Träume und das Begehren.

Der Wächter der Stoffe sieht sich auch als Hüter einer Kultur, von der die schlecht gekleidete Generation Turnschuh da draußen nichts mehr weiß. Er steht wie ein Bollwerk gegen den Werteverfall auf der Treppe.
„Ick rede hier nich von Klamotten, wa.“ Eine ernst gemeinte Warnung. Er nimmt das Wort mich höchster Verachtung zwischen die Zähne. Für ihn ist es Synonym der Vernachlässigung und des mangelnden Stils.

Dass man sich heute nicht mehr kleidet, sondern Klamotten trägt, darin sieht Ilyapour den gesellschaftlichen Wandel ausgedrückt, die Entwertung des Menschen, dessen Begabungen und Individualität nicht mehr gefragt seien.

Er hängt die finnischen Op-Art-Kleider an die Tür, exotische Stücke aus hauchdünner, reiner Wolle, per Hand bedruckt in den Sechzigerjahren. Ilyapour interpretiert die großzügigen Motive als Monitore und Netzwerkkabel. Es sind Kleider, mit deren intellektuellen Unschick sich viele Frauen gern umgeben würden, der jedoch die wenigsten kleidet.

Was hat er damals in den Sechzigerjahren gemacht? Wovon träumte er? Wofür hat er gekämpft? Er winkt ab, schüttelt den Kopf. Darüber möchte er nicht sprechen. Wozu auch? Das ist vorbei.

Jetzt ist Zeit für den zweiten Kaffee im Double-Eye nebenan. Er grüßt die Studenten, die immer gut gelaunt, den besten Espresso der Stadt aus der alten FAEMA E 61 holen, den Milchschaum in der Form eines Blattes oben drauf setzen und mit Kakao bestreuen. An den Bistrotischen vor der Tür bietet sich jede Menge neuer Stoff. Das Leben hört nicht auf zu weben. Die alte Maschine rattert. Wer denkt sich nur diese bizarren Muster aus?